Graf Dracula erpresst Bram Stoker oder: Können wir überhaupt den Sinn vom Unsinn unterscheiden?

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Im S. Fischer Verlag erschien im Oktober 2019 für satte 78.-- € eine kommentierte Ausgabe von Bram Stokers Klassiker „Dracula“. Der Roman-Text folgt der Neuübersetzung von Andreas Nohl von 2012 im Göttinger Steidl-Verlag. Der umfangreiche Kommentar des amerikanischen Publizisten Leslie S. Klinger wurde für diese Ausgabe von Andreas Fliedner und Michael Siefener aus dem Englischen übersetzt.

 

In seinem Vorwort behauptet Klinger, „dass die in Dracula beschriebenen Ereignisse »tatsächlich stattgefunden haben« und dass das Werk die Erinnerungen realer Personen wiedergibt, […].“ Johnathan Harker, der angeblich mit Bram Stoker (1847-1912) befreundet war, habe seine Aufzeichnungen über die Jagd nach dem Vampir (Klinger nennt sie „Harker Papiere“) Anfang 1890 an Stoker weitergegeben. Weil Graf Dracula gar nicht von den Vampirjägern getötet worden sei, sondern in London weiterlebe, wolle Harker „die Allgemeinheit auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von der Anwesenheit des Vampirs in England ausging“. Stoker sei dem Wunsch seiner Freunde nachgekommen und habe diese Dokumente bei der Niederschrift seines Romans bearbeitet, um die Identitäten des Freundeskreises um Mina und Jonathan Harker zu verschleiern.

Mehr noch, Graf Dracula persönlich, der von der Absicht Stokers erfahren habe, einen Vampirroman zu schreiben, soll Stoker gezwungen haben „vermutlich indem er ihn und seine Familie bedrohte –, die Papiere zu verfälschen und alle Tatsachen, die den Leser auf die Spur des Vampirs hätten führen können, zu verschleiern.“

 

Nach dieser Lektüre könnte man sich zurücklehnen und überlegen, ob man sich auf eine 647 Seiten lange Parallel-Lektüre des Romans mit einer Parodie auf akademische Literatur-Kommentare einlassen sollte; aber nein, das Ganze ist durchaus ernst gemeint. Auf der Umschlag-Rückseite verspricht der Verlag:

„Herausgeber Leslie S. Klinger reist in seinen Anmerkungen durch zweihundert Jahre populärer Kultur. Dabei bringt er die politischen, ökonomischen, feministischen, psychologischen und historischen Fäden ans Licht, die »Dracula« durchziehen. Klingers Entdeckungen werden auch eingefleischte Fans begeistern und lassen den legendären Vampir in einem völlig neuen Licht erscheinen.“

Als Klingers Buch 2008 unter dem Titel „The New Annotated Dracula“ in New York und London vom renommierten Verlag Norton & Co. veröffentlicht wurde, wiesen die meisten Literaturkritiker zwar auf Klingers eigensinnige Behauptung hin, kritisierten sie aber kaum. Ein amerikanischer Rezensent schrieb im Februar 2009: „If you like this sort of thing, you’ll like this book a lot.” Ein anderer jubelte sogar: “In-depth, fascinating and comprehensive – what more can I say?” Die meisten begrüßten diese umfang- und materialreichste aller kommentierten Ausgaben von Stokers Meisterwerk (ca.1500 Anmerkungen und 400 Abbildungen) als Meilenstein in der „Dracula“-Forschung, die seit den 1980er Jahren immer umfangreicher geworden ist, und die herausgestellt hat, welchen maßgeblichen Einfluss der Romans auf das Bild des Vampirs in Legende Folklore und Populärkultur hatte und noch immer hat.

