Theodor Storm: Denkwürdigkeiten für ein Lebensbild

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„Was ich in meiner künftigen Biographie nicht zu vergessen bitte“

 Zusammengestellt und kommentiert

von

Gerd Eversberg

 

 

Inhalt

                                 Das Inhaltsverzeichnis ist mit den Text-Überschriften verlinkt

 

Vorwort

 

Biographische Skizzen

Westermühlen

Mein Vater

Der Schinderknecht

Eine Jahrmarktsbude

Schülerstreiche

Husumer Pfingstmarkt

Husumer Michaelismarkt

Etwas über die Süderstapler Marktnacht d. J. (1835)

Aus der Jugendzeit

Aus der Familie Mummy

Ferdinand Röse

Emma Kühl

Es war in der Studentenzeit

Geschichten aus der Tonne

Student in Kiel

Beroliniana

Auf dem Theater

Bertha von Buchan

Ich habe das Kind geliebt

Erinnerungen an Bertha

Von Kiel nach Husum

Spukgeschichten

Schwester Cäcilie

Eine Koogsgerichts-Verhandlung

Zwei Kuchenesser der alten Zeit

Von heut und ehedem

Berichte für die Schleswig-Holsteinische Zeitung 1848

 

 

 

 

Literaturverzeichnis

Zeittafel zu Leben und Werk

Das war unser Weihnachten

Von meinem Geburtstag

Reiseberichte

Von Potsdam nach Heidelberg

Meine Erinnerungen an Eduard Mörike

Heiligenstadt

Göttinger Geleichen

Theistungen

Weihnachtsvorbereitungen

Geselligkeit

In Todesgefahr

Schilderung unsres Winterlebens

Eine Parenthese

Der Amtschirurgus – Heimkehr

Lena Wies

Ferien

Besuch in Altona

Von Kindern und Katzen, und wie sie Nine begruben

Constanze ist nicht mehr

Reise nach Baden-Baden (September 1865)

Beichte

Dorothea Jensen

Am Rande der öden Mergelgrube

Ein Konzert

Reise nach Salzburg (Juli-August 1872)

Weimar

Wie wird man Schriftsteller von Beruf?

Sohn Ernst

Was der Tag gibt

Zum 70. Geburtstag

Reise nach Sylt (August 1887)

 

 

Vorwort

 

Ich habe mich seit einiger Zeit mit Storms geplanter Autobiographie beschäftigt, an der er parallel zum „Schimmelreiter“ gearbeitet hat, die er aber wegen seiner Alterskrankheit nicht mehr weiterschreiben konnte.

Mir ist dabei aufgefallen, dass es eine Reihe von Texten aus allen Lebensperioden gibt, die einen autobiographischen Charakter haben und von denen die meisten bis heute nur einem kleinen Kreis der Storm-Fachleute bekannt sind.

Die Grenze zwischen autobiografischen und fiktionalen Texten ist bei Storm fließend, wenn er ein fiktives Geschehen in einem für ihn typischen Erinnerungsprozess mit autobiografischen Elementen kombiniert; man könnte einige der Auszeichnungen, die Storm im Zusammenhang mit den „Zerstreuten Kapiteln“ verfasst hat, als „autofiktionale“ Text bezeichnen. Das gilt insbesondere für die Erzählung „Der Amtschirurgus – Heimkehr“.

Ich habe solche Texte Storms zusammengestellt und sie nicht chronologisch nach ihrer Entstehung sondern in Bezug auf Lebensabschnitte geordnet, auf die sie sich beziehen.

 

Für die Kommentierung wurden die Anmerkungen zu den edierten Texten ausgewertet. Die mit einem * markierten Überschriften stammen vom Herausgeber.

 

 

Biographische Skizzen*

(1)

Ich bin am 14. September 1817 zu Husum im Herzogtum Schleswig geboren, wo mein Vater noch jetzt als einer der geachtetsten Rechtsanwalte unsres Landes lebt. Nachdem ich die (jetzt wie manches andre deutsche Institut von der dänischen Regierung aufgehobene) Gelehrtenschule daselbst besucht hatte, ging ich Michaelis 1835 auf das Lübecker Gymnasium, das Geibel eben verlassen hatte. Hier lernte ich zuerst Heines Buch der Lieder kennen; und Heine wurde recht eigentlich der Dichter meiner Jugend. Sie werden dies aus einzelnen Sachen im zweiten Buch der Gedichte, welches eigentlich nur einen Anhang bildet und noch meist „Schulbilder“ enthält, leicht erkennen, z.B. S. 132. Nachdem ich mich für das Studium der Jurisprudenz bestimmt hatte, ging ich Ostern 1837 nach Kiel, Ostern 1838 nach Berlin auf die Universität und von dort wieder Michaelis 1839 nach Kiel zurück; absolvierte mein Amtsexamen Michaelis 1842, und ließ mich im Sommer 1843 in meiner Vaterstadt, von meinem Vater in die Praxis eingeführt, als Advokat nieder. – Als im Herbste 1850 Husum von den dänischen Truppen okkupiert wurde und in Stadt und Umgegend dänische Gerichtsbeamte an die Stelle der bisherigen traten, legte ich, da unsre Sache noch nicht aufgegeben war, meine Praxis nieder, antwortete auch auf eine mir von der dänischerseits eingesetzten Oberjustiz-Kommission abgefoderten Erklärung, weshalb ich meine Praxis eingestellt, dass, nachdem es einmal zwischen den Herzogtümern und Dänemark zum Bruche gekommen, mein Gefühl und meine Überzeugung auf Seiten meiner Heimat seien und ich deshalb mit den während des Kriegs dänischerseits eingesetzten Behörden nicht habe in Verkehr treten wollen.

Nachdem im Februar 1851 die Statthalterschaft abgetreten und die Tragödie ausgespielt war, nahm ich meine Praxis wieder auf.

Inzwischen erging an alle Advokaten der Herzogtümer ein Allerhöchster Erlass, dass die Bestallungen zur Erlangung der Königlichen Konfirmation an die Ministerien einzusenden seien. Dies geschah, wie von allen, so auch von mir. Bei dem bekannten Bestreben der dänischen Regierung indessen, alle deutsche unabhängige Intelligenz in unsrer Heimat auszurotten, musste ich natürlich den Bescheid erhalten, dass ich die nachgesuchte Bestätigung nicht erhalten könne. Das geschah Ende November vorigen Jahres. Seitdem bin ich aus meiner sehr angenehmen und einträglichen bürgerlichen Existenz herausgerissen; und gehe jetzt wie so viele meiner Landsleute, nach Amt und Brot in deutschen Landen umher. Ein Schritt den Abschlag rückgängig zu machen, ist in keiner Weise von mir geschehen. Der Epilog zu meinen Gedichten, den ich kurz zuvor geschrieben, spricht meine Überzeugung in dieser Hinsicht aus, der ich treu geblieben bin und unter allen Umständen treu bleiben werde.

 

(2)

Am 14 September 1817 bin ich als der älteste mehrerer Geschwister hier in Husum geboren1, wo mein Vater als ein besonders geachteter Rechtsanwalt unsres Landes noch gegenwärtig, samt meiner Mutter, in voller Tätigkeit lebt. Nachdem ich die hiesige Gelehrtenschule, das Lübecker Gymnasium, und als Student die Kieler und Berliner Universität besucht hatte, domizilierter ich mich im Frühjahr 1843 in meiner Vaterstadt als Advokat. Am 15 Septb. 1846 ward ich zur guten Stunde kopuliert mit meiner Mutterschwestertochter Constanze, einer Tochter des Bürgermeisters Esmarch in Segeberg, Enkelin des verstorbenen Zollverwalters Esmarch in Rendsburg, der in seiner Jugend zu den stummen Personen des Hainbunds gehörte, und in Fr. Voigts Roman „Hölty“ zur Ergötzlichkeit seiner Kindeskinder die Rolle des unglücklichen Liebhabers übernehmen muss.

Bei dem Bruche zwischen Dänemark und den Herzogtümern habe ich natürlich zu meiner Heimat gehalten, namentlich aber nach Beendigung des Krieges es für meine besondre Pflicht geachtet, meine Mitbürger, so weit ich dazu Gelegenheit hatte, gegen die Willkür der neu eingesetzten Königlich Dänischen Behörden mit voller Rücksichtslosigkeit zu vertreten. So hat es denn kommen müssen, dass mir, trotz meines im Ganzen sehr von allem Öffentlichen zurückgezogenen Lebens, wie fast allen jüngeren und tüchtigeren Kollegen, die Bestallung kassiert worden ist2, da es der jetzigen Regierung besonders daran gelegen ist, alle Elemente namentlich der unabhängigen, deutschen Bildung möglichst zu vernichten. In dieser Veranlassung und weil ich mich nicht, wie es leider jetzt von Vielen geschieht, zu Schritten herlassen kann, die meiner Überzeugung und den Pflichten gegen meine deutsche Heimat widersprechen, bin ich jetzt eben in Begriff nach Preußen überzusiedeln, das mir nach etwa ½jähriger Probezeit, die indes wohl etwas länger ausfallen wird, eine Anstellung als Justizbeamter und dadurch ein, wenn auch knappes, Auskommen in Aussicht gestellt hat. Constanze mit den drei Knaben, deren jüngster erst zu Anfang des vorigen Monats geboren ist, wird vorläufig hier bei meinen, oder in Segeberg bei ihren Eltern zurückbleiben. – Die nächste Zukunft sieht daher etwas grau aus, zumal ich mit dem Gefühl von hier gehe, den Fremden oder Schlechten meinen Platz zu räumen; doch ist, da es nun einmal nicht anders sein kann, die Heiterkeit unsres Hauses bisher noch keinen Tag lang dadurch gestört worden.

 

(3)

Ich bin am 14. Dezember3 in Husum, Herzogtum Schleswig geboren. Die Stadt liegt in der Nähe der Nordsee, an der einen Seite strecken sich die ungeheuren Wiesenflächen der Marschen, an der ändern waren in meiner Jugend noch ziemlich große, jetzt zum Teil urbar gemachte Heiden. Meine Mutter stammt aus einer alten angesehenen Bürgerfamilie der Stadt; die eine Urgroßmutter von dieser Seite behielt ich bis in mein dreizehntes Jahr, die Großmutter bis in mein Mannesalter. Beide lebten in ihren Familienhäusern, welche in ihren Geräten, Bildern, in ihrer Bauart, ja in den vielen Kleidern und Schmucksachen der alten Kommoden mir den Eindruck der alten und älteren Zeit gaben. Gern durchstreifte ich namentlich die Heiden, der Weg zum elterlichen Pfarrhause eines Schulfreundes4 führte über eine solche und wurde oft gemacht. Die Stadt trug derzeit noch ein ziemlich altertümliches Gepräge, viele Häuser noch mit Treppengiebeln, wie solcher Weise noch das alte St.-Jürgenstift steht. In dem dicht neben der Stadt liegenden alten herzoglichen Schloss war der große Rittersaal voll lebensgroßer Fürsten-, Ritter und Edelfrauen-Bilder. Dies Alles wirkte auf mich ein, dazu kamen in den Herbstferien mitunter Besuche in der ländlichen Heimat meines Vaters, dem Dorfe Westermühlen im Amte Rendsburg. Hier saß in behäbigem Wohlstande der älteste Bruder meines Vaters als Erbpachtsmüller auf der alten Erb-Wasser- und Wind-Mühle. Wald und Waldwiesen waren rings umher, dazu unweit der Mühle der schöne Bauernhof eines ändern Onkels, wie ich ihn in „Im Schloß“ beschrieben habe. Täglich ging ich mit des Onkels großem Hund zu Walde und lag dort dem Krammetsvögelfange ob (siehe in meinen Gedichten „Waldweg“). Kam dann mein Vater mich abzuholen, so wurde ein Krammetsvogelschmaus gehalten. Abends saßen der Onkel und ich unter den Linden vor der Tür und fertigten Dohnen an.

Ich besuchte die Gelehrtenschule meiner Vaterstadt, wo von deutscher Literatur außer Schiller und den Dichtern des Hainbundes uns nicht viel bekannt wurde. Dennoch hielt ich als Primaner bei den jährlichen öffentlichen Reden auf dem Rathaus eine Rede in Jamben über Matathias, den Befreier der Juden. Ich ging von hier zunächst noch 1½ Jahr auflas derzeit berühmte Lübecker Gymnasium, wo die Primaner in den ganzen Kreis der neuen Bildung eingeweiht waren. Hier lernte ich „Göthes Faust“, „Heines Buch der Lieder“, „Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen“ kennen, diese Bücher machten großen und nachhaltigen Eindruck auf mich; namentlich die beiden erstem kamen nicht von meinem Tische. Geibel war eben abgegangen von der Schule, kam aber in den Ferien. Mein Versemachen, das ich schon in Husum getrieben, erhielt eine etwas tiefere Färbung; es war aber nur „wie ein Flügelprüfen ohne Selbständigkeit, nur hervorgegangen aus dem innern Drange nach künstlerischem Formen und idealer Auffassung des Lebens, nicht aus dem unabweisbaren Drange, ein bestimmtes Innerliches gestaltetes auszuprägen“. Ich studierte sodann in Kiel, Berlin und wieder Kiel, wo namentlich die Gebrüder Theodor und Tycho Mommsen zu meinen Universitätsfreunden zählten, mit denen ich 1843 eine Gedichtsammlung „Liederbuch dreier Freunde“ herausgab. Mit ersterem begann ich auch die Schleswig-Holsteinschen Sagen zu sammeln, in welcher Beziehung sich später Müllenhoff zu uns gesellte, der dann später die bekannte reiche Sammlung unserer – d.h. Schleswig-Holsteins – Sagen herausgab. Nach dem Examen wurde ich Advokat in meiner Vaterstadt und schrieb hier außer einzelnen Gedichten „Immensee, Im Saal, Marthe und ihre Uhr“, welche zunächst in einem Volksbuch für die Herzogtümer Schleswig-Holstein u. Lauenburg veröffentlicht wurden. Dann kam 1848 die Erhebung gegen Dänemark („Ostern im Herbste 1850“, „Gräber an der Küste“, „Weihnachtsabend“, „Abschied“). 1852 im Herbst, nachdem kurz zuvor einige meiner Novellen und Gedichte (Sommergeschichten und Lieder) erschienen waren, ging ich mit meiner Familie nach Potsdam, wo ich als Assessor am dortigen Kreisgericht arbeitete. Von hier aus trat ich dem Kreise Franz Kuglers in Berlin nahe (Friedrich Eggers, Fontane, Paul Heyse, der Maler Adolph Menzel usw.). Nach etwa drei Jahren wurde ich als Kreisrichter an dem Kreisgerichte zu Heiligenstadt auf dem Eichsfelde angestellt, nachdem ich 1855 noch Mörike, in dessen Schriften ich mich bei meinem letzten Kieler Aufenthalt besonders vertiefte, in seiner Heimat aufgesucht hatte. (In die Potsdamer Zeit fällt das Gedicht An meine Söhne.) Was ich in Heiligenstadt produziert, ergeben die Register der Gesamtausgabe. Ende des Jahres 1863 starb der König von Dänemark, (Gräber in Schleswig) und ich erhielt im Februar 1864 von meinen Landsleuten in Husum die Aufforderung, die dortige Landvogtei (Richter und Polizeimeister des Landbezirks) zu übernehmen. Dies geschah und ich siedelte mit meiner Familie wieder in meine Vaterstadt über. Bei der Justizreorganisation 1867 erbat und erhielt ich die eine der hiesigen Amtsrichterstellen. Ich wünschte nämlich hierzubleiben, insbesondere, weil außer meinem jüngsten Bruder5 (Arzt) auch unsere beiden Eltern hier leben. Mein Vater feiert nächstens sein 60jähriges Dienstjubiläum als Advokat, er hat in seinen kräftigen Jahren namentlich auch in administrativer Hinsicht segensreich (es war damals böse Zeit) für die Bevölkerung der hiesigen Umgegend gewirkt, er war angesehen und besonders hoch geachtet im ganzen Lande, langjähriges Mitglied der Ständeversammlung und genießt jetzt in seinem Alter eines patriarchalischen Ansehens.

 

(4)

Meine Eltern lebten stets in wohlhabenden Verhältnissen; im Hause war viel Gastlichkeit. Mein Vater, jetzt wie damals, ein kleiner schmächtiger Mann von heftigem Temperament und der tiefsten Innigkeit des Gemütes, die er gern verbirgt und unterdrückt, noch jetzt, weil er sich davon nicht übermannen lassen will. Er liebt uns sehr, und hat uns und seiner so sehr geliebten Frau doch oftmals weh getan. Er ist ein Mann ohne alle Selbstsucht, als Advokat – er war namentlich in Administrativsachen von Bedeutung – von einer keuschen Ehrenhaftigkeit; kein gelehrter Jurist, aber berühmt wegen seiner klaren Auffassung der Sachlage. Im ganzen Lande war er hochgeachtet und geschätzt; er hatte wirkliche Freunde in allen Schichten. Als bei einer Inselreise ein alter Schiffer mich auf seinem Rücken an den Strand trug, sagte er zu mir: „Von sin Öle (so sagte der Mann) sprickt man ok Gudes, wenn man nich vor em steh.“ Außer seinen Geschäften, von denen er noch jetzt in seinem 84st Jahre nur einen Teil aufgegeben hat, beschäftigt er sich wesentlich in puncto Lektüre mit politischen und historischen Schriften, – wofür mir, leider, der Sinn abgeht. In Husum stand durch mehrere vor ihm da gewesene treffliche Leute der Advokatenstand schon in Ehren, er hat durch ein langes Leben wesentlich dazu beigetragen; in gewissem Sinne kann ich sagen, dass er in der kräftigen Zeit seines Wirkens der angesehenste Mann in Stadt und Land war. „De öle Storm“, das Wort wurde mit einer gewissen Ehrerbietung ausgesprochen. Viele Leute verdankten seinem Rat und seiner Tat ihre ganze Existenz, in den Jahren – die 20ger u. 30ger Jahre – als der Wert des Grundbesitzes oft auf Null gesunken war. Jetzt sind die meisten dieser vor ihm dahingegangen und er sitzt im Schatten des Alters. Ich könnte viel von seiner Eigentümlichkeit erzählen; er wohnt nur 4 Häuser von mir und nur etwas weiter von meinem jüngsten Bruder, der ein tüchtiger und angesehener Arzt ist; aber er ist in den neun Jahren nur 2mal bei Jedem von uns gewesen, obgleich ihn äußerlich nichts daran hindert; ich meine, er fürchtet von seinem Gefühl überwältigt zu werden, wenn er das häusliche Heim seiner Kinder betritt. Wir sind natürlich oft bei ihm. In seinem großen Comtoir (das Gefühl und Bedürfnis für freundliche, geschweige schöne Umgebung, was meine Mutter in ziemlichem Grade hat, fehlt ihm ganz) verbringt er seinen Tag, nur mitunter in den Garten gehend, wo ihn ein großes Taubenhaus besonders beschäftigt; Abends aber sieht er gern, wenn von den Kindern kommen; dann beherrscht er, wie einst in größerer Geselligkeit noch jetzt das Gespräch und erzählt von seiner Jugend, vom Drosselfang, von der Dorfschule von seinem Leben in Feld und Wald, von seiner Mutter (sie starb in meinem 3t Jahr) die er so sehr geliebt. Vor nicht gar langer Zeit geschah es dabei, dass der alte Mann sich plötzlich von seinem Stuhle aufhob und mit dem Ausruf: „O meine süße Mutter!“ beide Arme in die leere Luft streckte. – Die goldne Hochzeit meiner Eltern wurde so gefeiert, dass sie mit uns, ihren Kindern, nach der Heimat unseres Vaters fuhren und die Stätten seiner Jugend aufsuchten. In einem Dorfe lebte seine letzte Schwester, die Witwe des dortigen Schulzen („Bauernvogt“ sagen wir). Das Wiedersehen der beiden alten Leute ergriff mich so, dass ich hinter's Haus ging, um mich auszuheulen. Am großen Kaffeetisch saßen sie Hand in Hand; die alte Schwester, die er in 7 Jahren nicht gesehen, war halb erblindet. „Weetst noch, Gretjen?“ fragte er, und dann kam eine alte Jugendgeschichte. „Ja, Kas' (Johann Kasimir Storm heißt mein Vater), wo schull man dat vergäten!“ war dann die Antwort. – Sechs Wochen später erhielt er die Nachricht von dem Tode dieser Schwester; er ist nun allein übrig von 7 Geschwistern. – Was seltsamerweise meinem Vater ganz, aber ganz abgeht (ich habe es nie in dem Maße bei einem Menschen bemerkt) ist der Humor; soviel ich erkenne, hat er absolut kein Verständnis dafür; man muss im persönlichen Verkehr diesen Tröster aller Not ganz bei Seite lassen; daher fehlt dem Verkehr mit ihm die frohe Leichtigkeit, und er selbst hat das Leben immer nur durch Arbeit und resigniertes Zusammenraffen überwinden können. – Wie schon sein Vor-Name darauf hindeutet, – vielleicht auch sein Temperament – es ist möglich, dass etwas polnisches Blut in uns ist. Der Vater meines Vaters, Müller (es war eine Wasser- und eine Windmühle, die wohl ein paar hundert Jahre in unserer Familie gewesen, bei Aufhebung des Mühlenzwangs aber von dem Sohne des ältesten Bruders meines Vaters verkauft ist) in dem in Baum und Wiese gelegnen Dörfchen „Westermühlen“, hatte die Tochter des Predigers aus ihrem Kirchdorfe Hohn (im südlichen Schleswig) geheiratet. Dieser Prediger, mein Urgroßvater, hieß Claussen6; wie er früher geheißen, woher er eigentlich gekommen, ist seiner eignen Familie nicht offenbar geworden. Er soll ein Pole gewesen sein, der, vielleicht eines Duells wegen, seine Heimat verlassen und sich durch das Examen das Indigenat hier erworben hatte. Es sollen einmal 2 polnische Offiziere bei ihm zu Besuch gewesen sein, die sich durch ungeheueres Saufen ausgezeichnet; das sollen seine Brüder gewesen sein. Mein Vater ist als Knabe oft Sonnabend Nachmittags zu ihm gegangen; dann sind sie zusammen auf die Froschjagd gezogen und haben Abends gebratne Froschschenkel gegessen. Weit her muss mein alter Urgroßvater jedenfalls gewesen sein; denn hier im Lande der gebratnen Rinder schaudert man sonst vor solchem Gericht. Meine Mutter Lucie geb. Woldsen gehört einem alten Patriziergeschlecht (es gibt dort dergleichen nicht mehr) der kleinen Seestadt Husum an; desgleichen ihre Mutter Magdalene geb. Feddersen; (das dd ist sehr weich, fast wie w zu sprechen). Meine Mutter war – Viele meinen sie sei es noch mit 76 Jahren – selten hübsch; die eigentümliche Schönheit ihrer graublauen Augen frappiert noch jetzt Jeden, der sie zum ersten Male sieht. Sie hat einen guten klaren Verstand, sehr viel Interesse für Kunst und Natur, ist aber ohne hervorragende geistige Begabung. In ihrer natürlichen Teilnahme für Alles, was in ihren Kreis kommt, hat sie sich trotz ihrer jetzt erheblichen Nervenleiden (sie gebar 13 Kinder, wovon nur wir 4 Söhne leben) eine jugendliche Frische der Seele bewahrt; auch ihre Gestalt ist noch fein und jugendlich; wenn Sie sie von hinten gehen oder sitzen sähen, würden Sie die alte Frau schwerlich in ihr vermuten. Als ich vor etwa 18 Jahren mit ihr und meinem Vater in Stuttgart war, sagte Freund Mörike zu mir: „Ich komm' aus mein Staune gar nicht heraus! In Wahrheit, sie habe prächtige, prächtige Eltern! Ihre Frau Mutter hat so was Klares, Leuchtndes!“ – Eine Hauptperson für mich war meiner Mutter Mutter, eine kleine Frau von geringen geistigen Anlagen, aber von großer Herzensgüte und von ewig heiterem Temperamente. Nachdem mein Großvater Simon Woldsen (Sie finden in den beiliegenden „Zerstreuten Kapiteln“ einen Originalbrief von ihm) in meinem 3t od. 4t Jahre verstorben, zogen wir zu ihr in ihr geräumiges Haus, das meine Eltern noch besitzen. Es ist das „Großmütterchen“. Sie tat mir Alles zu Liebe und versorgte mich mit Allem, was ich zu meinen Spielen bedurfte. Sie wurde 87 Jahre; ihre Mutter, eine bedeutendere Frau, die noch in ihrem eignen Hause an der „Schiffbrücke“ (Hafenstraße) wohnte, behielt ich bis zu meinem 13 Jahre; sie wurde fast ebenso alt. Ihr Haus ist es, in dem ich die freundschaftliche Gesellschaft sich versammeln lasse.

Erzogen wurde wenig an mir; aber die Luft des Hauses war gesund; von Religion, oder Christentum habe ich nie reden hören; ein einzelnes Mal gingen meine Mutter oder Großmutter wohl zur Kirche, oft war es nicht; mein Vater ging gar nicht, auch von mir wurde es nicht verlangt. So stehe ich dem sehr unbefangen gegenüber; ich habe durchaus keinen Glauben aus der Kindheit her, weiß also auch in dieser Beziehung nichts von Entwicklungskämpfen; ich staune nur mitunter, wie man Wert darauf legen kann, ob Jemand über Urgrund und Endzweck der Dinge Dies oder Jenes glaubt oder nicht glaubt.

Von meinem Großvater her standen hinter dem Hause noch eine Menge Gebäude von dessen Zuckerfabrik, teils leer, teils zu Speichern vermietet. Alle aber nahmen ich und meine Kameraden zu unsern Spielen in Beschlag. Einen dieser finden Sie in der Vorrede „In der Tonne“. Ein nahes Verhältnis fand während meiner Tugend zwischen mir und meinen Eltern nicht Statt; ich entsinne mich nicht, dass ich derzeit jemals von ihnen umarmt oder gar geküsst worden. Wir im Norden gehen überhaupt nicht oft über den Händedruck hinaus. Was Heimweh sei, habe ich nie empfunden.

Ich wüsste nicht, dass bis zu meinem 18 Lebensjahr irgendein Mensch – in specie Lehrer es sei denn Lena Wies – Einfluss auf mich geübt; dagegen habe ich durch Örtlichkeiten starke Eindrücke empfangen; durch die Heide, die damals noch zwischen Husum und einem Dorfe lag, wohin ich fast alle 14 Tage mit dem Sohn des dortigen Predigers ging, der die Gelehrtenschule in Husum besuchte durch den einsamen Garten meiner Urgroßmutter, durch den mit alten Bildern bedeckten „Ritter-Saal“ des Husumer Schlosses etc. auch durch die Marsch, die sich dicht an die Stadt schließt und das Meer, namentlich den bei der Ebbe so großartig öden Strand der Nordsee.

Gelernt habe ich niemals etwas Ordentliches; und auch das Arbeiten an sich habe ich erst als Poet gelernt. Dies ist buchstäblich wahr; mir fehlt ganz das Talent des Lernens.

Weshalb ich mich der Jurisprudenz ergab? Es ist das Studium, das man ohne besondre Neigung studieren kann; auch war mein Vater ja Jurist. Da es die Wissenschaft des gesunden Menschenverstandes ist, so werde ich auch wohl leidlich mit meinem Richteramte fertig. Mein richterlicher und mein poetischer Beruf sind meistens in gutem Einvernehmen gewesen ja ich habe sogar oft als eine Erfrischung empfunden, aus der Welt der Phantasie in die praktische des reinen Verstandes einzukehren, und umgekehrt. Bedeutende Entwicklungskämpfe hat mein Leben nie gehabt ich bin durchaus unbefangen aufgewachsen. Poetische Muster, nach denen ich absichtlich gearbeitet, habe ich nie gekannt; es ist dies Alles unwillkürlich bei mir gewesen. Über die Bücher, welche, aber erst auf der Lübecker Schule, meine Lieblinge waren, und entschiedenen Einfluss übten, ist die Pietsch'sche Biographie7 zu vergleichen. Es waren vorzugsweise Heine's Buch der Lieder u Göthe's Faust; auch Eichendorffs „Dichter u. ihre Gesellen“ später auch die übrigen Werke Eichendorffs und Mörike's Gedichte. Einen besondern Einfluss hatte auf der Lübecker Schule auf mich mein unglücklicher „Ferdinand Rose“ dessen ich in den „Zerstreuten Kapiteln“ unter seinem Beinamen Doktor Antonio Wanst gedacht habe; später Theodor Mommsen mit dem ich in den letzten Jahren meines Studentenlebens zusammenlebte in Kiel. Beide fuhren mit unbarmherziger Kritik über mich her. So habe ich während meiner Entwicklung schon gelernt einen strengen Maßstab an mich selbst zu legen und habe Alles immer so gut gemacht, als ich es mit meinen besten Kräften vermochte. Meine Freunde haben mir oft nachgerühmt dass ich Kritik vertragen könne.

In Betreff der Örtlichkeiten welche in meiner Jugend einen besondern Einfluss auf mich übten hole ich noch nach. Der älteste Bruder meines Vaters hatte die Familienmühle. In den Michaelisferien war ich mehrfach dort und betrieb dann mit seiner Hülfe in den umliegenden Wäldern mit Eifer den Krametzvögelfang (siehe in den Gedichten: Waldweg). Da wir bei Husum auf ein paar Meilen weit keine Wälder haben so war der Eindruck dieses Waldlebens ein sehr lebhafter auf mich.

Ich bin eine stark sinnliche leidenschaftliche Natur; die Zurückhaltung in meinen Schriften (in den Gedichten ist sie nicht so vorhanden) beruht wohl zum Teil auf dem mir eignen Drange nach Verinnerlichung; Sie werden die Worte „Liebe“, „Kuß“ etc. fast gar nicht in meinen Schriften finden.

 

(5)

Ihre vorangestellte Frage anlangend, so war zur Zeit der Reichsgründung die Zeit meiner lyrischen Produktion im wesentlichen vorüber; aber es ist nicht das allein. Mich interessiert mehr der Mensch als die Menschheit, mir fehlt wohl das, was man historischen Sinn nennt. Hier bei unserem Kampfe trat alles unmittelbar an mich und die Personen um mich her heran; ich selbst stand mitten in der Bewegung und wurde persönlich, zumal da man auch unsre Sprache antastete, in Mitleidenschaft gezogen. Von der Reichsgründung hörte ich aus der Ferne, dass sie gemacht wurde; während wir hier, mochten wir noch so gut zum Ganzen halten, nun andrerseits den Groll gegen die noch nicht verwinden konnten, die uns recht subalterne, wenig vornehme Persönlichkeiten sandten, um uns zu belehren, auf welch niedrer Stufe wir mit all unserm heimischen Wesen standen. So schwieg ich denn auch schon, als die Dänen 64 geschlagen wurden, bis auf den Vers: „Nun ist geworden, was du wolltest!“8

Hätte mich noch etwas außerdem zum Schweigen bringen können, so wären es die unzähligen Aufforderungen gewesen und die Bettelsuppe „patriotischer“ Lieder, die der Buchhändler – Lipperheide, glaub ich, heißt er – in einem zusammengestoppelten Buche9 auftischte, worauf als Fettaugen ein paar Strophen in einem Freiligrathschen Gedichte obenauf schwammen. […]

Zu der Biographie von L. Pietsch in „Westermann“ habe ich das Tatsächliche selbst gegeben. Weiteres ist nicht hinzugekommen, als daß ich vor reichlich drei Jahren meinen Vater verlor, während meine Mutter, die um zwanzig Jahre älter ist als ich, glücklicherweise noch in dem alten Familienhause lebt, durch das Alter wenig in ihrem Wesen verändert; doch das sind persönliche Interessen.

Die Ausbildung meines kritischen Sinnes, insbesondere der Selbstkritik, verdanke ich, außer dem längeren Zusammenleben mit Th. Mommsen in der Studentenzeit, jenem Jugendgenossen Geibels (Ferdinand Rose), dem ich Band 8, Seite i, der Gesamtausgabe ein kleines Gedächtnis zu stiften gesucht habe.10 „Denique sit, quid sit, simplex duntaxat et unum“11, schrieb er als Todesurteil unter meine ihm damals vorgelegten Gedichte. Obgleich zusammen in der Lübeckschen Prima, war er doch bedeutend älter als ich. […]

Vor einigen Jahren sah ich in einer benachbarten Dorfkirche, an der ein Schwager12 von mir als Prediger steht, vier lebensgroße, durch den Rahmen zusammengefasste Porträtbilder einer dortigen Predigerfamilie aus dem siebzehnten Jahrhundert; in der Mitte die Eheleute, zur Linken eine halberwachsene Tochter, zur Rechten ein etwa zehnjähriger Knabe mit einer roten Nelke in der Hand. In dem geschnitzten Rahmen an dieser Seite liefen die Worte herab: incuria servi aquis submersus13. Nicht weit davon an derselben Wand befand sich das seitdem bei einem Brande verlorengegangene Totenbild desselben Knaben. Auf einer zum Pastorat gehörigen Koppel befand sich eine Trinkgrube, worin damals der Knabe ertrunken sein sollte. Der harte Spruch, womit der Fehler des armen Knechtes so verewigt werden sollte, und andererseits das blasse, etwas leidende Knabenantlitz, auch das des lebend dargestellten, hafteten mir mehrere Jahre mit einem geheimnisvollen Reiz in der Phantasie, bis an einem sonnigen Herbsttage, wo ich allein durch eine anmutige Gegend fuhr, während schon der leise Blätterfall begonnen hatte, die Dichtung „Aquis submersus“ daraus hervorstieg; freilich nach allen Richtungen hin etwas ganz anderes, als was ich wirklich gesehen hatte, und nicht einmal eine erklärende Geschichte des Geschehenen. Das Bild des Predigers wurde ein ganz anderes, und statt der dortigen Kirche schob ich mir unversehens eine andere aus

„Der Spiegel des Cyprianus“, um noch eins zu sagen, verdankt seine Entstehung dem Umstände, dass ich viele Jahre vorher meinen ältesten, damals vierjährigen Sohn sich in einer dunklen Mahagonikommode spiegeln sah, was mir damals einen eigentümlichen Eindruck machte.

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1 Eduard Mörike hatte in seinem Brief an Storm vom 26. Mai geschrieben: „Unserer Vorstellung von Ihnen würde eine Andeutung Ihrer äußerlichen Existenz sehr angenehm zu Hilfe kommen. Das Eine will Sie zum Arzt, das Andere zum Prediger machen.“

2 Christian Hieronymus Esmarch (1752-1820) war Mitglied des Hainbundes in Göttingen. Sein Sohn Johann Philipp Ernst Esmarch (1794–1875) wurde durch die Heirat seiner Tochter Helene Constanze Cäcilie (1825–1865) zum Schwiegervater Theodor Storms.

3 versehentlich für: September

4 Das Elternhaus von Storms Schulfreund Peter Ohlhues (1815-1883) in Hattstedt, nördlich von Husum, wird von Storm im Eingangsteil seiner Novelle „Aquis submersus“ beschrieben.

5 Dr. Aemil Storm (1833-1897).

6 Die Eltern des Pastors in Hohn bei Westermühlen Johann Casimir Claussen (1729-1796), stammen aus Mohringen bei Hannover. Polnische Vorfahren konnten nicht nachgewiesen werden.

7 Theodor Storm. Eine Lebensskizze. Von Ludwig Pietsch. In: Westermanns Illustrirte deutsche Monatshefte 25 (1868/1869), S. 98–112, Porträt S. 104.

8 Storms Gedicht „Antwort“ (LL I, S. 84).

9 Franz Lipperheide: Lieder zu Schutz und Trutz. Gaben deutscher Dichter aus der Zeit des Krieges in den Jahren 1870 und 1871, Berlin, 1871.

10 Der Band 8 der Gesamtausgabe (1877) beginnt mit den „Neuen Fiedel-Liedern“, die Storm mit Erinnerungsblättern an seinen Studienfreund Ferdinand Rose einleitet.

11 Es mag nun sein was es ist, es ist einfältig und immer das gleiche.

12 Harro Feddersen in Dresdorf

13 Aus Unachtsamkeit des Knechts im Wasser ertrunken.

 

Quellen

(1) An den Journalisten Hermann Kletke in Berlin, Brief vom 3. April 1853. In: Briefe 1, S. 183f.

Kletke hatte Storm um eine knappe biographische Skizze für seine journalistische Arbeit gebeten.

(2) An Eduard Mörike in Stuttgart, Brief vom 12. Juli 1853. Br. Mörike, S. 28f. Mörike hatte in seinem Brief an Storm vom 26. Mai geschrieben: „Unserer Vorstellung von Ihnen würde eine Andeutung Ihrer äußerlichen Existenz sehr angenehm zu Hilfe kommen. Das Eine will Sie zum Arzt, das Andere zum Prediger machen.“

(3) An die österreichische Schriftstellerin Ada Christen in Wien, Brief vom 2. März 1873. Laage 1987, S. 13-15.

(4) An den österreichischen Literaturkritiker Emil Kuh in Wien, Brief vom 13. August 1873. Laage 1987, S. 15-20.

(5) An den Gymnasiallehrer Gustav Hoerter in Barmen, Brief vom 1. April 1878 (Auszüge). In: Briefe 2, S. 151-156.

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Westermühlen*

Mein Vater ist der Sohn eines Müllers, was einigermaßen mit unserm Namen stimmt. Die (Wasser- und Wind-)Mühle liegt etwa fünf Meilen südlicher als Husum in dem kleinen heimlich und seitab unter Bäumen gelegenen Dörfchen Westermühlen, wo mein guter Vater bis zur Zeit, da er auf die Gelehrtenschule nach Rendsburg kam, in Wald und Feld, namentlich als Vogelsteller, eine so anmutige Jugend verlebt hat, dass er, der vielgesuchte und im ganzen Lande bekannte Jurist und Geschäftsmann, des Nachts noch fortwährend von dieser, von Fisch- und Vogelfang träumt, dass er, wenn ihm abends nach dem sauren Tage unter seiner Familie das Herz recht aufgeht, unfehlbar von dieser Vergangenheit zu erzählen beginnt, zu deren Andenken er sich auch schon seit Jahren im Garten hinterm Hause Brutkasten für die Stare – Spreen sagen wir – an den Mauern der Stallgebäude hat anbringen lassen. Von Stunde zu Stunde tritt er dann aus seiner Arbeitsstube und beobachtet im Frühling ihre Ankunft, im Sommer ihr Geschwätze, ihr Aus- und Einfliegen, ihre ganze Wirtschaft mit dem kindlichsten Vergnügen. Während meiner Knabenzeit hatte der älteste Bruder meines Vaters, ein kluger und gemütlicher Mann, die Mühle. Die großen Bauern in den umliegenden Dörfern waren fast alle meine Ohme oder Vettern, die dort noch mit wenigen Ausnahmen in den behaglichen, meine Phantasie jetzt noch aufs angenehmste anregenden, geräumigen altsächsischen Bauerhäusern wohnten. (In Westfalen müssen sie nach Immermanns „Münchhausen“ fast ebenso sein.) Wie manche Herbstferien habe ich dort verlebt! Mein Hauptquartier aber hielt ich immer auf der Mühle. Von dort aus wurde die Hauptfreude und -beschäftigung, der Drosselfang, in den etwa eine Viertelstunde vom Dorfe belegenen Wäldern getrieben. Des Abends saß ich dann mit meinem Oheim unter den Lindenbäumen vor der Tür des Wohnhauses; und wir flochten Dohnen aus Weidenzweigen und drehten Schlingen aus Pferdehaaren. Den Weg zum Walde, den ich, meinen Korb mit Vogelbeeren und sonstigen Utensilien unterm Arm, entweder in Begleitung meines Oheims oder, wenn er keine Zeit hatte, in der seines Jagdhundes, mehremal am Tage machte, beschreibt das Gedicht, wie er viele Jahre später noch vor meiner Phantasie stand. – Im Herbste 1849 war ich das letzte Mal mit meiner jungen Frau und unserm damals noch einzigen Jungen, Hans, zum Vogelfang auf der Mühle. Statt des inmittelst verstorbenen Oheims war dessen Sohn jetzt der Müller; auch die Linden vor dem Hause waren umgehauen, und statt des alten großelterlichen Wohnhauses selbst war ein neues aufgesetzt. Das alles störte mich anfangs; aber die herzliche Anhänglichkeit, die unser in die städtischen Verhältnisse übergesiedelter Familienzweig fortwährend mit den ländlichen Verwandten unterhalten, glich bald alles aus. Es sind aber auch prächtige Menschen von allerfeinstem Herzen darunter, namentlich drei Schwestern meines Vaters, deren älteste, Tante Gude, ein gebücktes kleines Mütterchen mit den kräftigen grauen Augen, die ich vor allen liebe, ich diesen Frühjahr als Tote habe betrauern müssen. Und wie meine Frau sich mit ihnen allen verstand, und wie alle sie hegten und liebten! Ich kann den Mann der jüngsten Vaterschwester nicht unerwähnt lassen, den Onkel Ohm (einer seiner Vorfahren hat einen holsteinschen Herzog in irgendeiner Schlacht herausgehauen und [dieser] ihm, weil er wie ein Freund und Blutsverwandter an ihm gehandelt, diesen Namen und Äcker, Wald und Wiesen geschenkt. Dieser behagliche und wohlgenährte Mann (er pflegt zu sagen: „Ick mag geern dick Botter mit 'n bät Brot op“), der für alles Ohr und Interesse hat, war, wenn wir in späteren Zeiten dort waren, der eigentliche Mittelpunkt unserer geselligen Freuden. Oft – z. B. in den Pfingsttagen 1847, wo wir mit mehren Wagen angelangt waren - hatte er drei und vier unserer jungen Mädchen zu beiden Seiten am Arm, wenn er seinen grasreichen Hof hinunterschritt übern Fahrweg zum Kirchspielskrug, der natürlich auch von einem Vetter bewirtschaftet wird. Sein Gehöft liegt im Kirchdorfe Hohn (Amt Rendsburg). Ich hatte damals eben meine junge Frau geheiratet; meine Brüder waren mit, der eine mit seiner Braut, eine Schwester meiner Frau und einige andre Freunde. Wir hatten mehrere Häuser mit Einquartierung belegt. Wir gingen von einem Hause zum andern, fuhren von einem Dorf zum andern, frühstückten hier, aßen dort zu Mittag immer bei Verwandten, und nach dem Kaffee, den wir wieder in einem andern Hause einnahmen, ließen wir die Dorfmusikanten kommen und tanzten bis Dunkelwerden, und einer meiner Vettern machte meiner jungen Frau förmlich den Hof, während seine Mutter, meine liebe Tante Lene (die Frau des Onkel Ohm, die jüngste Vaterschwester), sie zärtlich mit ihren sanften schönen Augen verfolgte. Dann abends bis tief in die Nacht saßen wir in dem weitläuftigen wüsten Garten unter den dunkeln Taxusbäumen und hörten am Teiche und aus der Ferne von unten aus dem Dorf die Nachtigall schlagen, wie ich sie niemals weder zuvor noch später gehört habe. – – Sie müssen noch einmal nach dem eine halbe Stunde vom Kirchdorfe entfernten Westermühlen mit mir zurückkehren. Wir bleiben aber nicht auf der Mühle; wir gehen hintenaus am Garten entlang und pflücken aus dem Rankengewirr, das sich an dem Zaune hinzieht, bei der Hitze des Herbstnachmittags etwa eine süße, glänzend schwarze Brombeere; dann über ein paar höher gelegne Ackerstrecken, bis wir linksum ein Stückchen längs einem Arm des Mühlenbaches hingehen. Bald sind wir, wo wir wollen, auf dem sogenannten „Vordamm“; vor uns in grüner Busch- und Wieseneinsamkeit neben uralten Eichen liegt ein anmutiges sauberes Gehöft mit rotem Mauerwerk, weißen Läden und ungeheuerem, fast zur Erde reichendem Strohdach. Hier wohnte im Jahre 1849 mein Vetter „Hans auf dem Vordamm“, der vorig Jahr mit Hinterlassung eines Sohnes gleichen Namens gestorben, nachdem vor ihm sein Vater gleiches Namens dort gehaust hatte. Auf einer Wiese neben dem Hause stehen noch jetzt die Reste der Umzäunung eines „Bienen- oder Immenhofes“, wie ich einen solchen in meinem „Grünen Blatt“ beschrieben, und zwar hatte der Besitzer sie aus Pietät gegen die Jugend seines Jüngern Bruders, eines sinnigen liebenswürdigen Menschen, so unberührt stehenlassen, der als Knabe und auch noch späterhin, solang er zu Haus gewesen, hier die Bienenzucht getrieben und dann durch die Familie an eine reiche Bauerntochter im Dorfe Hohn verheiratet worden ist, wo er jetzt als begüterter Bauer, aber mit dem alten kindlichen Herzen, unter vielen Kindern lebt. Mit diesem meinem einige Jahre älteren Vetter Jürgen Storm stand ich vor einigen Jahren, über Knabenerinnerungen und über meine Besuche in frühern Zeiten plaudernd, zwischen den wild hinauswachsenden Büschen des alten Immenhofes. Wir entsannen uns zusammen aller möglichen kleinen Geschichten, des Storchs, den ich, von ihm verleitet, ruchloserweise vom Baum geschossen; der Dohnen in seinem Garten, in die er mir alle Viertelstunde dieselben Krammetsvögel hing, bis ich am Ende den gefangenen Vorrat inspizieren wollte – – nur in einem blieb ich allein, und es ist mir bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben. Ich entsinne mich nämlich – die Zeit und Gelegenheit weiß ich auch nicht einmal annähernd anzugeben –, mit dem Vetter Jürgen aus der kleinen Seitentür des Hauses grade in die Wiesen über kleine Gräben und durch Bruchland und Buschwerk in einen Wald hinabgegangen zu sein; auf dem Wege schnitt er mir Pfeifen aus Erlenholz; was mich aber damals wie ein Märchen anheimelte, in einer sonnigen Waldlichtung sah ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben eine von den großen smaragdgrünen Eidechsen. Sie saß auf einem Baumstumpf und sah mich wie verzaubert mit ihren goldnen Augen an. Als ich das meinem Vetter erzählte, lachte er mich aus und wollte nichts davon wissen. Nach jener Seite hin sowie überhaupt so in der Nähe sei gar kein Wald und, solange er denken könne, auch keiner gewesen. Ich überzeugte mich selbst, er hatte recht; überall nur Busch und Wiesen und Äcker und einzelne alte Bäume. – Wo aber bin ich damals denn gewesen?