Klinger selbst erhebt den Anspruch, Textedition und Kommentierung mit wissenschaftlichen Arbeitsweisen der Philologie zu betreiben. Seine „besondere“ Methode beschreibt er als „behutsamen Fiktion“ und beruft sich auf ein bisher wenig beachtetes Vorwort, das Stoker angebliches einer bereits im Jahre 1900 in Reykjavik veröffentlichten Übersetzung ins Isländische vorangestellt haben soll. Darin heißt es:

„Meiner unumstößlichen Meinung nach kann es keinen Zweifel daran geben, dass die hier beschriebenen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, wie unglaublich und unbegreiflich sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen. Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass sie in gewisser Hinsicht für immer unbegreiflich bleiben werden, selbst wenn durch die stets fortschreitenden Forschungen auf den Gebieten der Psychologie und der Naturwissenschaften irgendwann einmal logische Erklärungen für etliche seltsame Geschehnisse gefunden werden sollten, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder die Wissenschaftler noch die Geheimpolizei zu begreifen vermögen. […] Alle Personen, die freiwillig oder unfreiwillig Anteil an dieser bemerkenswerten Geschichte haben, sind allgemein bekannt und respektiert. Jonathan Harker und seine Frau sowie Dr. John Seward darf ich schon seit vielen Jahren meine Freunde nennen, und ich habe nie daran gezweifelt, dass sie mir die Wahrheit erzählt haben; und der hochgeachtete Wissenschaftler, der hier unter einem Pseudonym erscheint, ist in der Welt der Gelehrsamkeit ebenfalls so berühmt, dass sein wahrer Name nicht genannt werden kann. Viele Menschen schätzen und respektieren sein Genie und seine Leistungen, auch wenn sie seinen Ansichten über das Leben bisweilen genauso wenig zuzustimmen vermögen wie ich selbst. Aber eines sollte in unserer Zeit allen klugen Menschen klar sein: »Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, / Als Eure Schulweisheit sich träumt.

London,
August 1898
B. S.“

Dieses „Preface“ stellt Klinger seiner Edition von „Dracula“ als zweites Vorwort nach dem kurzen Vorspruch, den Stoker seiner ersten Buchausgabe 1897 beigegeben hatte, zusätzlich voran und kommentiert: „Dieses Vorwort schrieb Bram Stoker für die isländische Ausgabe von Dracula.“ (S. 51).

 

Was soll man von diesem Text halten? Es war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus üblich, dass Autoren fiktionalen Texte mit einem Hinweis auf ihren Wirklichkeitsbezug versahen. Aber stammt dieses Vorwort überhaupt von Stoker?

Tatsächlich erschien 1900 in der Zeitschrift Fjallkonan eine Übertragung des Romans von dem Publizisten Valdimar Ásmundsson unter dem Titel „Makt Myrkranna” (Mächte der Finsternis) mit dem Hinweis: „eftir Bram Stoker, bytt hefir“ (nach Bram Stoker bearbeitet). Ein Jahr später kam der Text auch in einer Buchversion heraus (Reykjavik 1901).

Auf dieses Vorwort machte der inzwischen verstorbene britische Literaturagent und Publizist Richard Dalby in einer von ihm herausgegebenen Ausgabe „Omnibus“ der Stoker-Romane „Dracula“ und „The Lair of the White Worm“ (London 1986; deutsch unter dem Titel: „Das Schloss der Schlange“) aufmerksam und veröffentlichte eine Rück-Übersetzung des Vorworts als „Author‘s Preface“.

Seitdem spukt dieses angebliche Vorwort des Autors in mehreren Editionen des Romans und in vielen wissenschaftlichen Texten herum. Es wurde in einigen Beiträgen sogar als eigenständiger Textzeuge der Schreib- und Druckgeschichte des „Dracula“-Komplexes ernst genommen und erhielt einen festen Platz im Kanon der Textzeugen.

Die Stoker-Philologie vermutete, Valdimar Ásmundsson habe für seine Übertragung ins Isländische ein Typoskript verwendet, das ihm vom Autor zur Verfügung gestellt wurde, also musste des „Preface“ von Stoker selber stammen. Erst 2014 entdeckte der in der Nähe von München wohnende holländische Fotograf und Publizist Hans Corneel de Roos, dass die isländische Übersetzung in vielerlei Hinsicht von Stokers Romantext abweicht. Die Charaktere tragen unterschiedliche Namen, das Buch ist kürzer und legt mehr Wert auf Sex als die englischen Fassung. Selbst die Form des nur aus Briefen, Tagebucheinträgen, Stenogrammen und Zeitungsartikeln zusammengesetzten Original-Romans wurde verändert, indem der Übersetzer einen auktorialen Erzähler einführte.