 

Quellen

An Eduard Mörike in Stuttgart, Brief vom November 1884. Br. Mörike, S. 50-53.

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Mein Vater*

Mein Vater war der Jugendgenosse und lebenslängliche Freund des in den Schleswig-Holsteinischen Kämpfen bekannt gewordenen Etatsrats Esmarch; sie studierten einst zusammen in Heidelberg und gingen dort auch wohl mitsammen zum alten Johann Heinrich Voß, dem Hainbund-Freunde von Esmarchs Vater, der ihnen dann im Reblaubgange seines Hauses im Schlafrock und mit der spitzen Schlafmütze, seine lange Pfeife rauchend, entgegenkam, wie mein Vater meinte, ein etwas griesgrämiger Herr; – an das Haus des jüngeren Bruders, des Justizrats und Bürgermeisters Esmarch in Segeberg, der meine Mutterschwester zur Frau hatte und dessen älteste edle Tochter später die meine ward, binden mich die wärmsten Erinnerungen. Aus einer Lebensskizze, die diese Familiennachrichten nach einer früheren Veröffentlichung durch den zur Familie gehörigen weiland Pastor Dr. Jensen in Boren bringen, empfing ich die Anregung zu meiner Novelle „Renate“; aus mir derzeit von dem jetzigen Herausgeber mitgeteilten Einzelheiten einige sehr willkommene kulturhistorische Farben.

 

Quellen

Chronik der Familie Esmarch, hg. v. Ernst Esmarch. Als Manuskript gedruckt 1887. LL 4, S. 411.

Ernst Esmarch (1854-1932), der älteste Sohn des gleichnamigen ältesten Bruders von Storms erster Ehefrau Constanze, veröffentlichte bereits als Theologiestudent „Einige Nachrichten über das Esmarch'sche Geschlecht“. Bredstedt 1875. Als er von seinem erweiterten Buch 1887 einen Privatdruck veranstalten wollte, bat er seinen Onkel um ein Vorwort.

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Der Schinderknecht*

Es ist vor Kurzem einmal ausgesprochen worden, dass wir erst jetzt völlig aus dem Mittelalter herauszutreten beginnen; und in der Tat finde ich selbst in meinem Gedächtnisse Szenen und Gestalten, welche nur möglich waren, so lange die abstrakte Lebensauffassung der Jetztzeit den derb sinnlichen Zug des Mittelalters nicht völlig verdrängt hatte.

Mehr als einmal, in den Hochsommern meiner Knabenzeit, habe ich noch den Schinderknecht auf seinen brutalen Streifzügen durch die Gassen wandern sehen, in der einen Hand den Knüppel, um jeden ohne Zeichen laufenden Hund niederzuschlagen, unter dem andern Arm einen schmutzigen Sack mit verreckten Kötern; angstvoll bin ich mit einem Kameraden vor dem wüsten, lahmenden Unhold hergelaufen, um den kleinen Pinscher meines Freundes, der sich aus der aufgedrungenen Haft zu befreien gewusst hatte, wieder einzufangen und vor schmählichem Tode zu bewahren. Und dort aus der Süderstraße – ein freundlicheres, aber auch längst verschwundenes Bild – sah ich den Festzug der zünftigen Lehrjungen herabkommen, durch den die Schalksnarren mit ihrer Peitsche hin und wider sprangen; freilich, an der Spitze des Zuges tanzten Schäfer und Schäferin aus der Rokokozeit, und Allen voran sprang der Läufer mit Blumenschurz und knallender Peitsche.

 

Quellen

Einleitung des Kapitels „Wie den alten Husumern der Henker und der Teufel zu schaffen gemacht“ aus den „Zerstreute(n) Kapitel(n)“. In: LL 4, S. 232.

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Eine Jahrmarktsbude*

Ich hatte mir aus einer alten Zuckerkiste auf unserem Hofe eine Jahrmarktsbude zusammengeklütert und bedurfte nun, als die schwierige Arbeit fertig war, auch der Waren, – Manufakturwaren sollten es sein, – und bei der Größe meiner Bude einer ziemlichen Quantität, die ich darin feil halten wollte. Meine bei uns lebende Großmutter war in ihrer Güte und Heiterkeit zwar zu aller Aushülfe bereit; aber die verschiedenen „Plünnenschiebladen“ waren unter Herrschaft und Verschluss meiner Mutter. Da diese indes an dem betreffenden Vormittag stark in der Haushaltung beschäftigt war, so wagte ich mich nicht recht heran. Endlich überwog die Begier, welche all die in Verschluss gehaltenen bunten Lappen vor meinen Augen auftauchen ließ. Zu meinem Erstaunen wurde ich nicht aufs Warten verwiesen, sondern meine Mutter ließ Alles Andere stehen und liegen und kniete bald im Saal, bald auf dem Hausboden unermüdlich mit mir vor allen Schubladen und Schränken und suchte mir selbst aufs freundlichste einen ganzen Haufen, eine Welt von herrlichen bunten Lappen zusammen; noch seh ich deutlich einen großen hell und dunkel braun gestreiften vor meinen alten Augen.

Es war eine gute Mutter, meine Mutter, aber sie hatte doch gegen die überschwängliche Güte meiner Großmutter (ihrer Mutter) in gewisser Weise Stellung genommen; und daher wurde ich von dieser so augenblicklichen und alles übersteigenden Erfüllung meiner Wünsche ganz betäubt in meinem Kindskopfe. Tagsüber, als ich mit meinem Reichtum in der Bude wirtschaftete, vergaß ich zwar darum; aber als ich Abends oben allein in meinem Kinderbette lag, überkam es mich wieder, diese unerhörte Güte musste eine ganz bestimmte Ursache haben. Was konnte es sein? Und als ich weiter grübelte, hatte ich es endlich gefunden: Meine Mutter wollte mich ermorden! Ein Entsetzen überfiel mich, und als meine Großmutter, wohl um wie sie pflegte noch einmal nach mir zu sehen, in die Stube trat, fand sie mich in Todesangst und Tränen über mein Geschick. Als ich ihr gebeichtet, holte sie auch meine Mutter, und beide Frauen konnten erst nach langer Zeit mich beruhigen.

 

Quellen

Aus dem Brief an Paul Heyse vom 27.3.1883. In: Was der Tag gibt; LL 4, S. 522f.

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Schülerstreiche*

Wir haben seit ungefähr einem Jahre hier einen neuen Kollaborator an der gelehrten Schule und dieser Kerl nun ist ein ganzes Ideal; er ist in den 20; hat braune struppige Haare, eine blasse Gesichtsfarbe, eine große bläuliche schiefe Nase, kleine Augen und was ihn am Ende ganz vollkommen macht, ist sein entsetzlicher Buckel. Dieser Kerl nun hat gar keinen Respekt und wir spielen ihm tüchtig auf die Nase. Man präpariert sich nicht und nimmt auch oft gar kein Buch mit, so dass oft nur 3–4 Bücher in der ganzen Schule sind. Einmal warfen wir ihn mit einem Futjen (Weihnachtskuchen) an den Kopf, ein andermal war in der Klasse ein ganz unmenschlicher Spektakel (der eine trommelt mit den Fingern auf den Tisch, der andre pfeift, der dritte singt „schöner grüner Jungfernkranz“, als ob gar kein Wolf – dies ist sein so sehr auf ihn passender Name – da wäre ...) in der Klasse stattfand, bat er uns, wir möchten doch ein wenig stille sein, so sagte einer ganz treuherzig zu ihm: „Ach Herr Kollaborator, das ist die liebe Jugend!“

„Ja, ja,“ schrie ein andrer ganz über laut ihm zu: „Jugend kennt keine Tugend!“, worauf er denn mit einem gnädigen Lächeln erwiderte; einandermal sagte ihm jemand, dass es dummer Schnack wäre, was er gesagt hätte et. cet.

 

Quellen

Theodor Storm an Fritz Stuhr, Brief vom 9.12.1832. In: Gerd Eversberg: Theodor Storm als Schüler. Mit vier Prosatexten und den Gedichten von 1833 bis 1837 sowie sechs Briefen. Heide 2006, S. 204.

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Husumer Pfingstmarkt*

Unser Jahrmarkt hat im Ganzen genommen keine großen Geschäfte gebracht, wenngleich wohl einer oder der andere seinen Schnitt dabei getan. Verkäufer waren viele, Käufer wenige, Besucher und Besucherinnen an den Haupttagen eine große Menge, hübsche und minder hübsche Frauen und Mädchen drängten sich durch einander, und letztere hauptsächlich, wahrscheinlich meinend, der Jahrmarkt werde ihre heißesten Wünsche, nicht für die Folge allein zu bleiben, sondern vielleicht, was ihnen in gewöhnlicher Lebensweise nicht gelingen kann, nun hier erfüllen, nämlich ein Herz zu erhaschen, oder wenn dies auch nicht, so doch wenigstens eine Hand, – und wenn möglich, auch einen Geldkasten dabei, um recht viele Jahrmärkte und sonstige Vergnügungsorte zu besuchen, – zum Führer durch das Leben. Ob nun manches, einerlei ob hübsches oder nicht hübsches Mädchen hier den Geliebten gefunden, darüber könne wir nicht berichten. Die Vergnügungssucht auf den Jahrmärkten nimmt hauptsächlich sehr bei Dienstboten vom Lande zu, denn kaum ist Hans und Grethe zur Stadt gekommen, so streben sie schon nach den Wirts- und Tanzhäusern, Hans verdummeniert da seine Schillinge und Grethe hat vergessen Nützliches einzukaufen; der Abend und die Nacht rücken heran und ohne die geringsten Einkäufe gemacht zu haben, wird wieder zu Hause gewandert. Die Kunstreitergesellschaft des Herrn Wenzel et Comp. gibt hier gegenwärtig Vorstellungen, und zwar mit allgemeinem Beifall. Als vorzügliche Künstler bei dieser Gesellschaft nennen wir die Herren Wenzel und Devis. Bewundern muss man, wenn man die Kunstleistungen dieser Herren sieht, und erwähnen wir von diesen nur unter andern den Cäsarritt und die grotesken Figuren des Herrn Wenzels , so wie den Pohlnischen Ulanen und den fliegenden Merkur, mit einem Kinde auf den Schultern, des Herrn Devis . Es kann nicht fehlen, da auch mehre andere Mitglieder dieser Gesellschaft recht gut sind, dass diese Künstler allenthalben gute Aufnahme und verdienten Beifall finden. Von hier wird die Gesellschaft dem Vernehmen nach Schleswig besuchen, um dort einige Vorstellungen zu geben, und dann ihre Reise nach Kopenhagen fortsetzen.

 

Quellen

„Husumer Wochenblatt“ Nr. 22 vom Juni 1834, ohne Überschrift, S. 178.

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Husumer Michaelismarkt*

Endlich ist es mit unserm Krammarkt in Ordnung gekommen, ein wildes Treiben hatte sich desselben seit Jahren bemächtigt, kaum wusste man mehr wo er zu suchen sei, besonders war die enge, feuergefährliche und schmutzige Krämerstraße mit Buden und Stellagen bepackt und kaum konnte man vor Buden, Tischen u. s. w. die sogenannte Schiffbrücke passieren, so dass es den Anschein hatte, man werde im kurzen vom Süden her mit Wagen und Pferden während des Marktes nicht mehr zur Stadt kommen können, vom geräumigen Marktplatz hingegen verschwand eine Bude nach der andern, er war einem durchlöcherten Kleide fast zu vergleichen. Unbegreiflich, dass die Polizei so lange darüber hat hinwegsehen können, wenn der Zugang zur Stadt und die Passage in derselben immer mehr gehemmt und gestört ward, noch auffallender aber ist es, dass die Buden so lange in der engen Krämerstraße haben geduldet werden können, da, wenn zufällig zur Marktzeit in einem der Häuser an der Krämerstraße oder in deren Umgebung eine Feuersbrunst ausgebrochen wäre, man mit den Löschanstalten an die Brandstelle nicht würde haben ankommen können, denn die gedachte Straße war fast total gesperrt, – durch das Hinzutreten des fast regelmäßig hieselbst herrschenden Windes hätte in einem solchen Falle ein bedeutender Teil der Stadt das Opfer werden können. Man ist allgemein über die Rückkehr der ehemaligen Ordnung erfreut, Verkäufer und Käufer erkennen die durch die Vereinigung der Marktbuden etc. auf dem grade für dergleichen Gelegenheit bestimmten öffentlichen Marktplatze bewirkten Vorteile und Annehmlichkeiten und hört man nur Äußerungen der Zufriedenheit und Billigung; der der Budenordnung zum Grunde liegende Plan ist mit Bedacht und Umsicht entworfen. Jetzt kann man ohne alles Hindernis und Unbequemlichkeit mit Wagen und Pferden die Schiffbrücke sowohl als die seit wenigstens 20 Jahren gesperrt gewesene Krämerstraße wieder passieren, ohne im Mindesten aufgehalten zu werden, letztere ist begreiflich nun auch für Fußgänger passabel geworden und wogte die Menge förmlich durch dieselbe vom Markte nach dem Hafen und vom Hafen nach dem Markte und der Großstraße, so dass es fast möchten wir behaupten in jener Straße lebhafter als je geworden war. Schade nur, dass das Markt<geschehen> zu wenig durch die Witterung, welche mehrere kalte Tage hervortreten ließ, begünstigt ward.

 

Quellen

„Husumer Wochenblatt“ Nr. 39 vom 28. September 1834, ohne Überschrift, S. 319.

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Etwas über die Süderstapler Marktnacht vom 22. April d. J. (1835)

Schon hatten die rüstigen Treiber die Wege und Plätze des Dorfes von der lebendigen Ware befreit und die Inhaber der Krambuden packten eifrig redend ihre angepriesenen Siebensachen zusammen, als ich mit einigen meiner Freunde das Haus verließ, um den letzten Akt dieses für die Landleute so interessanten Tages mitzumachen. Hie und da produzierten bei den Honoratioren des Dorfes hochfrisierte Harfenspielerinnen ihre ausgesungene Stimme, in allen Kneipen kratzten die Bierfiedler den entzückten Bauern zum Tanze die Ohren voll und der Wirt strich sich selbstgefällig den Bart, wenn er von den jubelnden Gästen das Lob seiner wilden Musik erschallen hörte. Wir gingen sogleich in das erste beste Haus und drängten uns mit in den Schwarm der gaffenden Bauern, welche in gedrängtem Kreise die Tanzenden umstanden, die auf der Diele den wirbelnden Staub wölkten und durch ihre originellen und geräuschvollen Wendungen unsern Ohren und Augen Unterhaltung gewährten, während andre sich zechend und singend in der Schenkstube unterhielten. Im Hintergrunde des Tanzsalons war ein Gerüste für die Musikanten aufgeschlagen, an den Seiten saßen und standen die tanzlustigen Dirnen, vorne befand sich die junge Mannschaft; von einem Balken herab hing der Kronleuchter, der aus zwei kreuzweis über einander befestigten Stöcken bestand, von deren Enden vier nicht gar zu dicke Talglichter ihre Strahlen herabsandten, die der aufmerksame Wirt von Zeit zu Zeit mit den Fingern schneuzte. Nachdem die jungen Bursche eine geraume Zeit schon sich des Jubelns und Springens erfreut hatten, sagte man uns, nun ginge es an’s Weinen, und auf die erbetne Erklärung erhielten wir zu Antwort, es sei da im Dorfe so der Brauch, einmal vom Tanzen abzubrechen und sich mit einer Schönen in ein anstoßendes Zimmer zu verfügen, wo man mit seiner Donna singe, scherze und weine, d. h. Wein trinke. Der Spaß musste mitgemacht werden. Wir zogen demnächst einige handfeste Stapelholmerinnen halb mit Gutem, halb mit Gewalt in das mysteriöse Zimmer, von denen jedoch Einige bei den lockern Stadtleuten für ihren Ruf zu fürchten schienen, Andre aber mit großer Resignation sich in ihr Schicksal ergaben und ruhig unsern Wein und unsre Küsse hinnahmen, ja sogar mit lauter Stimme unsre Gesundheit ausbrachten – und die Bauern schmetterten die Gläser zusammen und reichten uns die Hände. – „Nichts für ungut, mein Herr“, raunte meinem Freunde der Aufwärter ins Ohr, „sie küssen hier die Mädchen und lassen sie mit trockenem Munde sitzen!“ ...

Hast Recht, Peter, 2 Bouteillen Wein! – und mein Freund hatte keine Störung weiter zu befürchten.

Wir gingen wieder auf die Diele hinaus. Wer einmal geweint hatte, genierte sich nun auch nicht, vor hunderten von Zuschauern sein Mädchen zu herzen, und so wurde denn getanzt und geküsst bis 4 Uhr und dann ein Punktum gesetzt, um am andern Morgen die Fortsetzung zu liefern. Übrigens lassen die Musikanten sich ihr Spiel nur am Hauptmarkttage bezahlen, am Tage vor und nach diesem hat man den Tanz gratis.

Unter den Mädchen, die das Fest verschönten, sah man nur sehr wenige, die eigentlich für hübsch hätten gelten können, doch auch fast kein hässliches Gesicht. Die Männer schienen mir sehr friedfertig; es wurden die ganze Nacht hindurch keine Streitreden gehört und man möchte wohl in Zweifel sein, ob man den Grund davon in den schlechten Zeiten und in der Kraft- und Mutlosigkeit der Menschen, oder in den verfeinerten Sitten unseres Zeitalters suchen solle, oder ob eben die vorgerückte Kultur die Sitten zwar verfeinere, dadurch aber die moralische und physische Kraft des Menschen zu Boden drücke. – Unsern Vorfahren galt kein Fest etwas, wobei es nicht wenigstens derbe Schläge, ja sogar Mord und Todschlag gesetzt hatte, weshalb sie auch immer bei solchen Gelegenheiten ihr Totenzeug mit sich zu führen pflegten, um im Fall der Not nicht ungeschmückt ins Grab zu sinken.

 

Quellen

„Ditmarser und Eiderstedter Bote“ Nr. 18 vom 30.4. 1835, Sp. 284f. mit dem Kürzel „St…“.

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Aus der Jugendzeit

Zu meinem siebenzigsten Geburtstage wurde mir von meinem Verleger, Herrn Elwin Paetel, auf kunstreichem Blumenkissen ein Gedenkbuch überreicht, das als Titel meinen Namen trug, darunter: „Sein Leben und seine Dichtung von Dr. Paul Schütze“. Der Verfasser, mein junger Freund, konnte nicht dabei sein; ein Blutsturz hatte ihn wenige Tage vorher aufs Krankenbett geworfen, und zwei Tage nach meinem Feste starb er an einer Wiederholung dieses Übels. Ein tiefer Schatten ist über den frohen Tag gefallen, und die Hoffnungen, die wir an dies zu früh geschlossene Leben knüpften, sind erloschen; sein liebenswürdiges Buch aber, das er uns gelassen, hat – wenigstens unter den Meinigen – schon jetzt seine Freunde gefunden; nur gegen den Titel erhob mein, den Jahren nach, ältester Freund einen bescheidenen Protest : „Th. St. in seiner Dichtung“, schrieb er mir, „hätte es heißen müssen; denn von Deinem Leben hätte ich daraus doch gern mehr erfahren.“

Dieses Wort ist für mich Veranlassung geworden, die bereite seit einigen Jahren von mir begonnenen Aufzeichnungen über meine Jugendzeit wieder aufzunehmen, von denen ich den ersten Teil hier folgen lasse; denn meinem Freunde wie mir dürfte das Ziel nicht mehr zu ferne stehn.

 

Von Mutters Seite

Im siebzehnten Jahrhundert kam auf einem Halligenschiff Einer ans Festland nach der Stadt Husum an der Westküste Schleswigs geschwommen; der hieß Wold. Er wurde später herzoglicher Verwalter auf dem 1 ¼ Meile von der Stadt im gleichnamigen Amte belegenen, im Jahre 1772 jedoch parzellierten adeligen Gute Arlewatt und der Stammvater der Familie Woldsen, welche noch bis über die Hälfte unseres Jahrhunderts hinaus in Hamburg, Amsterdam, sowie in Husum selbst geblüht hat.

Der Bedeutendste dieses Geschlechtes war mein Urgroßvater mütterlicherseits, Senator Friedrich Woldsen in Husum, der vor meiner Geburt verstorben ist; der letzte große Kaufherr, den die Stadt gehabt hat, der seine Schiffe in See hatte und zu Weihnachten einen Marschochsen für die Armen schlachten ließ. Unter den Miniatur-Familienbildern, die in silbervergoldeten Medaillons jetzt an meiner Wand hängen, sieht auch sein Antlitz unter gepudertem Haar, mit dem strengen Zug um den Mund noch heute auf den Urenkel; aber auch die freundlichen blauen Augen, die ihm von Großmutter und Mutter zugeschrieben wurden, glaubt dieser in dem Bildchen zu erkennen.

Aus dem daneben hängenden Medaillon schaut das Antlitz der Urgroßmutter unter dem halbmondförmigem hohen Spitzengewebe ruhig und ernst in die Welt hinaus; das kluge jugendliche Köpfchen aber in dem amarantfarbenen Mieder, mit dem roten Röschen auf der mäßig hohen Puderfrisur, das seinen Platz über dem Medaillon des Urgroßvaters hat, ist dessen und der Urgroßmutter Tochter, Mamsell Fritzchen, die gern dem Vater in seinen kaufmännischen Rechnungen half, deren Liebe zu dem braven Major aber an dessen hartem Willen sich verbluten musste. Zwei ihrer Liebeslocken, weiß gepudert wie das Haupthaar, hängen ihr vom Nacken aus je zu einer Seite um den Hals; an einer einfachen dunklen Litze liegt ein schwarzes Medaillon auf ihrer Brust. Ich hatte, schon als Knabe, es oft auf ihrem Bilde angeschaut: was mochte wohl darin enthalten sein? Mir ahnte damals nicht, dass ich als Mann vielleicht der Einzige sein würde, der außer ihr selbst es jemals würde geöffnet haben. Und doch – es mag gegen das Jahr 1848 gewesen sein, als unsere von dem genannten Urgroßvater einst auf dem Klosterkirchhof für sich und seine, Friedrich Woldsens Erben erbaute Gruft einer Reparatur bedurfte, und die Maurer mit diesem Werk unter den Särgen, welche auf eisernen Stangen in der Tiefe standen, beschäftigt waren. Da < , > eines sonnigen Nachmittags, während ich mit meiner Mutter in dem Wohnzimmer des elterlichen Hauses am behaglichen Teetisch saß, wurde an der Tür gepocht und auf unser „Herein!“ trat ein Maurergesell ins Zimmer und überreichte uns ein kleines Medaillon, das, wie er berichtete, bei der Arbeit in der Gruft in einem eingestürzten Sarge gefunden war. Durch näheres Befragen wusste meine Mutter, dass der eingestürzte Sarg der Tante Fritzchens sei; ich sah nach ihrem Bilde hinüber, das damals mit den anderen dort über dem Sofa hing, und auf dem das dunkle Medaillon sich deutlich abzeichnete. „Hier ist es“; sagte ich zu meiner Mutter; „sie hat es mit ins Grab genommen.“ Als ich es dann öffnete, lag eine dunkle Haarlocke darin; von wem, darüber waren wir nicht zweifelhaft. „Lass es in die Gruft zurückbringen!“ sagte meine Mutter; und so geschah es, nachdem ich die Kapsel wiederum geschlossen hatte.