Roos, der natürlich wie alle ernsthaften Forscher davon ausgeht, dass es sich bei Stoker „Dracula“-Roman um einen fiktionalen Text handelt, war zu diesem Zeitpunkt der Überzeugung, dass die Unterschiede zwischen dem englischen Original und der isländischen Version nicht auf von Ásmundsson vorgenommene Änderungen zurückzuführen seien, sondern dass er ein anderes, älteres Manuskript von „Dracula“ verwendete, das Stoker ihm zur Verfügung gestellt und aufgrund von Bedenken hinsichtlich der britischen Zensur verworfen habe.

Es bleibt aber die Frage, ob das Vorwort überhaupt von Stoker stammt und ob es eine Verbindung mit Ásmundsson gegeben hat. Vielleicht hat der Übersetzer auch das Vorwort ja auch erfunden? Um diese Frage positiv zu beantworten, sind umfangreiche Recherchen in zeitgenössischen Dokumenten vorgenommen worden. Zu überzeugenden Ergebnissen gelangte Roos zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.

2017 entdeckte der schwedische Publizist Rickard Berghorn zwei Versionen einer „Dracula“-Übersetzung ins Schwedische, die von 1899 bis 1900 unter dem Titel „Mörkrets Măkter. Roman af Bram Stoker” in den Stockholmer Zeitungen Svenka Dagen und Aftonbladets Halfvecko-upplaga erschienen sind.

Beide Dracula-Übertragungen wurden mittlerweile neu publiziert; von der isländischen Version „Makt Myrkranna“ ist 2017 sogar eine Rückübersetzung ins Englische erschienen: „Powers of Darkness: The Lost Version of Dracula“ (New York und London 2017).

Es sieht nach den Recherchen von Roos, die er im März und Mai 2018 auf der Plattform Vamped.org veröffentlichte, so aus, als habe der schwedische Übersetzer und Herausgeber, in dem er Anders Albert Andersson-Edenberg (Pseudonym A-e; 1834-1913) vermutet, eine gedruckte Fassung des Romans von Stoker ins Schwedische übersetzt und dabei bearbeitet. Nach dem ersten Eindruck von Roos muss der isländische Zeitungsverleger und Übersetzer Valdimar Ásmundsson die kürzere schwedische Version in Aftontbladets Halfvecko-upplaga als Ausgangstext verwendet haben, um die Erzählung noch weiter zu verkürzen, insbesondere nach Harkers Erlebnissen in Schloss Dracula. Es scheint sich bei dem schwedischen Text um eine nicht-lizensierte Übertragung zu handeln, also um eine Mischung aus Übersetzung, Plagiat und Sequel.

Roos hat Hinweise darauf gefunden, dass der schwedische Übersetzer unter dem Pseudonym „A-e“ den lizenzierten Abdruck des Romans benutzt hat, der unter dem Titel „Dracula: A Strong Story of the Vampire“ vom 16.7-10.12.1899 wöchentlich im amerikanischen Charlotte Daily Observer (Charlotte, North Carolina) veröffentlicht wurde. Er hält es nun nicht mehr für richtig, „Mörkrets makter“ als verlorenes Stoker-Meisterwerk, als fehlendes Glied zwischen seinen Notizen aus den frühen 1890er Jahren und dem Erstdruck von „Dracula“ (London 1897) zu bezeichnen, die Stoker in wegen der erotischen Freizügigkeiten im viktorianischen Großbritannien angeblich nicht veröffentlichen konnte und deshalb nach Schweden gebracht haben soll.

Zu stark sind die Abweichungen von Stokers Stil und es gibt zu viele neue Referenzen, Charakterebenen und Handlungswechsel, die Andersson-Edenberg oder einer seiner schwedischen Kollegen hinzugefügt haben. Das zeigt sich besonders im Vorwort, das fast wörtlich aus den Erinnerungen eines lutherischen Pastors Bernhard Wadstörm übernommen wurden und in dem Hinweise auf Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde“ und den Mesmerismus auftauchen, was ein Indiz dafür sein könnte, die schwedische Dracula-Version könne auch als Parodie einer quasi „dokumentarischen“ Gespenster-Literatur gemeint sein.