Nach dieser posthumen und doch fast persönlichen Berührung mit meiner jungen, längst vor meiner Geburt gestorbenen Großtante schrieb ich bald nachher, während meines unfreiwilligen Exils in Potsdam ihr mein Erinnerungsblatt „Im Sonnenschein“.

Noch ein Medaillon ist zurück: der stattliche Mann mit dem liebenswürdigen jungen Antlitz im braunen aufschlaglosen Rock, mit weißem Halstuch und weißgepudertem Haar, eine Lockenrolle an jeder Schläfenseite – es ist ein Sohn meines Urgroßvaters, mein Großvater mütterlicherseits, der nachherige Senator Simon Woldsen in Husum, von dem – wie ich schon irgendwo erzählt habe – als er gestorben war, einer seiner Schwiegersöhne, sein weinendes Kind zum Sarge emporhebend, sagte: „Heule nicht, Junge! So sieht ein braver Mann aus, wenn er gestorben ist!“ – über dessen mit schwarzem Tuch bezogenem Sarg, da wir uns einst bei einem Familienbegräbnisse unten in der Gruft befanden, der alte Totengräber, welcher in der Jugend sein Kutscher gewesen war, liebkosend mit der rauen Hand hinstrich und dabei sagte: „Dat is min ol Herr; dat weer een guden Mann!“ – von dem einst seine jüngste Tochter, meine Mutter, inmitten ihrer Familie, von heftiger Erinnerung ergriffen ausrief: „So wie du hat Keiner mich doch geliebt !“

Ich weiß nur diese Nachreden auf ihn; ein eigenes lebendiges Wort von ihm selbst ist nicht auf mich gekommen. Wenn ich das liebe Antlitz auf dem schon verblassten Bilde ansehe, so ist mir, als würde er auch wohl mich gleich meiner Mutter geliebt haben; aber schon in meinem vierten Jahre starb er.

Er hatte mit seiner Frau, Magdalene, Tochter des Senator Feddersen in Husum, vier Söhne, die sämtlich in früher Jugend hingerafft wurden; ich entsinne mich nur noch aus meiner Knabenzeit, wie von alten Dienstboten, vielleicht von der Großmutter selbst mir von ihrem herrlichen Fuhrwerk mit zwei schneeweißen Ziegenböcken erzählt wurde, mit denen sie lustig durch die Straßen kutschiert wären; aber auch, wie diese unregiersamen Haustiere mitunter in die an der Schiffbrücke vor den Wohnkellern zum Verkauf ausgestellte Töpferware geraten seien und dem nachsichtigen Vater wiederholte Entschädigungspflichten auferlegt hätten. – Ich selber hatte die kleinen frohen Herrn nicht mehr sehen können; nur einer Szene noch – wiederum unten in unserer Gruft – entsinne ich mich: nach einem Begräbnisse in der Familie war ich allein mit meiner fast achtzigjährigen Großmutter hier hinabgestiegen; ich suchte zwischen all den großen Särgen den kleinen einer früh verstorbenen, geliebten Schwester, da hörte ich hinter mir ein auffallendes Geräusch, und als ich mich wandte, sah ich, wie die Großmutter einen kleinen Schädel aus einem zertrümmerten Sarge hob und ihn weinend an ihre Lippen drückte: „Das war mein kleiner Simon!“ sagte sie zitternd, während sie sacht den Schädel wieder in die halbvergangene Kiste legte.

Glücklicher gestaltete sich das Leben der Töchter in diesem großväterlichen Hause: drei Mädchen, Magdalene, Elsabe und Lucie, blühten in besondrer Anmut darin auf, noch mitunter als Mann von alten Leuten ihre Schönheit preisen hörte; und der Großvater, trotz frühen Todes, hat sie alle noch als Bräute, die älteste und die jüngste auch noch als Frauen in ihrer eignen Wirtschaft sehen dürfen. – Die Jüngste, Lucie, die anmutigste von ihnen, mit ihrem braunen Haar und dunkelgrauen Augen, wurde meine junge Mutter. Eine Zeit lang vor ihrer Konfirmation war sie in Altona in Erziehung und liebevoller Pflege ihrer Patin und Vaterschwester, welche früher an den dortigen Kaufmann Matthiessen, derzeit an einen Kanzleirat Alsen verheiratet war. Aus dieser Zeit besitze ich ein französisches Themen–Buch von ihr, auf dessen Einbanddeckel, jedenfalls von Schulkameradinnen, in zwei verschiedenen Handschriften teils mit Bleistift, teils mit Dinte die Worte geschrieben sind: „Zartgefühl, Sanftmut, Liebreiz sind die Tugenden Luciens.“ Erst nach ihrem Tode ist das Buch in meine Hand gekommen. Aber auch Eduard Mörike, da ich mit ihm und meinen Eltern im Sommer 1855 in den Stuttgarter Umgebungen spazieren ging, riss mich gelegentlich beiseite und flüsterte mir zu: „Sie habe prächtige, prächtige Eltern; Ihre Frau Mutter hat so etwas Klares, Leuchtendes, Liebe erweckendes!“ Und, um noch Eins zu sagen, was mich derzeit besonders stolz machte, ein Jugendbekannter, der einst aus der Fremde heimkehrte, erzählte mir von schönen Frauen, die er draußen in der Welt gesehen hatte, und schloss damit: „Aber die schönsten Augen, die ich je in meinem Leben sah, die hat doch deine Mutter!“

Seit acht Jahren sind auch sie geschlossen und zerfallen.

 

Im ersten Dezennium unseres Jahrhunderts kam auf die Gelehrtenschule zu Husum, derzeit unter dem Rektorate des später als Professor und Oberkirchenrat zu Kiel in hohem Alter verstorbenen Franke, der 1837 mich als studiosis juris immatrikulierte, ein Junge aus dem kleinen Dorfe Westermühlen im Kirchspiel Hohn, der im Dohnenstellern für die Krammetsvögel und überhaupt im Vogelfangen in seinen heimatlichen Wäldern ein Meister war; er hieß Johann Casimir Storm. Sein Vater war der Erbpachts- und Eigentums-Müller Hans Storm, seine Mutter die Tochter des Pastors Johann Casimir Claus (genannt: Claussen) zu Hohn.

Die Herkunft dieses meines väterlich-mütterlichen Großvaters deckt ein gewisses Dunkel; gegen seine Nachkommen scheint er sich darüber nicht geäußert zu haben. Erst jetzt habe ich in dem alten schleswigholsteinischen Schriftstellerlexikon von Cordes über ihn gefunden: „Pastir zu Hohn, Amts Hütten seit 1754, geb. zu Moringen <im> Hannöverschen 1728.“ Unter seinen wenigen Schriften, die bei Gelegenheit seines Jubiläums erschienenen Sammlung einverleibt waren, ist auch eines „Glückwunsches an A. Struensee“, später Generalsuperintendent der Herzogtümer Schleswig und Holstein und Vater des unglücklichen dänischen und des Preußischen Staatsministers, erwähnt. In den Schleswig–Holsteinischen Provinzialberichten pro 1797 wird dann Pastor Claus (richtiger: Claussen) zu Hohn als am 25. August 1796 verstorben aufgeführt.

Anders war über ihn die Sage in der Familie; er sollte ein geflüchteter Pole gewesen sein, und das Indigenat hier durch sein Examen erworben haben; auch die Erzählung seines genannten Enkels, dass er ihn manchmal von Westermühlen aus besucht habe und dass sie Vormittags mit einander aufs Frosch-Schlagen ausgegangen seien, deren Schenkel ihnen dann die Großmutter für die Abendmahlzeit habe bereiten müssen; ingleichen dass einmal zwei polnische Offiziere auf Besuch gekommen, die sich durch erstaunliches Trinken ausgezeichnet hätten und die man für seine Brüder , gehalten habe, schien mir jene mündliche Tradition zu bestätigen. Das Wahre mag sein, dass man die polnische Herkunft eine Generation höher hinauf zu suchen hat.

 

Westermühlen

Bei diesem Worte steigt ein ganzes Wald- und Mühlen-Idyll in mir auf; das kleine in Busch und Baum begrabene Dorf war die Geburts- und Heimstätte meines Vaters; hier lebten und wirtschafteten in meinen ersten Lebensjahren noch die beiden Eltern meines Vaters.

Fünf Meilen etwa durch meist kahle Gegend führte aus meiner Vaterstadt der Weg dahin; dann aber ist mir, als habe plötzlich warmer Baumschatten mich umfangen, ein paar niedrige Strohdächer sahen seitwärts aus dem Laub heraus, zur Linken hörte ich das Rauschen und Klappern einer Wassermühle und der Wagen, auf dem ich saß, fuhr über knirschenden Kies in eine dämmerige Tiefe. Wasser spritzte an den Rädern: wir fuhren durch ein kleines Gewässer, in dessen dunkle Flut Erlen und größere Waldbäume ihre Zweige von beiden höheren Ufern herabsenkten Aber schon nach kaum hundert Schritten ging es wieder aufwärts, dann links herum und auf einem freien Platze und auf festem Boden rasselte der Wagen vor das zur Rechten liegende Müllerhaus, und mir ist noch als sähe ich als etwa zweijähriges Bürschlein wie Schattengestalten meine Großeltern, den klugen strengen Großvater und die kleine runde Großmutter<,> aus der etwas höher belegenen und von zwei Seitenbänken flankierten Haustür uns entgegentreten, die wie die zu beiden Seiten gelegenen hohen Fenster des langgestreckten schwarzen Hauses von den Kronen der davorstehenden Linden umdunkelt war. Es ist das einzige Mal, dass ich die Eltern meines Vaters mit kaum bewussten Augen sah; es ist lange her, fast 70 Jahre.

Von dem durch Lindengrün umdüsterten Hause sah man über den davorliegenden freien Platz, von der linken Seite beginnend, zunächst auf einen Baum- und Obstgarten, welcher sich nach dem so eben von uns durchfahrenen schwarzen Wasser hinabsenkte, – daran schlossen sich in gleicher Linie Ställe und Wirtschaftsgebäude; dann das alte schütternde Fachwerk-Gebäu der Wassermühle und hinter dieser eine Holzbrücke, unter welcher der Mühlstrom sich hindurch und rauschend in die Speichen des großen Rades stürzte; aber Obstgarten, Stallungen, Mühle und Brücke, alles – wenn meine Erinnerung mich nicht trügt – lag unter den Wipfeln ungeheurer Eichbäume, wie ich sie nie zuvor zu Haus gesehen hatte.

Hinter dem Wohnhause war ein großer Garten, voll von Obstbäumen, Zentifolien und Lavendel; er hatte seine größte Breite nach rechts vom Hause aus; der von dort her durch Wiesen kommende Mühlstrom bildete in breiterer Ausdehnung hier seine Grenze; in der äußersten Ecke des Gartens, der auch dort noch einige Schritte über die Linie des Hauses hinausragte, stand ich eines Tages verwundert vor einem mit hohem Buchen–Zaune abgegrenztem viereckigen Raume; hinübergucken konnte ich nicht; aber während ich stand, kam ein stetes melodisches Summen aus dem Innern. Ich hatte dergleichen nie gesehen und schlich neugierig an den Seiten herum, bis ich eine im Zaun halb versteckte schmale Brettertür fand, über welcher ich mit meinem Kopfe mir bald freie Einschau in den innern Raum verschaffte; denn hineindringen konnte ich nicht; sie war verschlossen. Eine Reihe von Bienenkörben stand auf zwei Seiten neben- und übereinander auf hölzernen Gestellen; eine Drahtmaske, ein Sack lagen daneben im Grase; das tönende Geziefer summte an allen Körben. Das war ein „Immenhof“, wie ich späterhin erfuhr, wie man sie dort zum Schutz der Bienen anpflanzte. Ich habe während meiner Knabenzeit diese Plätze, auch später an der Hand meines Onkels oder eines älteren Vetters, stets mit einem Gefühl von Andacht betreten, als näherte ich mich einem lieblichen Naturgeheimnis.

Treten wir über die paar steinernen Treppenstufen an der Frontseite in das Wohnhaus! Auf dem geräumigen Flur. an den Seiten unter zweien Fenstern befinden sich große Kisten mit abgeschrägtem Klappdeckel; sie bergen das dem Müller von dem vermahlenen Korne zukommende Mehl, von dem im Hause verkauft wird; eine große Treppe führt nach dem Boden hinauf; links und rechts nach vorn hinaus zwei geräumige Zimmer; das zur Linken das Wohnzimmer, in einer Ecke zwei Flügeltüren mit Glasscheiben, die zu einem Alkoven führten, dem Schlafraume des alten Ehepaares. Eine Tür in derselben Wand ging in die gleichfalls große nach dem Garten hinausgehende Küche, wo ich später oftmals staunend neben dem alten Herde stand und staunend zusah, wie Möddersch Maricken den in der Pfanne prasselnden Pfannkuchen plötzlich in die Höhe schleuderte, wie er in der Luft sich wandte und dann jedes Mal genau mit der noch ungebackenen Seite wieder in die Pfanne klatschte. Ich höre noch das Lachen der Genugtuung, wenn ich der Alten meine Bewunderung über dies Kunststück aussprach; und der nächste Pfannkuchen pflegte dann meist noch um einen Fuß höher zu fliegen.

Während es in der Wohnstube an den Wänden und, wohin man blickte<,> düster und verbraucht aussah, trat man links vom Flur aus in ein großes helles Gemach mit untadelhaft geweißten Wänden, ein großes Fenster nach einem freien Seitenraum des Gartens gab das Licht, was die Linden den Fenstern an der Frontseite verwehrten. Unzweifelhaft wurden meine Eltern bei ihrem ersten Besuche als junge Leute hier mit mir hineingeführt; ein altmodisches Kanapee, das aus drei zusammengewachsenen Stühlen zu bestehen schien, und ein weißes Teegeschirr mit roten Blumen bemalt, das auf einem Tischchen an der Wand stand, wurden schon damals oder später genau von mir in Acht genommen.

Von vorstehenden Beobachtungen habe ich gewiss nur wenige in meinem damaligen zweiten Jahre gemacht; aber ich bin später, in den Michaelisferien, oft dahin auf Einladung meines Onkels Hans, der dann als ältester Sohn der Müller war, zurückgekehrt.

Bei jenem ersten Besuche waren um die Großeltern außer jenem ältesten, gescheuten und liebenswürdigen Bruder meines Vaters, der mit ihm ein durchgeistetes Antlitz gemein hatte, noch die jüngste, derzeit recht junge, Schwester, meine geliebte Tante Lene mit ihrem stillen Madonnengesichte, und die nicht hübsche aber kluge und energische Tante Gretchen, die später den Bauervogt Hans Carstens in dem damals gleichfalls zu Hohn eingepfarrten Dorfe Hamdorf heiratete. Mein Vater, der Jurist, hielt diese Schwester Zeit Lebens in besondrer Achtung; ihr ganzes Wesen war von beruhigender Sicherheit. Sie hatte aber auch schon in ihrer Jugend über ihm gewacht; wie oft hat mein Vater, wenn er, wie so oft, auf seine Jugend kam, es uns erzählt! In Westermühlen war keine Schule; die Kinder mussten etwa eine halbe Meile weit nach dem benachbarten Elsdorf gehen. Besonders im Winter scharten sie sich dann an einem bestimmten Platze ihres Heimatdorfes und traten gemeinsam ihren Schulweg an.

Zu Mittag blieben die Westermühlener in Elsdorf, ein Stück Butterbrot wurde aus der Tasche gezogen und in Gesundheit verzehrt. „Was bekamt ihr dann zu trinken? Milch oder Bier?“ frug ich meinen Vater. Er lachte: „Ein großer kupferner Kessel mit frischem Brunnenwasser wurde zwischen uns auf den Tisch gestellt, da konnte jeder so viel trinken, als er Lust hatte.“

Der Lehrer war ein alter Soldat gewesen; trotzdem meinte mein Vater noch in seinem hohen Alter, er habe seine Sache wohl verstanden, und erzählte gern, wie er am Weihnachtabend herkömmlicher Gast in seinem elterlichen Hause gewesen, und wie gern er dann den Gesprächen zwischen ihm und seinem Vater gelauscht habe.

 

In der Mitternachtsstunde zwischen dem 14. und 15. September 1817 war ein stark Gewitter über Husum, trotzdem lag irgendwo in der Gasse auf irgendeines Bürgers Kellerluke der junge Advokat Joh. Casimir Storm in einer Angst, mit der er nicht sich zu helfen wusste; denn sein schönes junges Weib lag daheim in Geburtsschmerzen von jeder Art hülfreichen Händen umgeben, die er durch die seinen zu vermehren nicht im Stande war. Von den verschiedenen Arten Mutes besaß er diesen nicht. Das war meine Geburtsstunde. Das Kirchenbuch und meine Mutter streiten sich, ob sie in den 14. oder l5. des Monats gefallen sei; meine Mutter behauptete – sie müsse es doch am besten wissen energisch den vierzehnten; und ich glaube ihr mehr als dem alten Propsten, der in seinen Konfirmationsstunden die Bescheidenheit dadurch illustrierte, dass man bei Kaffeevisiten nicht das sechste Stück Zucker in seine Tasse tue.

Wann oder wie das „Ich“ in mir zum Bewusstsein kam, darüber weiß ich so wenig als Andre zu berichten. Meine erste Erinnerung mag sein, die mir dann und wann noch wie ein dunkles Bild aufsteigt, dass ich einmal Nachts mit meinem Vater in einem Himmelbett geschlafen, dass er mich – was sonst nicht in seiner Art lag – dabei zärtlich umarmt, dass ich mich aber vor der Bettquaste über mir gefürchtet habe; es war das erste Mal, dass mich das Grauen berührte; das Bett stand in dem schönen hohen, mit Stuckwänden und solcher Decke versehenen Saal, dessen zwei große Fenster nach dem Garten hinaus gingen; und zwar an der rechten Seite. Es müsste etwa bei oder nach der Geburt der um 2 ¼ Jahre jüngeren, vor über einem Menschenleben schon verstorbenen Schwester gewesen sein. Aber weder Vater noch Mutter haben es mir, wenn ich darum frug, später zu bestätigen vermocht. Doch was ist es denn gewesen? – Bestimmt aber sehe ich mich in der Wochenstube an einem Tischchen dem Bette meiner Mutter gegenübersitzen und eine Hagebutten-Suppe mit den Früchten auslöffeln, welche ihr von der Urgroßmutter, der Senatorin Feddersen, geschickt war; ich weiß, dass derselbe Tisch jetzt Nachts vor meinem Bette steht.

 

Auch die stattliche Gestalt meines mütterlichen Großvaters, den ich im 3. Jahre schon verlor, tritt mir in dieser Zeit entgegen, und zwar entsinne ich mich seiner nur aus unserem, nicht aus dessen eigenem Hause das der Urgroßvater Friedrich Woldsen ihm gebaut hatte, während er in Deutschland und Frankreich auf der „großen Tour“ war.

Als er damals in unser Haus kam, war ich mit meinen Vater beim Obstpflücken in dem Garten; die Magd rief uns herein, der Herr Senator wäre da. Der Großvater war in einem lichtgrauen Anzug, und während er mit meinem Vater sprach, ließ er mich zwischen seinen Beinen durchlaufen; einmal – ob damals? – hatte er mir eine Schäferei in Bleifiguren mitgebracht; den braunen Hund mit rotem Halsband habe ich als junger Student noch besessen.

Dann starb er plötzlich in Folge eines alten Bruchschadens; und meine Eltern verkauften ihr Haus und wir zogen zu der Großmutter in das viel stattlichere, zu dem auch mehrere Fabrikgebäude, welche bald leer standen, und zwei nach der Großstraße hinausgehende Häuser gehörten; in dem einen hatte der frühere Meister von des Verstorbenen Zuckerfabrik sich einen kleinen Handel eingerichtet und führte mit einer halb tollen Magd seine Wirtschaft, in dem andren hatte ein Verwandter, der Onkel Erich aus „Unterm Tannenbaum“, die Böden für seinen Kornhandel in Beschlag genommen; zwischen diesen Baulichkeiten lag der Garten mit Ober– und Untergarten in letzterem, an das Wohnhaus gelehnt, das „Lusthaus“. Noch sehe ich mich an der Hand meines bis zu ihrem Tode geliebten Kindermädchens, der Schwester von „Lena Wies“, von dem verlassenen nach dem neuen Hause wandeln, ein buntes gipsenes Kruzifix in den andern Arm gepresst, das man mir kurz zuvor von einem Italiener gekauft hatte wie sie damals alljährlich durch die Straßen ihre Puppen ausriefen.

 

Mein Vater hatte einen lustigen Schreiber – Thomsen hieß er – der mir einmal einen argen Schreck einjagte: „Komm geschwind nach dem Hof“, rief er „deine kleine Schwester Helene hängt an der Zeugleine!“ Als ich aber hinaus lief war es nur ihr ausgestopfter „Hanssupp“ jenes jetzt vergessene Kinderwaschkleid, worin der ganze Körper bis auf Kopf und Hände verschwand; und wodurch ein alter seltsamer General in Kiel seine junge Frau verloren haben soll; denn als er ihr in diesem Habit in der Brautnacht entgegentrat, verfiel sie in so unauslöschliches Gelächter, dass ein Herzschlag ihrem Leben ein Ende machte. Jetzt aber, da der begreifliche Schauder vor dem Anbeginn des langen Schulleiden<s> mich befiel, kam Thomsen wieder und gab mir einen heimlichen Rat: „Schrei nur tüchtig“, sagte er, „wenn sie dich zur Schule bringen wollen dann müssen sie dich wieder mit nach Hause nehmen.“

 

Mit 4 Jahren kam ich in eine Klippschule, welche von einer alten Hamburger Dame gehalten wurde. Ein widriges Geschick hatte sie zur Kinderlehrerin gemacht. Da ich große Abneigung dagegen empfand, wurde mir von einem Schreiber meines Vaters gesagt ich sollte nur tüchtig schreien, wenn sie mich hinbringen wollten. Ich schrie denn auch nach Möglichkeit von unserm Hause den ganzen Weg bis in die Süderstraße und hinein in die Schulstube. „Pfui“, sagte die alte Hamburger Dame, „Schrei nicht so. Das tun ja die Ochs und Eslein in dem Stalle.“

Sie wurde von allen Kindern Mutter Amberg genannt. So wollte sie es; und sie war eine mächtige schwerwandelnde Frau mit energischer Sprache und mit einer blauen Warze unter dem einen Auge; aber trotzdem wollte ich es nicht und habe sie während der mehreren Jahre meines dortigen Schulbesuchs stets nur Madame Amberg genannt. Des ungeachtet wurde ich ihr erklärter Liebling, und habe niemals einen Schlag von ihr erhalten. In einer Ecke der Schulstube lagen die gefürchteten Schimpfhüte; ein Bogen Pappe war einfach halb geknickt und auf der einen Seite ein großer Eselskopf skizziert; so war es ein Schimpfhut und der Sünder musste damit entweder in der Ecke der Schulstube oder war die Würde der Schule zu sehr beleidigt, sogar draußen vor der Straßentüre stehen. Auch solches ist mir niemals widerfahren. Das war der Beginn meiner literarischen Bildung.

 

Wenn ich in der Sommerzeit die Schlüssel erhalten hatte, wanderte ich den kleinen Weg hinaus, grad' auf vom urgroßväterlichen Hause. Ich erschloss die Außentür, ich ging durch den kleinen mit holländischen Klinkern gepflasterten hallenden Gang, nach dem große geschlossene Doppeltore hinauslagen; dann schloss ich auch die Hintertür auf, stieg ein Trepplein, über dem sich der mächtige Zitronen–Birnbaum wölbte, hinunter und war nun in dem einsamen Garten, der im Rücken den eben durchwanderten Speicher, zur Linken, eine blinde Hausmauer und eine sehr hohe mit köstlichen Augustapfel-Spalierbäumen besetzte hohe Planke und zur Rechten das Gleiche hatte. Vor mir, wie schon das Glucksen des Wassers bekundete, trennte ihn nur ein breiter Ligusterzaun mit dahinter stehendem Staket, von dem als Fortsetzung des Hafens tief unten fließenden Austrom. Aber in der Ecke rechts war ein Lusthaus mit kleinem Umgang darüber hinausgebaut, dessen Läden freilich alle dicht waren; aber auch dazu hatte ich den Schlüssel; und mein Erstes war es, die Türe aufzuschließen und die Läden zu öffnen. Dann wurde freilich nichts als die mit Binsenrohr beflochtenen Gartenstühle und ein Tischchen sichtbar und in die dumpfe Luft da drinnen drang der helle Sonnenschein; aber in einer Rabatte vor dem Häuschen stand der größte Geißblattstrauch, den ich noch gesehen und viele Hundert Blüten waren darauf und verbreiteten ihren würzigen Duft und viele Bienen und Fliegen und Wespen und Schmetterlinge summten und surrten darauf herum und sogen an den Blüten. Da setzte ich mich denn auf die Holzstufen zu dem kleinen Lusthaus, und sah träumerisch dem fremden Leben zu. Es war das eigentlich der kaum bewusste Zweck.

 

Mein Vater war Advokat und Notar, und wegen seiner Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit sowie wegen der Bescheidenheit, womit er seine Anfodrungen für die Bemühungen seines Berufes stellte<,> im ganzen Lande geachtet. „De Ole“ verdarvt uns de Priis“, sagte ein jovialer Anwalt der Nachbarstadt. So häufte sich dann allmählich mehr auf seine Schultern: er war von Beginn derselben an Mitglied der beratenden Stände für das Herzogtum Schleswig; und in den ersten Jahren, wo solches aus der Mitte der Ständemitglieder besorgt wurde, Sekretär derselben Versammlung, bei welcher Arbeit – es waren ihrer zwei – junge Juristen ihnen zur Hülfe gingen; er wurde königlich bestallter Administrator der Fürstlich Reußischen Güter in den Herzogtümern, Güter und Marsch-Köge, auf deren Einnahmen von dem verschuldeten Fürsten zu Gunsten der Gläubiger verzichtet war; er wurde Koogsschreiber und Syndisus, d. h. Kommunalverwaltungsbeamter für die Südermarsch, einen lediglich aus getrennten Weiden bestehenden unmittelbar bei Husum belegenen Marschkoog; nach der verderblichen Flut von 1825, bei der viel Gut und Menschenleben zu Grunde ging, wurde er der vom König ernannten obergerichtlichen (Administration und Justiz waren derzeit noch ungetrennt) Kommission als Mitglied beigegeben, welche die Schäden auf den Nordsee–Inseln und Halligen untersuchen und feststellen sollte.

Hiedurch und durch manche andren Gelegenheiten kam viel Leben in mein elterliches Haus; so als die holländischen Ingenieure, Gebrüder Beyring, nach Husum kamen, um den von dem Deichinspektor Petersen projektierten Dockkoog zu begutachten, oder wenn der Prinz Friedrich von Augustenburg als Chef des Dragoner-Regiments die bei uns liegende Eskadron revidierte, wo er bei uns Quartier zu nehmen pflegte oder sonstwie.

 

Beamte

Von der damaligen Beamtenherrlichkeit unter der absoluten Souveränität unseres königlichen Herzogs, der für uns freilich nur „der König“ war, wird ein Spätergeborener sich schwer einen Begriff machen können.

Der regierenden Beamten waren drei; zunächst der Amtmann, während des größten Teils meiner Jugend ein Kammerherr v. Krogh, ein unstudierter Mann von gesundem Menschenverstande und gutem, wenn es sich sagen ließe, oft unbewusstem Humor. Wenn in den hohen bespornten Stiefeln die stattliche Gestalt dröhnend durch die langen Korridore seiner Amtswohnung, des alten herzoglichen Schlosses, schritt, so klang daraus das volle Bewusstsein eines Oberbeamten über das Amt Husum und Bredstedts und eines Oberstallers über die Landschaft Eiderstedt. Er war ein tüchtiger und von dieser Eigenschaft vollkommen überzeugter Mann, etwas schwerhörig, dabei mit einem überlegenen Lächeln und die Namen der ihm nicht nahe und nicht höher stehender Personen gern, als sei das seine Sache nicht, dergleichen zu behalten, mit irgendeiner Verdrehung handhabend; dabei im Amt, wie im Hause ein wohlwollender Mann. Auf Reisen und wenn er im L'Hombre verloren hatte zahlte sein Bedienter, der dann die Kasse führte. Er wurde früh verwitwet, hatte aber eine Reihe Kinder, mit denen zum Teil ich meine Jugend verlebte.

Gerichtsdirektor und Polizeimeister des Amtes Husum, d. h. des Landdistriktes, war der Landvogt; unter meinen drei Vorgängern vor 1848 – denn ich selbst war der letzte Landvogt des Amtes Husum – war nicht einer, der nicht wie ein grimmer Löwe und, nach Kaiser Karls hochnotpeinlicher Gerichtsordnung, mit gekreuzten Beinen an seinem Richterthron gesessen hätte, so dass auch noch auf dem nach 1850 von den Dänen eingesetzten ehrenhaften aber beschränkten Mann ein Fetzen davon hängen geblieben war. Die Gerichtsbarkeit war freilich eine weite, denn in Kriminalsachen konnte der Landvogt auf Todesstrafe erkennen.

 

Der Bürgermeister Lüders

Wie von der Stadt aus der Landvogt den Landdistrikt, so regierte in der Stadt der Bürgermeister diese, damals ein hagerer schwindsüchtiger Mann mit blassem Antlitz und dunklem Haar; er ging, soweit ich's weiß niemals im Freien ohne ein rot- und gelbseidenes Schnupftuch als Cachenez. Noch sehe ich ihn bei meinem Vater sitzend, im blauen Tuchrock, seinen Bambus zwischen den Knien, das Kinn in das rote gelbgeblümte Übertuch versunken, das bei dem flüchtigen Besuche nicht abgenommen wurde. Er galt für einen Tyrannen und litt wohl wenig Widerspruch; aber er kannte nicht nur seine Stadt, er dachte auch für sie, und wenn bei Todesfällen die Verhältnisse in Verwirrung oder schwierig waren, dann ließ er den ältesten Sohn des Toten, oder die Witwe oder Tochter zu sich kommen, ließ sich Alles genauer noch berichten, als es ihm gewöhnlich schon bekannt war, und sagte: „So müsst Ihr es machen.“ Davon haben mir längst nach seinem Tode ältere Leute mit Tränen in den Augen erzählt und auf seinem Grabe steht eine eiserne Pyramide mit der Inschrift: „Errichtet von Husumer Bürgern.“ Auf mich machte er den Eindruck eines klugen und gewaltigen Mannes, und sein beiläufiges Scherzwort, das er wohl mitunter für mich hatte, erlöste mich nicht von diesem Eindruck. Seiner trefflichen Frau, einer Freundin meiner Mutter, hing ich desto unbefangener an; sie hatte die Eigentümlichkeit, recht verkehrtes Deutsch zu sprechen und es obendrein mit verdrehten Fremdworten zu verkräutern; wenn sie mit letzteren gar nicht zurecht kommen konnte, kam ihr Mann ihr zu Hülfe und sagte: „Kehr's um Guste!“ Desungeachtet – Schelme behaupteten, sie sage statt Fontainebleau nur: „Fontenellenblau“ – war sie überall so geliebt wie geachtet, und zeigte, dass ein guter tüchtiger Mensch schon eine Tracht des Lächerlichen ohne Schaden tragen kann.

 

Durch das zerrüttete Geldwesen des Königreichs Dänemark, die willkürlichen und ungerechten Hülfs-Maßnahmen der dänischen Regierung dagegen und die große Überlastung der Herzogtümer war der allgemeine Kredit zerstört und eine fast völlige Entwertung der Grundstücke herbeigeführt.

So konnte Erhebliches für das Allgemeine nicht geleistet werden: keine Kunststraße führte aus unsrer Stadt zu einer andern, nach Flensburg mahlten die Wagenräder viele Stunden lang im tiefsten Sande und ich fühle noch den träumerischen Zustand, wenn ich mit meinem Vater in der sogenannten Chaise saß, welche langsam in den knarrenden Riemen schaukelte, und der Kutscher, damit doch etwas andres hörbar sei, einmal durch die Luft klatschte und mit einem „Hopp“ Jann und Liese, unsre beiden schwarzen Pferde antrieb. Nicht viel anders war der Weg nach Schleswig; aber nach dem benachbarten Friedrichstadt, der sauberen Treenestadt, wo mir ein Onkel wohnte, fuhren wir in trockner Sommerzeit auf dem Marschboden, wie auf einer ebenen Diele; in der Regenzeit und im Wintertauwetter war es um so schlimmer, statt der sonst anderthalb Stunden kam man unter vier Stunden nicht zur Stelle, Schritt für Schritt ging es, die Pferde traten tief in den durchweichten Boden und zogen schwer ihre Hufen aus der sich um dieselben ansaugenden fetten Tonerde; erzählt wurde dabei gewöhnlich, dass schon Pferde den Fuß nackt, ohne die hornene Hufbedeckung wieder heraus gezogen hätten. – Von Straßenbeleuchtung gab es nur eine Laterne am Hafen; aber trotz dessen kam es vor, dass Leute vom Bollwerk in das Wasser stürzten. Eines Abends hörte ein Schiffer auf seinem Halligboote, als er aus seiner Koje den Kopf in die Luft steckte, ein ihm unerklärliches Schnarchen, das neben seinem Bord aufstieg. Er entzündete seine kleine Laterne und leuchtete hinab: da war es Ebbe, und neben dem Hinterspiegel des Schiffes sah er einen ihm bekannten Schweinehändler mit einer dicken Geldkatze um die Hüften und halb im Schlick versunken sich des behaglichsten Schlafs erfreuen, aus welchem er dann bei dem danach folgenden Rettungswerk gestört wurde. – Aber in den Gassen war es, wenn nicht der Mond schien, finster; und größere und kleine Handlaternen irrlichterierten Abends darin umher; auch wir Knaben, wenn es Abends in die sogenannten Privatstunden ging, hatten fast alle unsre Leuchte, deren Griffe einen Behälter für Reservelichter bildete.

 

Unsere Stadt war zu meiner Kinder- und Knabenzeit mit allerlei wunderlichen Gesellen illustriert, die in der Erinnerung anderer und ernsterer Geschehnisse mir noch immer wie lustige Hanswurste nebenherlaufen. Da war zunächst „Hans Schmidt“; er soll vor meiner Zeit ein hübsches Vermögen besessen und vergnüglich dann verputzt haben. Seine Silbermünzen hatte er in einem großen Pult in Rollen aufgestellt. „Höhrt ju Jungens!“ hatte er gerufen und dabei an sein Pult gestoßen, dass die schweren Speziestaler an einander klirrten. Aber er selber hatte sie gerührt, und als sie alle geworden, saß er mit etwas verwirrten Sinnen im Armen– oder Arbeitshaus und sann auf andre Unterhaltungen. Es war einer der größten Schrecken meines Kindesalters, als plötzlich eines Vormittags ein rasch sich wiederholendes Klirren und Klingen durch unser Haus ging, dergleichen ich nie gehört hatte. Hans Schmidt hatte sich einen Besen von unsrem Flur geholt und damit die ganze Reihe Fenster an der Hausfront hastig eingeschlagen; vielleicht aus dem sonst nicht mehr zu befriedigenden Bedürfnis, einmal wieder etwas klirren zu hören. In mein Kleinkinder-Gemüt aber traf diese mir unverständliche Szene nur wie ein Stück aus einem Märchen.

Da war ferner „Peter Runtum“, der den Pfingst- und Michaelisjahrmarkt eintrommelte<,> und „Jochum Pingel“, der mit der Glocke, die in einem niedrigen Balkengerüst bei dem St. Jürgensstift, dem sogenannten „Kloster“ hing, „bingeln“ musste, wozu sonst die großen schönen Glocken unserer ersten und alten Kirche dienten. Aber diese Kirche war, angeblich wegen Baufälligkeit, im Jahre 1807 abgebrochen worden – „De Tönninger Torn is hoch un spitz, de Husumer Herrn hemm Verstand in de Mütz“, reimte derzeit der Volkswitz – und die zwei größten der drei schönen Glocken, nach denen auch die Kopenhagener, glücklicherweise doch vergebens, die Hand ausstreckten, harrten in einem kleinen Holzverschlage an der Außenmauer des Schlossgartens der Zeit, bis sie nach Dezennien in dem abscheulichen Turm der abscheulichen neuen Kirche wieder aufgehangen wurden. Deshalb aber musste Peter Runtum trommeln und der Andere die „Bingel“ ziehen, d. h. die kleinste der drei alten Kirchenglocken, die solcherweise in Gebrauch genommen war.

 

„Jochum Pingel

Treckt de Bingel

För en Kringel

Un en Snaps!“

 

hörte ich die Jungen singen, und der Schnaps figurierte nicht umsonst in diesem Volksvers; er war wohl Jochum Pingels Erdenseligkeit und bereitere ihm jedenfalls auch das Ende dieses Lebens An einem sonnigen Sommermittag, ich entsinne mich dessen deutlich, spielte ich, kaum dreijährig, in unserem Garten, von dessen Nordwestecke ein sich hinter unserer „Neustadt“ entlang streckender Weg begann; die Hintergebäude, Ställe und Scheuern der Straße lagen hier hinaus, und ein Düngerberg reihte sich an den andern. Von dort her hörten meine kleinen Ohren ein Geschrei und Gejohle von Knabenstimmen; aber, was es zu bedeuten hatte, blieb mir unverständlich; erst am Nachmittage erzählte man mir, Jochum Pingel habe auf einem jener Dunghaufen in tiefem Rausch gelegen; da hätten die Jungen es nicht lassen können, so lange mit ihren Holzpantoffeln auf ihm zu tanzen, bis sie ihn endlich totgetanzt hätten. So verlor ich schon in frühster Jugend dieses Original.

Dauerhafter waren „Holten Fite“, auch „Holten Kiwiet“ genannt, und „Jür'n (Jürgen) Mehlbüdel“. Beide sah man wesentlich auf dem großen Marktplatz, wenn, was dreimal in der Woche geschah, dort –Wochenmarkt gehalten wurde, zwischen den Korn- oder Strohwagen der Bauern oder den Butter- und Käsekörben ihrer Weiber oder ihres Gesindes; zwischen den städtischen Kunden lief dann sicher „Jürn Mehlbüdel“ mit seinem runden bleichen Kindergesicht und roten Haaren, mit krummen Knieen und seinem unermeßlich langen – Hosenspiegel, die Hände in der Taschen in kleinem Hundetrab umher, um sich nach, Gott weiß, welchem Gewerblein umzusehen, während sein Kamerad, der ebenso schmächtige kleine „Holten Kiwiet“, seinem Übernamen gemäß mehr auf einem Fleck blieb und nur den kleinen blatternarbigen Kopf nach irgend was Erwünschtem langsam hin und wider drehte; zumal, wenn aus irgendeiner Jungenskehle ein „Holten Kiwiet“ ihm um die Ohren flog.

Die wunderlichen Kerle sind allmählich aus meinem Leben verschwunden; ob sie der Welt genützt haben, weiß ich nicht; ich aber würde sie vermissen, wenn sie plötzlich aus meiner Erinnerung entschwänden; denn sie gehören mir zum alten Husum; die beiden letzten – wer weiß es waren vielleicht auch ganz der Lebensinhalt einer alten Mutter.

 

Zweimal in der Woche kam die Post aus Hamburg; dann war „Posttag“ und die Kaufleute saßen bis spät in ihren Kontoren am Schreibtisch; sie brachte auch den Altonaischen Mercur, der eben aus Kleinoktav in Kleinquart Format übergegangen war; viel mochte die Zeitung damals nicht zu berichten haben; es war in der langen Friedenszeit nach Napoleons Sturz. Die Fürsten und ihre Minister regierten wieder; die in der Not versprochenen Verfassungen wurden nicht gegeben; wie aus blauem Himmel fiel dann und wann den Leuten eine Verordnung oder ein Reskript auf den Kopf; doch wurde es bei uns wohl mäßig damit gehalten. Derweilen saßen die klugen Leute am Sonntag nach der Kirche im Weinhaus, kannegießerten eine Weile und gingen dann zum Sonntagsbraten. Es war eine praktisch unpolitische Zeit; die französische Revolution und das Kaiserreich nahmen auf Jahrzehnte die Gedanken der Menschen in Anspruch; aber meistenteils nur als Vergangenheit, wie eine ungeheure Tragödie.

 

Quellen

LL 4, S. 415-436; Kommentar S. 920-936. Ediert nach den Handschriften in der SHLB.

Erste Anstöße zu Storms autobiographischen Aufzeichnungen erfolgten nach 1870 bei der Arbeit an den „Zerstreuten Kapiteln“. Im Sommer 1874 nahm sich Storm diese Skizzen wieder vor, wie er in einem Brief vom 13. 7. 1884 an seinen Freund Heinrich Schleiden in Hamburg berichtet: „ich notire Einzelnes zu meiner Jugendgeschichte.“ (Br. Schleiden, S. 51.) Im Herbst 1887, nach den Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag, nahm er sich die Aufzeichnungen wieder vor und hoffte, sie zum Jahreswechsel in der „Deutschen Rundschau“ veröffentlichen. Wegen der Arbeiten am „Schimmelreiter“ wurde daraus nichts; danach hinderte der Tod den Dichter den Text fertigzustellen. Sohn Ernst redigierte die vorhandenen Manuskriptteile und veröffentlichte sie in der „Deutschen Rundschau“ 57.1888, S. 341-346.

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Aus der Familie Mummy

An der Wand meines Zimmers hingen in silbervergoldeten Medaillons vier Miniatür-Bildnisse; oben an dem ovalen Rähmchen befindet sich eine Schleife von gleichem Metall; darin je ein festes Ringlein; dessen Stellung lässt vermuten, ihre Bestimmung sei vielmehr die gewesen, an einer Schnur oder Kette um den Hals getragen zu werden. Es sind die Porträts von den mütterlichen Großeltern meiner Mutter: der Großvater, ein Mann mit strengen Zügen, doch, wie das Bild es nicht so deutlich mehr erkennen lässt, mir aber in meiner Kindheit mehrfach erzählt wurde, mit auffallend schönen Augen, und der letzte große Kaufherr unserer Vaterstadt; daneben seine stattliche Ehefrau mit einem breiten, aus Spitzengewebe bestehenden Kopfputz, der halbmondförmig den noch immer jugendlichen Kopf bedeckt; darunter die in bester Jugend jungfräulich verstorbene Tochter, eine Rose im gepuderten Haar, ein Medaillon an ihrem Halse, das später einmal in meiner Hand lag, als die Maurer es bei Reparatur unsrer Familiengruft aus ihrem zerfallenen Sarge zu den Eltern brachten, und das dann, nachdem eine dunkle Locke darin gefunden und gelassen worden, wieder in die Gruft zurückgebracht wurde; und neben ihr der Bruder, der Vater meiner Mutter, von dem aus meinem dritten Jahr eine nebelhafte Erinnerung mir geblieben ist – denn auch er ging früh zu den Schatten – ein schöner stattlicher Mann mit dem liebevollsten Antlitz, den meine Mutter leidenschaftlich liebte, von dem ich schon einmal geschrieben habe, dass, als er im Sarge lag, einer seiner Schwiegersöhne zu seinem weinenden Knaben sagte: „Heule nicht Junge! Sieh her! So sieht ein braver Mann aus, wenn er gestorben ist.“

– – Ich weiß kaum, weshalb ich wie selbstverständlich diese Niederschrift, die mit den Meinen nichts zu tun hat, mit den verblassten Bildern meiner Vorfahren beginnen musste; und doch, da ich tiefer mich besinne, muss ich auf diesen Anfang weiter schreiben.

Mein Großvater hatte einen Freund; Arfast hieß der Knabe, der bei seinem Vater in die Kaufmannslehre trat, und er und der Haussohn hielten stets zusammen; auch während der Letztere seine große Tour durch Deutschland und Frankreich machte und später, als beide ihr eigen Geschäft in unserer Stadt begründet hatten und bis an meines Großvaters Tod. Schon der strenge Urgroßvater muss auf den Jungen was gegeben haben; denn unsre alte Tante Anna, Arfast's einzig noch lebendes Kind, erzählte mir einst, ihr Vater habe seinen Kindern mehrfach davon gesprochen, wie er als Junge mit seinem Lehrherrn einmal eine Geschäftsreise nach Flensburg gemacht, und wie sie dort mit einander in einem großen Bette zusammen geschlafen hätten; Nachts aber sei der Junge plötzlich von so heftigem Nasbluten überfallen worden, dass die weiße kalmankene Nachtjacke des alten Herrn davon überströmt worden sei. Der große Respekt und die Furcht vor diesem habe ihn ganz wirr und tölpelhaft gemacht; aber sein Lehrherr, nachdem er mittelst eines Zunderkästchens Licht entzündet, habe ihn liebevoll getröstet und selbst dazu getan dass sie hernach dann hätten weiter schlafen können. „Das“ hatte Arfast einmal hinzugefügt, „habe ich dem strengen Mann in seiner Gruft noch nicht vergessen, und hat Euch Kinder vor manchen übereiltem Schlag von mir bewahrt.“– Auch des Verkehres zwischen ihrem Vater und meinem Großvater erinnert Tante Anna sich; sie mochte bei des Letzteren Tode etwa im elften Jahr gewesen sein; besonders lebhaft stehe es ihr vor, wenn der freundliche Kopf desselben in ihre Kinderstube hineingeguckt habe, um nach seinem Freunde dort zu suchen, mit dem er einen Gang auf den Seedeich hinaus zu machen pflegte; denn die Straße, worin Arfast wohnte, führte unmittelbar nach demselben.