Die schwedische Adaption von „Dracula“ gibt manche Rätsel auf. Deuteten zunächst mehrere Hinweise darauf hin, dass Stoker persönlich dazu beigetragen, einen frühen Entwurf vorgelegt oder zumindest seine Erlaubnis zum Fortsetzungsabdruck erteilt hat, weisen andere, ebenso schlagkräftige Argumente auf eine Raubkopie hin, die ohne sein Wissen veröffentlicht wurde.

Wenn es aber gar keine Zusammenarbeit zwischen Stoker und Andersson-Edenberg gegeben hat, wird die These Klingers, das von ihm edierte Vorwort zu „Dracula“, stamme von Bram Stoker persönlich, hinfällig und seine Behauptung löst sich in Luft auf, dieser habe selber darauf insistiert, dass die in seinem Roman beschriebenen Ereignisse „sich unwiderlegbar ereignet“ hätten.

 

Natürlich kann man Klingers „behutsame“ Fiktion nicht widerlegen. Und sie treibt sogar ein paar amüsante Blüten. So druckt der Herausgeber einen anderen, von Stoker nicht verwendeten Schluss der Erzählung ab, in dem Mina Harker nach der Vernichtung und Auflösung des teuflischen Bösewichts den Untergang von Schloss Dracula schildert. Der verworfene Schluss stammt aus einem erhaltenen Original-Typoskript und lautet in deutscher Übersetzung:

„Während wir noch schauten, wurde die Erde von einem schrecklichen Beben erschüttert, so dass wir hin und her zu schaukeln schienen und auf die Knie fielen. Im selben Augenblick schien die ganze Burg und der Felsen, ja der ganze Berg, auf dem sie stand, sich mit einem Krachen, von dem der Himmel zu erzittern schien, in die Luft zu erheben und himmelwärts in tausend Stücke zersprengt zu werden, während ein mächtiger Pilz schwarzen und gelben Rauchs in gigantischen Stoßwellen mit unfassbarer Geschwindigkeit nach oben schoss. Dann schien die Natur für einen Moment bewegungslos zu verharren, während die Echos jenes krachenden Schlags mit dem hohlen Dröhnen des Donners folgten – jenem langen, widerhallenden Grollen, das klingt, als würde das Himmelsgewölbe erbeben. Dann prasselten die Trümmer in einem mächtigen Regen an der Stelle herunter, wo sie von dem Erdstoß in die Höhe geschleudert worden waren.“

Das ist Apokalypse pur! Natürlich gibt es an der Stelle, auf die der Erzähltext verweist – also in der Region um den Borgo-Pass bei Bistritz (heute Bistrița im Nordosten von Siebenbürgen, Kreis Bistrița-Năsăud in Rumänien) – überhaupt keine Burg- oder Schlossanlage. Möglicherweise strich Stoker dieses Motiv, weil er eine Fortsetzung seiner „Dracula“-Fiktion in Betracht zog, in der „untote“ Graf irgendwie wieder aus dem Jenseits zurückkehrt kehren würde, um neue Opfer zu verfolgen.

Klinger aber deutet dies anders: „In Stokers Notizen sucht man vergeblich nach einer Bestätigung für die Zerstörung der Burg. Wurde sie überhaupt zerstört? Wenn, wie es naheliegt, Dracula die Legende seines Todes verbreiten wollte, um künftiger Verfolgung zuvorzukommen, dann war ein Bericht von der Zerstörung der Burg sicherlich das beste Mittel, um neue Generationen von Vampirjägern davon abzuhalten, nach seinem Schlupfwinkel zu suchen. Es scheint, als hätte die Falschinformation von der Vernichtung der Burg ursprünglich in den veröffentlichten Text aufgenommen werden sollen. Im letzten Moment durchkreuzte jedoch jemand – möglicherweise einer der Harkers – diese Pläne und brachte Stoker dazu, die Wahrheit zu veröffentlichen – dass die Burg stehenblieb.“

Vielleicht aber hat ja auch Graf Dracula persönlich Druck auf Bram Stoker ausgeübt, denn Klinger behauptet an anderer Stelle, die veröffentlichte Version müsse „als fiktives Werk betrachtet werden, das Bram Stoker gestützt auf die Harker-Papiere unter der strengen Aufsicht des Herrschers der Vampire verfasste.“ (S. 46; Hervorhebung von G. E.)