Schon weit über ein halb Jahrhundert deckt auch den Letzteren die Kirchhofserde, und in unserer Stadt weiß wohl Keiner mehr weder von ihm noch von meinem Großvater; aber zwischen den Enkeln der Beiden bestehn noch jetzt drei Ehen, wie zur Bestätigung der alten Freundschaft. Manchmal – denn meine Ehe gehört auch dazu – wenn wir, noch immer des Sonnenscheins uns freuend, ausruhend bei einander saßen, entfuhr es mir wohl: „Könnten die beiden Alten noch einmal aufsehen; es würde sie doch freuen!“ Aber nur ein stummer Händedruck von Arfast's Enkelin war die Antwort; und ich nickte: „Du hast recht; es ist so besser.“

Warum? – Ich will's erzählen.

– – Arfast hatte eine feine, milde Frau, ich meine von unseren friesischen Inseln, heimgeführt, die ihn mehr als ein Jahrzehent überlebte und als Großmutter von ihren Enkeltöchtern, wie sie mir erzählt haben, fast vergöttert wurde. „Ganz lebhaft sehe ich sie vor mir“, sagte mir noch heute meine Frau, „wenn sie in ihrem braunseidenem Überrock mit dem etwas blassen zarten Angesichte uns am Sonntag Nachmittag besuchte. Sie litt an leichten Ohnmachten und ging deshalb von ihrem Hause hinten durch die kleinen Gassen, wo sie von allen gekannt wurde; dann durch den Totengang und die beiden Lindenalleen, nach deren letzter unser langgestreckter Garten hinaus lag. Aber wir Kinder waren allzeit von unserer Mutter ihr schon entgegengesandt; wir lauerten vor der Gartenpforte, oder liefen ein Stück in der Allee ihr entgegen, und wenn wir endlich die schmächtige Gestalt erreicht und so viel von unsern Händchen, wie nur möglich<,> in die ihrigen gepackt hatten, dann wurde sie im Triumphe durch den Garten in das Haus geführt, wo ihre Tochter sie am Kaffeetisch erwartete. Ich habe damals immer genau hinsehen müssen, wie sie die Tasse und den Teelöffel anfasste und wie sie sich den Rahm hinzugoss oder ihre Arbeit aus ihrem gestickten Pompadour heraus nahm. Weiß du, die Handbewegungen, die immer deiner Mutter so an mir und meiner Schwester gefielen, sie sind gewiss von unsrer Großmutter.“

Aus der Ehe mit dieser Frau hatte Arfast eine Reihe von Kindern, von denen der älteste Sohn als Geschäftsnachfolger seines Vaters in der Stadt blieb. Erst im Frühling 1848, als sich die ganze Welt verjüngte und wir alle plötzlich erkannten, dass wir gegen die Dänen uns zu wehren hätten, kam ich näher mit ihm zusammen. Es war im Weinhaus zur Traube, wo eine groß Genossenschaft ihre Sitzungen hielt, Bürgerbewaffnung einrichtete, Wachen ausstellte, Depeschen empfing und expedierte, auch Kommittierte in die größeren Städte schickte und Alles, meist freilich ungeschickt genug, tun wollte und auch oftmals tat, was der Tag uns damals zu erfodern schien. Man kam mit manchen Leuten zusammen, die man sonst kaum bemerkt hatte; aber der Kopf von Arfast jun. interessierte mich von allen doch am meisten: ausgeprägte Züge, ein dunkelblondes etwas aufgesträubtes Haar und fast schwarze starke Brauen; darunter lagen zwei tief graue Augen, in denen eine unruhige Erregtheit nur leis zu schlummern schien. Er sprach selten, wenn er aber sprach, dann tat er es in Begeisterung oder Sarkasmus; bei einem Hin- und Widerreden wartete er meist, bis das letzte Wort gesprochen war; dann sprach er und das seinige gab oft den Ausschlag. In der Stadt war über ihn die Sage, er hätte ein Wissenschafts- oder Kunstmann werden sollen, zu welchem letzteren wohl eine von ihm angelegte Kupferstichsammlung den Anlass gab; um freilich, als er sich; einmal gegen mich über Michael Beer's ja auch von Goethe ausgezeichneten „Paria“ mit warmherzigen Worten ausgesprochen hatte, da schien auch mir, dass er anders sei, als die Übrigen, und dass sein innerer Mensch sich in den Berufsgeschäften, die ihm oblagen, schwerlich ausleben könne. Meinem Schwager jagte ich noch nach dessen Tode den „Spiritus asper“ des wunderlichen Humoristen <Lücke> aus einem Antiquariate auf, den er als junger Mensch in dieses seines Onkels Bibliothek gelesen und nicht hatte vergessen können.

– – Wie wir unser deutsches Spiel damals gegen Dänemark verloren, braucht hier nicht aufgeführt zu werden. Aber noch bevor die letzte entscheidende Schlacht verloren war, geschah etwas uns Allen Unerwartetes: Arfast jun. war von der deutschen Sache abgefallen; was ihn dazu getrieben hatte, ist wohl kaum jemandem völlig klar geworden. War es ein Zweifel an dem Rechte oder nur an dem Gelingen unserer Auflehnung? War es eine Art Heimatssehnsucht nach den gewohnten Zuständen oder ein trotziges Auflehnen gegen das blinde Geschrei der Menge, das stets auch das gerechte Wollen übertönt? Was in den meisten Fällen die Ursache solchen Wandels war, konnte bei ihm nicht angenommen werden; denn Stadt und Umgegend, auf die ihn der bei Weiten größte Teil seiner Geschäfte hinwies, waren und blieben deutsch; und auch von seinen nahen Verwandten am Orte trennte ihn sein neues Glaubensbekenntnis.

Freilich nach einer andern Seite begann jetzt eine mehr als zehnjährige Blüte seines Hauses; es wurde in den kleinen, aber herrschenden Kreis der dänischen Offiziere und Beamten – letztere, leider, mit einem deutschen Landeskinde an der Spitze – aufgenommen, der sich rasch genug in unsrer Stadt gebildet hatte und ihr mit der fremden Sprache, die laut genug auf den Gassen gesprochen wurde, einen unheimlichen Anstrich gab.

 

Quellen

LL 4, S. 436-441; Kommentar S. 936-940. Ediert nach der Handschrift in der SHLB.

Diese Materialien zu einer Lebensgeschichte von Storms zweiter Frau Dorothea, geb. Jensen wurden im Sommer 1886 niedergeschrieben und blieben wegen der Arbeiten am „Schimmelreiter“ und Storms Krankheiten Fragment.

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Ferdinand Röse

Etwa 18 Jahre alt trat ich nach dem Willen meines Vaters aus der Gelehrtenschule meiner Vaterstadt Husum in die Prima des Lübecker Gymnasiums, wo damals Friedrich Jacob Direktor und Prof. Classen erster Lehrer war. Geibel war eben zur Universität gegangen; hinterließ mir aber seinen nächsten Freund unter den Zurückgebliebenen, Ferdinand Röse, von uns „Wanst“, auch wohl „Magister Wanst“ genannt, Sohn eines Lübecker Maklers; er war vom Gymnasium als Lehrling in eine, ich meine die Rohdesche, Buchhandlung getreten, aus dieser aber wieder in's Gymnasium und zu seinen Studien zurückgekehrt, und daher uns Übrigen im Alter etwas voraus.

Seine äußere Erscheinung war nicht eben einnehmend, wenn man nicht die kleinen freundlichen und wie mitredenden Augen dafür nehmen wollte; er machte den Eindruck eines Mannes, der in kränkelnder Kindheit aufgewachsen ist, und hatte nichts Jugendliches: sein Antlitz war gelblich fahl, sein dürftiges Haar von mattem Dunkelblond, auch seine Sprache war ältlich; denn statt der Zähne hatte er nur zwei Reihen schwärzlicher Zahnbrocken aufzuweisen. Dazu passte der lange, etwas abgetragene schwarze Rock mit zwei Reihen Knöpfen, der um die mittelgroße Gestalt schlotterte. In seinem Wesen, besonders auf seinem Zimmer, wo die Werke alter und neuer Philosophen ihn umgaben, hatte er etwas Feierliches, wie der Meister eines Geheimbundes; er hörte gern, wenn ein Andrer zu ihm sprach, aber meist mit einem freundlichen, etwas überlegenen Lächeln auf den Lippen; doch konnte dies Wesen auch mitunter von einer etwas forcierten Karnevalslustigkeit abgelöst werden; mir klingt noch das „Hei! Hei!“ in den Ohren, das er dann wohl ausstieß.

Die Husumer Schule wusste so wenig von neuerer deutscher Literatur, dass mir Uhland, dessen Namen ich gehört hatte, derzeit als ein alter Minnesänger vorschwebte; hier aber hatten Röse und Geibel (letzterer als L. Horst) sogar zum Chamissoschen Musenalmanach von 1834 ihren Beitrag geliefert. An den alten Fouqué hatten sie Huldigungs-Gedichte geschickt und eine Antwort erhalten; Röse's Gedicht, das mir von ihm vorgelesen wurde, hieß „Die Bleichen“ (die Toten auf dem Schlachtfelde) und machte mir großen Eindruck. Sie wollten auch später den derzeit von Fouqué selbst zerstörten Ruhm desselben wieder aufrichten. Der Zurückgebliebene erschien mir wie von einem Dunst geheimnisvollen Wissens und Könnens umgeben, aus dem ihm nur mit unter in geweihter Stunde beliebte, einen Brocken an Auserwählte mitzuteilen. So munkelte es, dass er ein großes Drama „Ahasver“ begonnen habe; aber es verging eine lange Zeit, bis er es endlich aus dem Schrank, worin das Manuskript verschlossen war, hervorholte und mir eine oder einige Szenen daraus vorlas. Ich hatte dabei die Empfindung, als wenn ich einer ganz ausnahmsweisen Gunst gewürdigt würde. Es gefiel mir sehr und schien mir unter dem Einflusse von Göthe's „Faust“ abgefasst, den ich damals zuerst kennengelernt hatte. In „Gedichte v. Ferd. Röse“, Hamburg, E. A. Meißner, 1839 (nur 32 Seiten), fand ich ein Gedicht „Ahasver“; von dem Drama habe ich nichts wieder gesehen, noch gehört. Zu Röse's inneren Schätzen schien mir auch ein vertrautes Verhältnis zu seiner Vaterstadt, dem alten heiligen Lübeck, zu gehören, wie er denn auch später, 1842, ohne seinen Namen eine jedenfalls lesbare „Lübeckische Chronik“ bei Aschenfeld in Lübeck hat erscheinen lassen. Wenn er aus der Vergangenheit der alten Hanse-Hauptstadt berichtete, nahm seine Stimme eine Würde an, als ob er Heiliges zu verkünden habe, und der Ausdruck des Gesichtes entsprach dem.

Zu dem alten Lübeck gehörte auch sein Vaterhaus an der Trave, das mir unvergesslich geblieben ist. Die Haustür führte zu einem sehr engen Flur; vor dem Eintretenden verschloss rechts ein breites gelbes Doppeltor den weiteren Raum, an der linken Wand führte eine ohne Biegung aufsteigende Treppe in einen großen fliesenbelegten, zwei Stockwerke hohen dämmerigen Flur; überall führten Türen zu den Wohnräumen, zur Küche und zu einem kleinen offenen Hof; zu den im höheren Stockwerk belegenen Stuben, nach der Straße und nach der Hinterseite, gingen zwei Einzeltreppen mit Geländer; die nach der Straße belegene führte zu einem Zimmer, wo ein alter Großohm seinen Lebensrest verbrachte; die oberen Zimmer nach hinten habe ich später als Student bei einem Besuche inne gehabt. Während der Schulzeit lebte Röse's Mutter noch, eine stets kränkelnde, stubenhütende katholische Frau; nur einmal sah ich sie, als sie sich bei seiner Abfahrt zur Universität vor die Haustür hatte bringen lassen; der Vater ist mir damals nur schweigend vorbeigegangen, ein, nach meiner Erinnerung, ziemlich stattlicher Mann mit gerötetem Antlitz; auch aus meiner späteren Besuchszeit habe ich keine wesentliche Erinnerung von ihm.

Das kleine Zimmer, das ich damals allein besuchte, lag nach der Trave hinaus hinter der Haupttreppe; ein Tages- oder Kerzenschimmer, der durch das grüne Vorhängsel des Türfensters schimmerte, zeigte dem Besuchenden den Weg. Ich habe es auf das oft mit einer Art Mutwillen oder mit ermunterndem Klang gerufene „Herein!“ stets mit dem Gefühl betreten, ich komme als ein Jüngerer und Werdender zu einem wesentlich schon Gewordenen, wenn auch zu einem freundlich mir Geneigten. So viel ich mich entsinne, war kein Sofa in dem Stübchen; und doch war es mit seinen breiten Fensterbänken der behaglichste Raum.

Nie werde ich den Spätherbstabend vergessen, an dem er mich dort in Heines mir noch unbekanntes „Buch der Lieder“ einweihte. Aus dem verschlossenen Glasschrank, der den Oberteil einer Schatulle bildete, nahm er das Exemplar auf schlechtem Druckpapier, und während wir am warmen Ofen saßen und draußen der Wind durch die Schiffstaue sauste, begann er mit gedämpfter Stimme zu lesen: „Am fernen Horizonte“, „Nach Frankreich zogen zwei Grenadier'“, „Über die Berge steigt schon die Sonne“ und so eines nach dem andern; zuletzt „Wir saßen am Fischerhause und schauten nach der See“; ich war wie verzaubert von diesen stimmungsvollen Liedern, es ward Morgen und es nachtete um mich, und als er endlich, fast heimlich das Buch fortlegend, schloss: „Das Schiff war nicht mehr sichtbar; es dunkelte gar zu sehr“, da war mir, als seien die Tore einer neuen Welt vor mir aufgerissen worden. Gleich am andern Morgen kaufte ich mir das „Buch der Lieder“ und zwar auf Velin–Papier. – Röse gehört zu denen, welchen ich es verdanke, Kritik ertragen zu können und sie an mir selbst zu üben; er schrieb quer über meine Gedichte sein „Denique sit, quid sit, simplex dumtaxat et unum“, und sagte mir mehr, als einmal: „Du bist geistig tot“; ob Letzteres mit Recht, ist mir später zweifelhaft geworden. In der Poesie freilich war es bei mir nur noch ein Flügelprüfen über meine zuerst 1852 erschienenen Gedichte hat er mir später mit Begeisterung geschrieben, dass er sie morgens und abends lese.

In den Ferien kam Geibel, und wir gingen dann zusammen ins Theater, in den Weinkeller oder machten Ausflüchte auf die Dörfer. Röse klagte, dass ihm das Talent der schönen Formgebung fehle, das, nach seiner Ansicht, Geibel in vollem Maße besaß; daher er denn auch, wo er in seiner Prosa Lieder bedurfte, seinen Mangel gern aus dessen Reichtum deckte; so in seinem Märchen „Das Sonnenkind“, das im Pilger durch die Welt 1845 erschien. Einmal trafen wir diesen in seinem Zimmer ein Gedicht niederschreibend; „scht!“ sagte Rose und hielt mich an der Tür zurück, und wir warteten ruhig, bis die heilige Handlung vollendet war.

Vor seinem Abgang zur Universität schenkte Röse mir ein Exemplar der Uhlandschen Gedichte, in das er hineinschrieb: „Meinem Confident, obgleich's ein –– ist, zur freundlichen Erinnerung“. Der Gedankenstrich sollte „Schuckelmeyer“ bedeuten, ein politischer Schimpfname für die Dänen, von denen wir Schleswiger derzeit nicht unterschieden wurden. Die vergriffenen Exemplare des „Liederbuchs“ und „des Uhland“ stehen noch in meinem Bücherschrank.

Ein halb Jahr später ging ich nach Kiel, und ein Jahr danach mit Röse, und Mantels, von Hamburg aus nach Berlin. Ich entsinne mich aus diesem Zusammenleben nur einer Tour nach dem Grunewald, die auch der nachherige Shakespeare-Gelehrte Delius mitmachte, und einiger Theaterabende, die uns durch Seidelmann bedeutsam wurden; nach einer Faust-Aufführung kauften wir uns ein Fläschchen herben Ungar, und plauderten dabei noch ein paar Stunden auf meiner Stube. Nach einem halben Jahr verließ Röse Berlin. Als ich später wieder in Kiel studierte, befand er sich in Lübeck im Vaterhause, wo die Mutter inzwischen gestorben war; damals habe ich ihn besucht; von einem älteren Herrn, den er derzeit in seinem Zimmer empfing, sagte er mir, es sei ein Professor, der ihm wegen einer von ihm edierten philosophischen Schrift seinen Besuch abgestattet habe. – Noch im selben Sommer kam er zu mir nach Kiel, und las mir und den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen in dem jetzt verschwundenen Säulenhäuschen im Walde, hinter der Badeanstalt, sein Märchen „Das Sonnenkind“ vor, das er damals zwischen ernsteren Studien vollendet hatte. Ich höre es noch, wie er, beim sanften Rauschen der Waldwipfel draußen, in seiner feierlichen Weise anhub: „Hans Fideldum, der lustige Musikant, ging durch ein Seitental des Böhmerwaldes rüstig vorwärts.“

Später habe ich Röse, unseren Magister Wanst, nicht wiedergesehn; nur Briefe von ihm kamen seit etwa 1846. Er war inzwischen Dozent in Tübingen gewesen, dann dieser Stellung, wie er schrieb, wegen seiner schwarzrotgoldenen Gesinnung verlustig gegangen, er hatte den Volkskalender „Der deutsche Pilger durch die Welt“ durch mehrere Jahrgänge redigiert, er hatte sich in Coblenz mit einem Photographen assoziiert, und an Kellner und derlei Leute in den ersten Morgenfrühstunden Unterricht in neueren Sprachen erteilt; er war darauf nach dem unweit belegenen Ochtendungen gezogen und hatte dort Winters, aus Geldmangel im ungeheizten Zimmer, die ersten Bände seiner Individualitäts-Philosophie ausgearbeitet; einen die Einleitung enthaltenden gedruckten Band sandte er mir; durch eine ihm dann einmal gebotene Hülfe wurde noch ein Teil gedruckt; in welchem Krämerladen das Übrige verdorben ist, mag der Himmel wissen. Auch ein Selbstmordversuch war in diesen Notständen vorgekommen, obgleich Geibel ihn dauernd nach Kräften unterstützte und er in seiner Not auch Andere in Anspruch nahm; sogar eine Nachricht, dass ein Dr. F. Röse ein, ich weiß nicht welches Verbrechen begangen, lief durch die Zeitungen, bis es sich aufklärte, dass der Verbrecher Röse's Pass gestohlen hatte. Ihm eine Hauslehrerstelle zu verschaffen war Geibel, wie er mir sagte, da ich ihn 1848 in Lübeck aufsuchte, durch Röses Selbstgefühl, auch durch sein allmählich äußerlich vernachlässigtes Wesen unmöglich geworden. „Und doch“, setzt er warmherzig hinzu; „es ist doch immer noch der alte Wanst!“

Und damit war auch meine ganze Meinung ausgesprochen.

Röse ist gestorben, seit lange; ich weiß es, ohne zu wissen, woher; eine Anzeige von einem ihm irgend Nahestehenden habe ich nicht erhalten; einsam und verlassen wird ihn der Tod gefunden haben. In einer gelehrten Zeitschrift ist vor einigen Jahren ein Artikel über ihn gewesen; vielleicht neben diesen wenigen Worten die letzte Spur von ihm.

Über Röse's philosophische Schriften habe ich kein Urteil und zu ihnen kein Verhältnis; in seiner Poesie ist er mir später mehr als ein Anempfinder erschienen, seine Sachen mehr aus Freude an seinen anregenden Vorbildern, als aus eignem Drang hervorgegangen, obwohl sie dennoch nicht ganz ohne Eigentümliches, ich möchte zugleich sagen: Vaterstädtisches waren. Göthes Faust und der Phantasiestücken–Hoffmann mochten am meisten auf ihn einwirken; man konnte Letzteres schon in der Namenfindung erkennen, wenn er z. B. einen alten Musikanten „Quanzmann“ taufte; auch die Bewegung seiner Figuren ist Hoffmannisch, er selbst war eigentlich, als hätte der alte Kammergerichtsrat ihn erfunden. In einem Lübeckischen kulturgeschichtlichen Roman, den er mir handschriftlich um 1846 zusandte, und in seinen Sachen im „Deutschen Pilger durch die Welt“, wie „Hans Fallinbrei“, „Vetter Michels Eisenbahn“ u. A., sind mir Inhalt und Stil durchgehends künstlerisch vielfach roh und gewaltsam erschienen – ich meine, wenn ich es lese, mitunter sein Karnevals-Hei! Hei! zu hören –, was meine erwähnte Ansicht nur bestätigte. Als Menschen habe ich ihn gegen mich stets treu und liebevoll erfunden; dass er ein zu hohes Selbstgefühl hatte, vermöge dessen er auch seine Philosophie ihrem Jahrhundert vorausgeeilt glaubte, ist vielleicht wahr, obwohl die Art, wie er Geibel den Vorrang ließ, während er mir stets als der Tiefere erschien, dagegen spricht. Selbstsüchtiges habe ich nie an ihm wahrgenommen; im Genießen war er freilich nicht bedenklicher, als wir andern; aber es mochte seinem ältlich und kränklich erscheinenden Körper vielleicht weniger ziemen.

Von den Vorausgeschiedenen ist Röse, der einen wichtigen Zeitabschnitt meiner Jugend begleitete, mir einer von den wenigen Unvergesslichen.

 

Quellen

LL 4, S. 441-447; Kommentar S. 940-948. Ediert nach den Handschriften in der SHLB.

Erste Aufzeichnungen über den Freund aus Lübeck erfolgten noch um 1837, als Storm seine Schulzeit im Katharineum beendete und zum Jura-Studium nach Kiel wechselte. Ein umfangreicheres Manuskript entstand auf die Bitte des Kieler Mediziners Carl Conrad Theodor Litzmann (1815-1890), der an einer Biographie über seine Freund Emanuel Geibel arbeite und Storm bat, eine Charakteristik von Röse zu schreiben. In Litzmanns Buch: Emanuel Geibel. Aus Erinnerungen, Briefen und Tagebüchern. Berlin 1887 werden Storms Mitteilungen zum Teil wörtlich zitiert.