 

Man sieht an diesem Fall, dass die Forderung der renommierten Literaturwissenschaftlerin Professor Elizabeth Russell Miller von der Memorial University of Newfoundland aus dem Jahre 2000 noch immer aktuell ist. Sie schrieb vor knapp 20 Jahren in ihrem Buch „Dracula: Sense & Nonsense“: „Wir haben wir seit 1970 eine Vielzahl von Büchern, Artikeln und Dokumentationen über Dracula und seinen Autor Bram Stoker gelesen. Dies hat jedoch einen Preis: die Verbreitung einer beunruhigenden Menge unzuverlässiger Informationen. Es ist an der Zeit, umzukehren und Bilanz zu ziehen. Wie echt ist das Material, das uns aufgezwungen wird? Wie viel von dem, was als Tatsache ausgegeben wird, ist Spekulation, Irrtum oder, noch schlimmer, vorsätzliche Erfindung? Können wir überhaupt den Sinn vom Unsinn unterscheiden?“ Ins Deutsche übertragen von G. E.

Ein Konstruktionsmerkmal literarischer Texte ist das „unzuverlässige Erzählen“, das Widersprüche, Mehrdeutigkeiten und Leerstellen erzeugt und dem Leser unterschiedliche Sichtweisen auf Graf Dracula und seine Welt ermöglicht. Im Falle Stokers kann bis zur vollständigen Auswertung der Textzeugen einschließlich der Handschriften und Notizen der dynamische Erzählvorgang nicht zufrieden stellend rekonstruiert werden.

Dracula gleicht einem Flickenteppich von Erzählungen, die dem Leser durch mehrere Erzählinstanzen vermittelt werden. Der Roman besteht aus einer Zusammenstellung von Tagebucheinträgen, persönlichen Briefen, Geschäftkorrespondenz, Krankenakten, Auszügen aus einem Logbuch und Zeitungsartikeln sowie Transkriptionen phonographischer Aufnahmen. Die Erzähler zeichnen akribisch auf, was sie einzeln und gemeinsam erlebt haben. Das Mittel, um den Leser schließlich über das aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschehen im Unklaren zu lassen, ist die Fiktion des mündlichen Erzählens. Sie eröffnet unterschiedliche, ja konträre Deutungsmöglichkeiten. Stoker verzichtet auf einen auktorialen Erzähler, durch seine Anordnung der Dokumente aber vermittelt der Text ein übergeordnetes Wissen. Bei einer so vielgestaltigen Erzähltechnik vermischen sich die erfundenen Szenen und Ereignisse mit geografischen Orten und historischen Begebenheiten, auf deren realistische Darstellung Stoker großen Wert gelegt hat, indem er alles so beschreibt, dass im Leser der Eindruck entsteht, es hätte sich genau so ereignen können. Wie gut ihm dies gelungen ist, zeigt Klingers naive Überzeugung, „dass die in Dracula beschriebenen Ereignisse »tatsächlich stattgefunden haben« und dass das Werk die Erinnerungen realer Personen wiedergibt, […].“

Die Uneindeutigkeit des dokumentarischen Erzählens soll vom Kommentar sachlich erläutert werden, wobei Deutungen und Wertungen vermieden werden müssen. Gegen diese Forderung verstößt ein Teil der Dracula-Forschung in unverantwortlicher Weise, obwohl auf das Problem sein Jahrzehnten hingewiesen und gefordert wird, den darüber in den letzten Jahrzehnten verbreitete Sinn vom Unsinn zu trennen.

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