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Emma Kühl*

Als ich in den Michaelisferien 1837 als junger Student – ich wurde grade zwanzig – hier zu Hause war, hatte meine Schwester Helene gleichzeitig einen Besuch von ihrer damals siebzehnjährigen sehr liebenswürdigen und interessanten Freundin Emma Kühl von Föhr. Diese Bekanntschaft hatte ich schon vor Jahren zu Stande gebracht; ich kannte sie zuerst. Als vielleicht zwölfjähriger Knabe war ich einmal einige Tage bei einer Schwester von Woldsen auf Föhr, wo E. damals als kleines Mädchen täglich ins Haus kam; wir spielten zusammen, fuhren zusammen aus und waren ganz verliebt in einander; ich erinnere deutlich, dass wir uns mehrfach hinter der Küchentür heimlich geküsst haben beide damals Kinder. In Folge dessen vermittelte ich die Bekanntschaft mit Helene. – Dieses Mädchen besaß neben einer guten Bildung einem geistreichen Wesen und einer natürlichen fast unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit eine übermäßige Koquetterie. Dabei war sie schön und von gutem Herzen. Wir nannten uns Du; trotz dem ging die Galanterie herüber hinüber; gleicherweise die Eifersucht; Verdruss, Tränen fehlten bei ihrem Charakter natürlich zwischen uns nicht; war ich schon als Junge in sie verliebt gewesen, so wurde es jetzt alle Tage toller – mein Tagebuch, was ich damals geführt liegt vor mir: morgens am dritten Oktober versprach ich mich förmlich mit ihr – schon denselben Nachmittag fühlte ich heftige Reue über diesen Schritt und beschloss alles wieder aufzuheben; der Grund, den ich jetzt klar sehe, war allein der, ich war zu jung; ein Mann wenn er leben soll, kann so früh überhaupt noch nicht lieben. Das Gefühl selbst war gewiss ein richtiges gesundes; in dem, was mich zu ihr geführt, lag der Irrtum. Ich wagte nicht, das Verhältnis ohne Weitres zu zerreißen, weil ich Eclat fürchtete; die Sache selbst blieb geheim. Als ich nach Kiel sie nach Föhr reiste, schrieb ich ihr nicht; sie hatte mich vor der Abreise auch nicht darum gebeten, sie merkte wohl, wie die Sache stand. Sie wurde sehr krank; danach erhielt ich unterm 28. Febr. in Kiel den ersten einzigen Brief von ihr, worin sie, wie sie schrieb und wie es wahr ist, mit dem Rechte einer Schwergekränkten ihr Wort zurücknahm.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 11. bis 12. 6. 1844. In: Brautbriefe 1, S. 106f.

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Es war in der Studentenzeit*

Es war in der Studentenzeit, als in einem jetzt nicht mehr vorhandenen einsamen Wirtshause, oben im Walde an der Ostsee, mein gleichfalls nun längst von der Erde verschwundener Freund Ferdinand Rose, oder wie er von uns und von sich selber gern genannt wurde, der Magister Antonius Wanst mir und den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen sein tiefsinniges Märchen „Das Sonnenkind“ vorlas, in welchem der Held auf dem abgelegenen Schlosse Grümpelstein von sechzig alten Tanten erzogen wurde, und von Mr. Breeches, nachdem er in der Nasenkrabbelmaschine seinen Spleen ausgeniest hatte, nur noch seine carrirten Beinkleider übrig blieben. – Wir saßen in einem hohen Zimmer, in welches von draußen die Bäume stark hereindunkelten; und von fern aus den Buchenwipfeln hörten wir das Flattern der Waldtauben, als der Verfasser in seiner feierlichen Weise aus dem entrollten Manuskripte anhub: „Hans Fideldum, der lustige Musikant, ging durch ein Seitental des Böhmerwaldes rüstig vorwärts.“

Armer Magister Wanst! Wo sind jetzt Deine Märchen? Wo Dein großes Drama „Ahasver“, aus dem Du einst zu Lübeck in Deinem altväterischen Elternhause an der Trave, aber auch nur in weihevollster Stunde, wohl ein einzelnes Blättchen mir zu lesen gabst? Wer kennt die gedruckten Bände Deiner „Individualitätsphilosophie“, die nach Deiner Versicherung ihrem Jahrhundert vorausgeeilt war, und in welchem Krämerladen sind die nicht gedruckten, zum Teil bei strengem Winterfrost im ungeheizten Zimmer ausgearbeiteten, übrigen Bände zu Düten umgewandelt worden? – Keine Deiner Saaten ist aufgegangen; selbst Dein Sonnenkind ist in dem „Pilger durch die Welt“ pro 1845 nur verkrüppelt an das Tageslicht getreten. Du bist gestorben, verdorben; nur ich und Dein treuester, bis an's Ende hülfreicher Jugend-genosse, Emanuel Geibel, wenn die alten Tage uns besuchen, mögen Deiner dann und wann gedenken. Damals aber, an jenem Sommernachmittag im Walde, warst Du noch hoffnungsreich und im Vollgefühl einer großen Lebensaufgabe; und mit Behagen hattest Du neben ernsteren Studien auch jenes Märchen hingeschrieben. Nur für den Liederbedarf des Hans Fideldum, den Du allein nicht zu decken wusstest, wurde die Beisteuer der Freunde in Anspruch genommen. Geibel hatte aus seinem Reichtum schon gegeben; dann schrieb auch ich die kleinen „Fiedellieder“, wie sie noch jetzt in der Sammlung meiner Gedichte stehen. – – Und die Veranlassung, dass ich eben jetzt jener Jugendzeit gedenke? Hier liegt sie vor mir, frisch aus der Presse wie aus dem Herzen! „Die Lieder jung Werner's aus Scheffel's Trompeter von Säkkingen für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von Ludwig Scherff. Hamburg bei G. W. Niemeyer“ – Hell und jung ist mein ganzes Haus geworden, seitdem diese herzerquickenden Lieder darin erklingen; ja dermaßen sind sie mir in die Glieder gefahren, dass ich meinen alten Fiedelbogen aus dem Staube hervorgesucht und damit gerade an der Stelle wiederum zu streichen angefangen bin, wo ich ihn vor dreißig Jahren abgesetzt hatte. Dir aber, Meister Ludwig, dem Lebenden, dessen klare Manneskraft nicht im Sande verrinnen wird, lasse ich diese frischen Blätter zufliegen. Nimm sie hin nebst jenen alten, die der tote Freund nicht mehr gebrauchen kann; und mag es gelten, ob ich Dich klingen machen kann, wie Du es mir getan hast. Und nun horch' auf, wie sie gehen!

 

Quellen

Als Einleitung zu „Die neuen Fiedel-Lieder.“ In: Theodor Storm. Zerstreute Kapitel. Berlin 1873, S. 95-98.

Dem Abdruck in den „Gedichten“ (Berlin 1885, S. 184) schickte Storm eine kurze Notiz voraus: „Die Anfange dieser Lieder, wie sie in den früheren Auflagen der Gedichte gedruckt waren, entstanden während meiner Studentenzeit unter dem Einflüsse Eichendorffscher Poesie. Eine äußere Veranlassung ließ mich nach fast einem Menschenalter den alten Ton noch einmal finden und so den vorliegenden Zyklus vollenden.“

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Geschichten aus der Tonne (1846 und 1873)

(1) Einer der wackersten Spielkameraden in meinen Knabenjahren war Claas Räuber. Er war der Sohn eines armen Schuhflickers und schon seit mehreren Jahren ein Stadtwaisenkind; den Beinamen Räuber aber hatten seine Genossen ihm gegeben, weil er in dem Spiel „Räuber und Soldat“, das wir an hellen Sommerabenden zu exerzieren pflegten, eine besondere Geschicklichkeit besaß und daher auch stets nur als Räuber ausgehoben wurde. Trotz seines abschreckenden Titels aber war Claas Räuber der ehrlichste und spaßhafteste Bursche von der Welt, und besaß außerdem noch ein anderes, von seinen Genossen sehr geschätztes Talent. An den kurzen Herbstabenden nämlich, wo uns für die ausgelassenen Spiele nach der Schulzeit gar bald das Licht ausging, pflegten wir uns auf den breiten Steinen einer Haustreppe zusammen zu finden, und nun hieß es: „Stücken verteilen.“ Hier war nun Claas Räuber wieder der beste und beliebteste Kamerad, denn sein Reichtum an allen möglichen Arten von Döntjes und Schnurren war unerschöpflich. Je heimlicher aber und verborgner wir unseren Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten an, desto lebendiger traten all' die wunderlichen und süßen Gestalten, die verwünschten Prinzen und Prinzessinnen, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie; ja ich erinnere mich, dass wir einmal bei einer solchen Gelegenheit ganz deutlich den Niß-Puck aus einer Dachöffnung in meines Vaters Scheune herausgucken sahen, und in Folge dessen einen zwar vergeblichen Feldzug durch die sämtlichen Böden gegen den Kobold unternahmen. Mich vorzüglich trieb jene Vorliebe für heimliche Erzählungsplätzchen zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel. So hatte ich unter ändern eine große leere Tonne dazu ausersehen, welche in einem Packhause unweit meines Vaters Schreibstube stand. In dieser Tonne hab' ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört. Sie war das Allerheiligste, das nur von mir und Claas bezogen wurde. Hier kauerten wir Abends, wenn ich aus den Privatstunden kam, zusammen, nahmen meine kleine Laterne, die wir zuvor mit einigen Lichtendchen versehen hatten, auf den Schoß und schoben, nachdem wir hineingeklettert waren, ein großes, auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung derselben, so dass wir wie in einem kleinen Stübchen zusammen saßen. Wenn nun die Leute Abends nach meines Vaters Schreibstube gingen und ein dumpfes Gemurmel aus der alten Tonne aufsteigen hörten und einzelne verlorene Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte der alte Schreiber nicht genug die wunderliche Ursache davon berichten.

Hätten die lieben Leute bei uns in der Tonne gesessen, so hätten sie wohl selbst Gefallen an unseren Abendunterhaltungen gefunden, wozu ich den Leser nach zwanzig Jahren nachträglich aufs Beste eingeladen haben will.

 

In der Tonne

(2) Die nachstehenden Geschichten, welche ich in der ersten Auflage unter dem Titel „Drei Märchen“ in die Welt gehen ließ, haben es erfahren müssen, dass sie von manchem sonst guten Freunde ihres Verfassers lediglich um dieser Überschrift willen ungelesen bei Seite geschoben wurden; selbst die Versicherung des derzeitigen Vorwortes, dass das zweite Stück mehr eine „seltsame Historie“ sei, das dritte mehr in dem vornehmen Gewand der Sage auftrete, hat dagegen nicht verfangen wollen. – Es ist so unbequem, die traute Alltagswelt mit einer anderen zu vertauschen, wo es vielleicht statt auf der Eisenbahn mit Siebenmeilen-Stiefeln durch die Luft geht. Überdies aber – und nicht mit Unrecht –, das Märchen hat seinen Kredit verloren; es ist die Werkstatt des Dilettantismus geworden, der seine Pfuscherarbeit mit bunten Bildern überkleistert und in den zahllosen Jugendschriften einen lebhaften Markt damit eröffnet; das Wenige, was von echter Meisterhand in dieser Dichtungsart geleistet ist, verschwindet in diesem Wüste.

In besserer Beachtung solcher Umstände ist das Büchlein beim Antritt seiner zweiten Reise auf einen unverfänglicheren Namen umgetauft, wobei eine noch immer anheimelnde Jugenderinnerung die Patenstelle übernommen hat.

Einer unserer wackersten Spielkameraden war „Hans Räuber“, der Sohn eines armen Schuhflickers und schon seit Jahren ein Stadts-Waisenkind; den Beinamen hatte er sich in unserem beliebtesten Spiele „Räuber und Soldat“ durch seine ausgezeichneten Leistungen in der ersteren Eigenschaft verdient. Außerdem aber besaß dieser ehrliche und spaßhafte Bursche noch eine andere von uns sehr geschätzte Fähigkeit. An den langen Herbstabenden, wo uns für die ausgelassenen Spiele nach der Schulzeit gar bald das Licht ausging, pflegten wir uns auf den Stufen irgend einer Haustreppe zusammen zu finden, und nun hieß es: „Stücken verteilen!“

Und auch hier war wieder Hans der „Baas“; Gott weiß, woher ihm die seltsamen Geschichten anflogen, mit denen er uns bald vor Grauen zu schütteln, bald das hellste Lachen hervorzurufen wusste. In dieser Jahreszeit des Stücken-Erzählens wurden insbesondere die Gestalten unseres heimischen Volksglaubens so lebendig in uns, dass wir einmal ganz deutlich den Niß Puk aus einer Dachöffnung von meines Vaters Stallgebäude herausgucken sahen, und, mit Hirschfänger und Blumenstöcken bewaffnet, einen zwar vergeblichen Feldzug über sämtliche Böden gegen den Hauskobold unternahmen.

Je heimlicher wir unsere Märchenbude aufgeschlagen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten an. Mich namentlich trieb diese Vorliebe für versteckte Erzählungsplätzchen zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel; der beste Fund aber, der mir dabei gelang, war eine große leere Tonne, welche in unserem sogenannten Packhause unweit der Schreiberstube stand. Diese Tonne war bald das Allerheiligste, das nur von mir und Hans bezogen wurde; hier kauerten wir Abends nach der Rechenstunde zusammen, nahmen meine kleine Handlaterne, die wir zuvor mit ausreichenden Lichtendchen versehen hatten, auf den Schoß und schoben ein paar auf der Tonne liegende Bretter wieder über die Öffnung, so dass wir wie im heimlichsten Stübchen uns gegenüber saßen.

Wenn dann die Leute Abends in die Schreibstube gingen und ein Gemurmel aus der Tonne aufsteigen hörten, auch wohl einzelne Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte der alte Schreiber nicht genug die wunderliche Ursache davon berichten.

Wo aber waren indessen Hans und ich? – Ging es auch sachte aufwärts, so ging es doch endlich hübsch über die Alltagswelt hinweg, dass der Schul- und sonstige Erdenstaub lustig aus den flatternden Gewändern flog. Die alte Gelehrtenschule mit ihren irregulären Verben, der dumpfe Keller mit der hässlichen Lehmdiele, auf der das Bett des Waisenknaben stand – im Nebel der Tiefe lag es unter uns, während wir die reine Luft der Höhe atmeten.

Aber selbst zu uns hinauf drang die Sopranstimme der Magd, die, wenn es Neun vom Turm geschlagen hatte, mich von der Hoftür aus zum Abendessen rief. Plötzlich saßen wir wieder in unserer engen Tonne; noch einmal dehnten wir uns, dass die Wände knackten, und kletterten dann über den Rand derselben in das Alltagsleben zurück; aber noch lange nachher musste es uns Jeder vom Gesichte ablesen können, dass wir in uns einen Glanz trugen, der nicht von dieser Welt war. – –

Vierzig Jahre und darüber sind seitdem verflossen. Meinen Hans Räuber hat ein seltsames Geschick betroffen; er ist in seinem Alter noch einmal ein Stadts-Waisenkind geworden.

Ob er für einen Sterblichen doch zu oft in jene Region hinaufgeflogen war? – Nachdem er ein Vierteljahrhundert der Alltagswelt als tüchtiger Schiffszimmermann gedient hatte, wurde er krank und konnte sich lange Jahre hindurch nicht mehr in ihr zurecht finden. So kam er in ein städtisches Asyl. Aber er ist allmählich wieder genesen; es geht ihm wohl; er arbeitet nach Belieben und er arbeitet gern und gut; seine Frau zwar hat er längst begraben; aber seine Kinder weiß er in der Ferne wohl versorgt. Wenn sein rotes ehrliches Gesicht mit den nun ergrauten Haaren mir begegnet, dann nicken wir uns zu, und seine braunen Augen leuchten schelmisch, als wollten sie mir sagen: „Weißt du noch – das wissen wir Beide nur allein – wie wir damals in der Tonne saßen! Das war schöne Zeit!“

Möge der freundliche Leser nun erproben, ob diesen neuen „Geschichten aus der Tonne“ etwas von der Kraft der alten innewohne. Zu lange soll die Fahrt nicht dauern und so hoch soll sie auch nicht gehen, dass die praktischen Köpfe unserer neuen Zeit dabei von Schwindel könnten befallen werden.

 

Quellen

(1) LL 4, S. 268-270; Kommentar S. 751-755.

(2) LL 4, S. 387-390; Kommentar S. 864-866.

Der erste Hinweis auf den Text findet sich in einem Brief des Malers Theodor Wagner vom 17- März 1840 (StA), den Storm während seines dreisemestrigen Aufenthalt in Berlin kennengelernt hatte, wo er mit ihm zusammen im Februar 1883 in der Liebhabertruppe „Theatro alla Scala“ spielte. Storm hatte ihm in einem nicht erhaltenen Brief einige gerade skizzierte Erzähltexte nach Berlin geschickt, worauf Wagner folgendermaßen reagierte: „[…].Um Ihnen aber die eigentliche Wirkung desselben von Augen zu führen, muss ich offen bekennen, dass ich beim Lesen des ersten Teils, mit Ihnen ganz Kind war, im Geiste alle Züge und Streifereien als Räuber gegen die Stadtsoldaten mitmachte und als Sieger mit meinen Kameraden in unsere Heuhöhlen einzog. Mit welcher Begierde Sie all die Plätze Ihrer jugendlichen Spiele aufsuchten, wie mächtig die Erinnerung längst vergangener so glücklicher Zeiten in Ihrem Herzen aufdämmern mussten, kann ich mir ganz lebhaft denken.“

Storm veröffentlichte die „Geschichten aus der Tonne“ mit einer autobiographischen Einleitung im Volksbuch 1846, S. 81-88. Die dort enthaltenen drei Märchen „Die Regentrude“, „Bulemanns Haus“ und “Der Spiegel des Cyprianus“ erschienen im Jahre 1866 in einer Separatausgabe des Hamburger Verlages Wilhelm Mauke. 1873 gab Storm sie im Verlag Paetel, Berlin, erneut heraus, nun aber wieder unter dem Titel „Geschichten aus der Tonne“. Er verfasste eine neue Einleitung, in die er Teile des alten Textes aufnahm. Dabei änderte er den Namen des Freundes „Claas Räuber“ in „Hans Räuber“.

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Student in Kiel*

Da bin ich nun seit einem Vierteljahre unter deutschen Studenten selbst ein deutscher Student. Ich hätte mir den deutschen Studenten anders gedacht: Ein Gemisch aus ritterlicher Galanterie, traulicher Heiterkeit, Begeisterung für seinen freien Stand; Geist und Herz und Gefühl für Alles Schöne. – Aber was finde ich von alle dem? Mut allerdings, Mut fehlt dem deutschen Studenten noch nicht. Aber wo trifft man die schöne, jugendliche Poesie des Lebens, die noch unverkümmert ist von den beengenden Verhältnissen der spätern Jahre, wo die bescheidne Heiterkeit, die ihn charakterisieren soll und den deutschen Studenten bei allen guten Menschen beliebt macht? Ich möchte sagen, der Kieler, und ich glaube sagen zu können, der deutsche Student ist entweder ein Mensch, der viel kneipt und trinkt, alle Naslang auf der Mensur liegt, sich in Gemeinheiten gefällt, eben von nichts anderm redet, als von Kneipereien und Paukereien, sich irgend ein schmuckes Dienstmädchen an der Hand hält, auch wohl die Farben irgend einer Verbindung und, wenn er ihn hat, einen Schnauzbart trägt und nebenbei etwas ins Kolleg geht, oder er ist arbeitsam, eingezogen, einseitig oder einfältig. So sind, nach meiner Ansicht, die Meisten der Studenten. Ich mag die rechten vielleicht noch nicht haben finden können. – Wie schmerzlich entbehr ich einen Gleichgestimmten, der den Klang und die Dichtung meiner Seele verstehen und erwidern mag. Kiel ist schön, sehr schön, die schönste Stadt im schönen Holstein; aber aller Orten, auf den belebtesten, volkreichsten Spaziergängen wandle ich alleine unter den schönen Holsteinerinnen. Ein ungestilltes, ein nie zu stillendes Sehnen nach einem unbekannten Etwas, dies unglückliche Sehnen hält mich gefesselt. – Was will ich? wohin will ich?– Ich trage in mir ein Streben, aber kein Ziel. Oder ist mir das Ziel wohl bekannt, aber nicht was hinter dem Ziel liegt, das große, schreckliche Ende. – – – Nein, Nein! das wäre zu früh, so jung und so viel frischen Keim im Herzen – – das darf ja noch nicht untergehen, trotz meiner Sünden – –.

 

Quellen

LL 4, S. 495f.; Kommentar S. 978-980.

Diese Notizen hat Storm am 18. Juni 1837 in seine Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ auf den Seiten 75-79 eingetragen.

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Beroliniana

Erlebnisse des Studiosen Nordheim, nacherzählt und seinen Freunden Krebs und Klander gewidmet

von HTW Storm

Vorrede

Kap. I

Wie der Studiosus Nordheim in Berlin einfuhr und es doch nicht zu sehen bekam

 

Das war schon der zweite Morgen nach der zweiten Nacht, den der Studiosus Nordheim auf der Preußischen Postkutsche erwachte; müde und matt von dem ewigen Fahren hatte er sich in die eine Ecke gedrückt, die Augen fest zu gemacht, und während der Wagen die Chaussee daherrasselte, träumte ihn so allerlei von seinem Vaterstädtchen an der grauen Nordsee, von seinen lieben Eltern daheim, von den letzten acht Tagen, die er auf seiner Reise bei guten, von ihm geliebten Menschen zugebracht hatte, von Scheiden und Meiden, von blauen Augen und – – –

„Wach auf mein Herz, ermuntre dich!“ sang sein Freund der Doktor Antonio, indem er ihn durch herzhaftes Rütteln seiner Traumwelt zu entwinden suchte, und ihn mit seinen lebenslustigen Äuglein anblinzelte.

„Menschenkind, so schau doch um dich, wir sind schon im Tiergarten, unmittelbar vor Berlin.“

Der Studiosus mochte wollen oder nicht, er musste zur Postkutsche herausgucken, und so sah er denn, dass die Chaussee durch ein Lustgehölz führte, wo an beiden Seiten des Weges Menschen zu Fuß und zu Pferde in Menge einhertrottierten.

„Tiergarten?–“ murmelte er noch traumtrunken, „ich sehe gar keinen Sperling!“

„Das ist grade der Witz dabei“; sprudelte der Doktor, „lucus a non lucendo; eben darum heißt es ja Tiergarten, weil gar keine Tiere darin sind.“

„Stecken Se den Kopp doch weiter rausser“~ redete ein Berliner Reisekumpan ihm zu, „da werden Se schonst de Pferde uff d' Brandenburger Dor sehen kennen. Na, Se werden de Oogen uffreißen, des is eene Stadt; Berlin, des is eene eenzig schöne Stadt.“

„Nun gib Acht“, nahm der Doktor wieder das Wort, „da fahren wir durchs Tor. – Nun bist du in Berlin. Hier sind meine lieben Linden – Sieh, rechts – rechts! – das ist die Fuchssche Konditorei die du noch oft besuchen wirst Links nun, links das Universitätsgebäude, das du auch öfter besuchen wirst – hier das Museum – das königliche Schloss –– Aber was hast du denn immer deine Augen zu reiben, so schau doch um dich.“

„Was Berlin, wo Berlin? – Ich sehe nichts, gar nichts!“ schrie der Studiosus, und rieb sich immer noch die Augen.

„Bist du blind, Mensch, was fehlt dir?“ beteilnahmte ihn sein Freund.

„Ach“, nahm der Berliner das Wort, „et stoobt heute en bisken; und der Herr is noch nich in Berlin jewesen – –“

„Ei, das musst du schon gewohnt werden“, lachte der „ Doktor, „der Berliner Staub ist nun nicht anders.“

„Das nennt ihr ein bisschen Staub“, hüstelte Nordheim, „ein bisschen Staub – – – Ganze Sandstürme sind es.“

„Sei du nur still,“ neckte der Doktor, wenn du <denn?> erst ein Berliner bist, da kannst du die Herrenschleier in die Modejournale bringen.“

Brrr! – da hielt der Wagen im Posthofe. So war denn der Studiosus durch halb Berlin gefahren und hatte noch keinen Stein davon gesehen –

 

Kap. II

Wie ein Berliner kein Deutsch verstand, wie der Studiosus Nor<d>heim ein Glas Wein trank und was für wunderliche Träume er danach träumte

 

Als die beiden Freunde ihre Sachen auf der Post besorgt hatten, gingen sie mitsammen nach der Wohnung des Doktors, der sich schon längere Zeit in Berlin aufhielt, und nach einem Besuch in der Heimat seinen Freund zur Vollendung seines Studiums mit dahin zurück genommen hatte.

Nachdem die Frau Wirtin beide mit vielen Knixen und Reverenzen bewillkommt und der Doktor die nötigen Anordnungen zur einstweiligen Aufnahme seines Freundes getroffen, gingen <sie?> alsbald an ihre Toilette, zogen die staubigen Kleider aus, zogen andere an und wuschen sich die Augen klar.

„Was das nun für ein staubiges, sandiges Land ist, die Mark Brandenburg“, schalt <noch?> immer der Student, „und vollends Berlin; das hätte ich wissen sollen; wenn du es nicht grade gewesen wärest, hätte mich gewiss kein Mensch hieher gekriegt!“

Dabei bemühte er sich emsig, seine grauen Haare wieder in blonde zu verwandeln, indem er alle möglichen Instrumente aus seines Freundes reichhaltiger Toilette in Anwendung brachte.

„Wirst schon alles gewohnt werden“, meinte dieser, „mach jetzt nur, daß du fertig wirst; dann wollen wir eine gute Restauration aufsuchen, und uns nach dieser langen Strapaze erquicken.“

Gesagt getan – Bald war das café d'Hollande erreicht, wo die beiden sich an einen der vielen kleinen Tische setzten, und den Speisezettel besahen. „Adolph! –“ rief der Doktor Antonio; der hier sein täglich Mittag einzunehmen pflegte, „bringen Sie mir einstweilen Froschkeulen.“

„Befehlen!“ erwiderte der Kellner mit einer Verbeugung.

„Mir Rinderbraten und Gurkensalat“, fügte Nordheim hinzu. Adolph hielt das Ohr hin, als hätte er nicht recht verstanden.

„Rindsbraten und Gurkensalat“ wiederholte der Studiosus.

„Ah, Jurkensalat? –“ versetzte der Kellner mitleidig korrigierend und verbeugte sich mit einem „Befehlen“, um das verlangte zu bringen.

„Du lieber Gott“, dachte Nordheim, „nicht allein, daß die Menschen diesen Dialekt zwischen den Backen führen; sie halten am Ende noch andre Leute für Barbaren, die ihr ehrliches Deutsch von Haus aus sprechen.“

Das Bestellte wurde gebracht, der Doktor nagte mit unverkennbarem Behagen an seinen Keulen, Nordheim kaute und kaute und schnitt wunderbare Gesichter Adolph ging ab und zu – „Ich wollte Rinderbraten“, sagte der Student, ärgerlich auf sein Gericht zeigend.

„Wie Sie befahlen, Rinderbraten.“ –

„Wenn das Rinderbraten ist, da sind die Herrn Privatgelehrten fetter, wie die Berliner Mastochsen! Da bringen Sie mir doch eine Flasche St. Jülien! –“ Der Kellner ging.–

Der Doktor, der sich die ganze Zeit <eb>enso sehr an den Nöten seines Freundes, als an seinen Froschkeulen amüsiert hatte, machte bei dieser Bestellung ein verzweifeltes Schelmgesicht.

Der Wein war da; der Studiosus schenkte sich und seinem Freunde ein und war, wie denn die Studenten pflegen, beim Anblick der <Flasche?> wieder froh und frisch geworden.

„Komm, Doktor, stoß an, wollen den Berliner Staub herunterspülen“, lachte er und jagte durstig das ganze Glas durch die Kehle. Doch kaum wars geschehen, so schoß er kerzengrade vom Stuhl in die Höhe, daß er wie eine Salzsäule in die Luft starrte. Aus seinen Augen quollen <armdicke?> Tränen, sein Mund verschrumpfte sich <zum?> schiefwinkligen Dreieck und seine Seele rang vergeblich nach Luft und Sprache. Der Doktor aber setzte die Hände in die Seiten und brach in ein unmäßiges Gelächter aus. „Mensch, das ist Berliner St. Jüdin; wer wird den denn auch gläserweis trinken; des Guten nicht zu viel auf einmal!“

„Ah“, stöhnte Nordheim und kam endlich zur Besinnung, „was ist das schon wieder, ich wollte ja Wein trinken!“

„Hast auch Wein getrunken und wird dir keinen Schaden tun“, spottete der Doktor. „Mußt dich nur nicht gleich drauf schlafen legen; fleißig wenden und kehren, <sonst?> frißt er den Magen durch.“

Aber der Schmerz, den Nordheim fühlte, ließ sich nicht so leicht wegscherzen; es war ein tiefer Seelenschmerz. Schrecklich stand es vor seiner Seele, dass er den sorgenbrechenden Traubentrank in dieser staubigen Stadt entbehren müsse, diesen Freund, der ihn in allen Berliner Leiden trösten sollte, und erst die lange Abhandlung des Doktors über den Zoll der französischen Weine konnte ihm Aufklärung und dessen wiederholten Beteurungen, ihm für Geld und gute Worte <noch?> ein feines Weinchen zu verschaffen, ihm seine alte Gemütsruhe wiedergeben.

So gingen denn beide Freunde nach Hause; wo der Studiosus, trotz der <...> Warnungen seines Freundes sich zum Mittagsschläfchen niederlegte. Aber es war zum ersten Mal, daß sein Magen in so nahe Berührung mit der Berliner Küche kam – Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, wie der Doktor meinte, zu seinem großen Heil; und als der Schlaf seine Augen geschlossen, zogen seltsame Träume in sein Gehirn. – Da träumte ihm, er ginge daheim auf einer saft<ig>grünen üppigen Marschwiese spazieren, und vor ihm auf trabten die fetten Marschochsen gespickt und gebraten. Da überfiel ihn schrecklicher Heißhunger, wütend jagte er hinterdrein, bis er sie eingeholt hatte, und schnitt sich mit seinem Taschenmesser das schönste Stück vom duftenden Hinterviertel; als er es aber verzehren wollte, biß er sich den Welsheitszahn aus; denn es war nichts andres als der steinharte Rinderbraten, den er Mittags schon einmal verzehrt hatte – Dann saß er wieder zu Lübeck im alten Weinkeller und schenkte sich perlenden Johannisberger in das grüne Römerglas; sobald er aber auf seine Zunge kam, war es der Berliner St. Julien, der ihn in schrecklichen Konvulsionen unter den Tisch stürzte; wenn er dann wieder auftauchte, da wollte er sich nach seiner Ermattung am schönen Johannisberger erquicken, der vor ihm auf dem Tisch stand, und wieder fiel er unter den Tisch, und so gings fort bis die Flasche leer ward, die Flasche aber ward niemal<s> leer – –– da deuchte ihm auf einmal, er gehe vor dem Brandenburger Tor spazieren und um ihn her lustwandelten die Berliner und die Berlinerinnen; als er sich aber alles genau <besann?> und beschaute, da sah er, daß er eigentlich in der Wüste Sahara war und daß die Berliner eigentlich nichts andres seien als eine große Herde Kamele, die dumm und einfältig durch den Sand daher trottierten. – Erschrocken wachte der Studiosus auf und erzählte dem Doktor, der in währender Zeit schon den Kaffee bereitet hatte, von seinem seltsamen Traume. Der aber blinzelte schelmisch mit seinen Augen und meinte, so etwas sei ihm wohl schon mit wachenden Augen vorgekommen.

 

Kap. III

Worin der Verfasser nicht umhin kann, von Wanzen zu berichten. Ferner wird von Mord und Rache die Rede sein.

 

Wir finden den Studiosen nach einiger Zeit in einem wohl eingerichteten Zimmer, sieben und siebzig Stufen hoch, mit seiner Juristerei beschäftigt, froh und zufrieden, dass er für schweres Geld endlich eine behägliche Wohnung gefunden hat.

Es war schon spät am Abend, und er packte seine Hefte zusammen, um nach getaner Arbeit sich zu Bette zu begeben. – Eben hatte er nach seiner schlechten Gewohnheit sein Viertelstündchen im Bette verlesen und wollte seinen müden Leib nur noch einmal etwas erheben, um das Licht auszutun, da fühlte er etwas über seinem <Kopfe?> herumstören, und als er sich schleunigst umwandte, da sah er deutlich ein braunes Etwas über sein Kopfkissen bergab traben. Dies Etwas aber war eine – – Wanze. Der Studiosus erkannte sie richtig genug, obgleich er nie zuvor eine ihres Geschlechtes gesehen, denn daheim hatte er von Wanzen nur wie von Drachen und Greifen fabeln hören. Mit einem Satze war er wieder aus dem Bette, schüttelte das Tier auf die Erde und erschlug es mit seinem ungeheuern Stiefelknecht, den er sonst nur zum friedlichen Nußknacker gebraucht hatte. Aber damit war die Sache noch nicht abgetan: aus dem Blute <der> Erschlagenen verbreitete sich ein betäubender sinnumnebelnder Dunst durch das Zimmer. Was war zu tun?– „Das sind die Schrecken der Residenz“, dachte Nordheim und streckte sich resigniert wieder unter die Decke; aber lange suchte er den Schlaf vergebens; immer sah, roch und fühlte er nur Wanzen und nichts als Wanze. –

Endlich schlief er, <aber?> wiederum kamen schreckhafte Träume über ihn. Da deuchte ihm, er säße in der Ritze eines altmodischen Bettes und rings um ihn her säßen die Väter der Wanzen und hielten Gericht über ihn. Der Wanzenkönig forderte sie auf, Rache zu nehmen für den erschlagenen Blutwanz<,> und die Wanzen erhoben ihre Rüssel und verurteilten ihn zum Tode. Da sank er hinab in eine unendliche Tiefe und in seine Ohren klang die Posaune des jüngsten Gerichts. –– Da erwachte er; aber das war kein Traum gewesen; wie er es träumend gehört, so hörte er es noch immer wachend fort: dort und hier, fern und nah und immer näher tönte die Posaune. Da meinte der Student, er sei längst gestorben und die Posaune rufe zum neuen Erwachen.

Plötzlich hörte er unter sich, tief unter sich<,> wie wenn ein Fenster aufgeschlagen wurde und eine Stimme rief: „Nach<t>wächter, Nach<t>wächter, sagen Se mich doch gefälligst, wo is denn eegentlich det Feuer?“ Der Nach<t–> wächter brummte eine Antwort in den Bart, die Nordheim nicht verstand; was ihm auch ganz gleichgültig war; wusste er jetzt doch gewiss, dass er zu Berlin in seinem Bette liege und nicht etwa im Grabe; Wusste er doch, dass nicht die Posaune des Gerichts, sondern des Nachtwächters Tuthorn geblasen hatte. Vor Feuersgefahr hatte er aber keine Angst; denn, hatte ihm sein Freund, der Doktor Antonio, gesagt, „wenn in Berlin Feuer auskommt, so kümmerst du dich um nichts, bis dir das Haus über dem Kopf zu brennen anfängt; dann trittst du die Wand ein und gehst zu deinem Nachbar!“ Des gedachte der Studiosus, legte sich wieder auf sein Ohr und schlief bis an den lichten Morgen.

Als er erwachte, sah er, wie ihm zu Häupten sich ein Wänzlein behäglich in seinen Fenstergardinen schaukelte. Bei diesem <schrecklichen?> Anblick fuhren ihm seine Mitternachtsträume wieder durch den Sinn – Er fühlte sich schwer in allen Gliedern und litt heftig an Kongestionen. Deshalb schickte er nach einem Barbier, um sich einige Blutigeln setzen zu lassen, zog Schlafrock und Pantoffeln an und streckte sich gelassen auf sein Sofa. Da trippelte es die Treppen herauf und herein trat ein winziges Männlein mit einer langen Pappschachtel unter dem Arm.

„Sie sind der Barbier?“ fragte Nordheim.

„Jeremias Schwänzlein, Euer Wohlgeboren untertänigst aufzuwarten, Chirurgus und Hofbarbier“, schnarrte der Wicht und öffnete seine Pappschachtel, um einen ungeheueren Blutigel daraus hervorzuziehen. „Euer Wohlgeboren haben beunruhigende Träume gehabt, wie ich vernommen habe?“

„Wie sie vernommen haben?“ fragte Nordheim erstaunt, denn er hatte seine Träume noch keinem erzählt.

„Nun ich meine, man sieht Ihnen gleich an den Augen an, dass sie eine unruhige Nacht gehabt haben. Für Fremde ist hier in Berlin denn freilich so mancherlei, was den Herrschaften die liebe Nachtruhe verderben kann. Heut Nacht ward nun gar Feuer geblasen, es brannte <da?> vorm Tor in der Potsdamer Straße No 26. – – o, die Einrichtungen hier sind prächtig – Glauben Euer Wohlgeboren wohl nicht? Wenns vorm Potsdamer Tor brennt, da blasen die Nachtwächter am Hallischen. Wir Berliner kennen das schon und schlafen unser Stückchen fort; aber die Fremden, die werden schon aufgeblasen aus ihrer Ruhe. – – Vielleicht sind Euer Wohlgeboren auch von Wanzen beunruhigt?! Die Dingerchen haben hier so eigentlich ihr Standquartier, gleichsam könnte man sagen, ihre Residenz.“

Bei diesen Worten zog ein behägliches Lächeln sein geschwätziges Maul bis an beide Ohren herauf, und der letzte Igel war angesetzt.

Fünf handfeste Blutsauger saßen auf Nordheims Brust und sogen, als wenn sie ihm das Herz aus dem Leibe zerren wollten; der Studiosus ward so matt, dass er kaum die Arme zu heben vermochte. Da platzten die Blutigel, und aus ihren zerplatzten Leibern wimmelten unzählige Wanzenscharen. Der Barbier aber <verschrumpfte sich?> an Arm und Beinen; um seinen Kopf wand sich eine Krone von Bettstroh und deutlich erkannte Nordheim den spirrigen Wanzenkönig, den er Nachts in der Wanzenversammlung gesehn hatte. Höhnisch erhob das Ungetüm die Klaue über ihn und sang ihn an mit seiner Schnarrstimme:

 

„Schau der Herr mich an als König usw.“

und in widerlichem Chor einfallend höhnten die unzähligen Wanzen:

Hehe, hehe; hehe, hehe!

Und der Wanzenkönig schnarrte weiter:

Rächt den Blutwanz, meine Wänzlein!

Blutwanz hat der Wicht erschlagen!

Saugt auch fest um Herz und Magen,

<Regt?> die Rüssel, regt die Länzlein

Mästet euer plattes Pänzlein,

Rächt euch, rächt euch! Wänzlein, Wänzlein!“

„Wanzenkönig, Wanzenkönig!“ quicksten die Wanzen.

„O Ungeheuer, du siegst und ich muss unterliegen!“

stöhnte der Studiosus und ihm vergingen die Sinne.

– – – – – – – – – – – – – –

 

Das ist die schreckliche Geschichte von der Rache der Wanzen, und der Verfasser will jedem der nach Berlin zu ziehen gedenkt, wohlmeinend raten, den Feind nicht in seiner eignen Residenz anzugreifen.

Glücklicherweise kam unser Freund so ohngefähr mit dem Schrecken davon; denn da die Angst bei ihm stets auf den Unterleib zu wirken pflegte, so entwickelte sich alsbald ein solches Ungewitter aus seinem Innern, dass der Wanzenkönig mitsamt seinen Wänzlein die schleunigste Flucht ergriff.

Als er sich wieder erholt hatte, deuchte ihm sogar, daß diese kleine Schröpfung sehr wohltätig auf ihn eingewirkt habe: um jedoch ähnlichen Unfällen und Anfällen zu begegnen, kaufte er sich allererst eine Dosis von dem berühmten Wanzenvertilgungsmittel und bestrich Tür und Tor damit.

Sehr unglücklich machte es ihn aber, dass seine Freunde bei der Erzählung seiner Wanzengeschichte nur so ungläubig die Köpfe schüttelten.

 

Kap. IV

Welches der Verfasser auslässt.

 

Anmerkung

Wie billig, werden die geneigten Leser erwarten dass nach 3 langen Kapiteln das vierte endlich einmal das Kapitel von der Liebe sei; leider muss der Verfasser gestehn, dass sie sich da in ihren Erwartungen getäuscht sehen werden; denn obgleich der Studiosus Nordheim in der Heimat ein großer und feuriger Verehrer des schönen Geschlechts war, hat der Verf. unter den Berliner Erlebnissen seines Helden doch nichts in Erfahrung bringen können, womit er diese Lücke ausfüllen möchte, und da er fest entschlossen ist, seinen geneigten Lesern von A bis Z nur wahrhaftige faits zu erzählen, so hat er seine Phantasie an die Kette gelegt und das Kapitel ausgelassen.

 

Kap. V

Worin von einer Lustfahrt nach dem Grunewald gehandelt wird und wie der Studiosus Ezzel alle zehn warf.

 

Es war an einem Sonntag früh, es mochte allenfalls sieben Uhr sein, als Nordheim durch ein gewaltsames Pochen und Schreien vor seiner Tür aus dem Schlaf und aus den Federn gerissen ward. „Aufgemacht!“ schrie der Doktor von außen und trat alsbald mit Nordheims Landsleuten, den studiosis Fite und Ezzel ins Zimmer. „Mach zu und zieh dich recht rasch an, so recht gegen deine Gewohnheit“, fuhr er fort, „wir wollen nach dem Grunewald und du sollst mit.“

 „Ja“, dehnte sich Nordheim, „aber es wird heute unverschämt heiß werden.“

„Ach was heiß“, fuhr der Doktor heraus, „Unsinn! verderb mir meine <Festtagswonnen?> nicht! mir ist in dieser Zeit gerade so recht wohl.“

„Es ist gestern <29?> Grad im Schatten gewesen“, bemerkte Ezzel <. . .> schalt er ungeduldig auf Nordheim, der geschäftig aus einem Winkel die Hose, aus dem andern den Rock zusammensuchte und anzog und sich endlich vor den Spiegel stellte, um sein Haar zu ordnen.

„So komm nun doch, du bist schon längst schmuck genug“, brummte er, „das ist doch eine furchtbare Zeit, die er immer zum Anziehen gebraucht.“

Nordheim kramte noch dies und das zusammen, schloss seinen Sekretär ab und <klappte das> fortepiano zu. „Sieh so <. . .> aber wartet noch einen Augenblick, <wo?> ist nur mein Stubenschlüssel?“ Damit lief er zum großen Leidwesen der übrigen wieder von einer Ecke in die andre, bis er ihn endlich gefunden, und so gingen denn die <vier Studenten?> durchs Brandenburger Tor zur Stadt hinaus. Ezzel schlug sich zum Doktor, stud. Fite und Nordheim gingen zusammen.

Als sie durch den Tiergarten kamen, begegneten ihnen eine Menge Spaziergänger beiderlei Geschlechts, die teils aus den Frühkonzerten zurückkehrten, teils um irgend einen Brunnentrank gehörig <für?> Leib und Leben zu verdauen, in den Gängen auf und ab trabten.

„Donnerwetter“, setzte stud. Fite kräftig begeistert ein, „was gibt es in Berlin übrigens doch auch famose Dirnen. Was für'n Teint haben die Besen! Das ist ja wirklich was ganz ausgezeichnetes.“ Dabei betonte er seine Worte, als enthielte jedes eine mathematische Wahrheit.

„Freilich“, meinte Nordheim, „hier in Berlin muss es wohl geraten, wenn die Mägdelein mit 6 Jahren schon mit Sonnenschirmen und die kleinen Buben, wie ich neulich gesehn habe, in Schlafrock und Pantoffeln herumspazieren.“

„Wie sind sie alle gewachsen“, fuhr ersterer fort, ohne sich von seinem Gegenstande ableiten zu lassen, „und wie wissen die Personen sich zu kleiden! – Da müssen unsre Landsmänninnen doch weit hinter ihnen zurückstehen!“

„Lass unsre Landsmänninnen aus dem Spiel“, drohte Nordheim, „da drüben im Vaterlande gibt's Gott verd – m mich, auch Mädchen, und ich denke, bei ihnen ist der Kern gesünder, als bei diesen hier. Berlinsch <Kind?>, Spandauer Maid und Charlottenburger Pferd sind alle drei nichts wert! Übrigens will ich dir alles mögliche zugestehn, ihre Toilette wissen sie zu machen, und eine gewisse tournure gibt ihnen die Hauptstadt auch samt und sonders von der Gräfin bis zur Handwerkstochter hinab. Das ist aber alles nur äußerlich und eine große <Menge?> unsrer Mädchen stehn ihnen darin nicht nach.“

„Ach, ich bitte dich, gar nicht zu vergleichen! Sieh einmal (diese?> Berlinerinnen an! So etwas habe ich in meinem Leben nicht gesehen ehe ich hieher kam.“

„Zugestanden, <. . .> niedlich <. . .> haben die Berlinerinnen <. . .> schönknöchlicht sind sie wie die heimischen <. . .> wie man ihn bei unseren Landsmänninnen <. . . > <sage?> ich; aber zu Hause <. . .> wohl für uns noch ein <. . .> die diese Berliner Schönheiten <. . .>„

„Ich weiß nicht, aber für mich <haben die Berlinerinnen?> nun etwas ungeheuer anziehendes, was ich bei unsern Mädchen entbehre.“

„Lieber Freund, das was dich bei den Berlinerinnen so sehr anzieht und auch mich nicht unberührt lässt, ist eben diese feine Koketterie, diese feine Sinnlichkeit, die sich über ihr ganzes Wesen verbreitet, und die für eine flüchtige Liebschaft allerdings ganz angenehm ist, sich aber weiß Gott nicht für die Liebe passte, am wenigsten für die Ehe. Es hat allerdings etwas ungemein aufregendes, wenn man diesen zierlichen schlanken Gestalten begegnet, so wie sie sich in ihrem ganzen Wesen gerieren, die wohlgeformten Schultern ein wenig zusammengezogen, das Köpfchen leicht gesenkt<,> und man nun aus dem halbgeschlossnen Auge, wie der Doktor sich ausdrückt, einen <so langen?> Blick besieht. Wie gesagt, das ganze hat etwas unaussprechlich Sinnliches.“

„Du solltest nur 'mal meine kleine Nachbarin sehn“, fiel ihm Fite mit einem ungemein behäglichen Lächeln in die Rede, „die sieht mich immer so freundlich an –– wir beide lieben uns überhaupt.“

„Wieder so ein Poussement par distance!“ höhnte Nordheim.

Währenddes waren sie nach Elisium gekommen, wo es Abends Danzvergnügen und Keilsuppe gibt. Die Berliner saßen wie gewöhnlich familienweise um kleine Tischchen geschart und delektierten sich familienweise an einer Stange Weißbier.

„Das ist nun das Berliner Nationalvergnügen“, fing der Doktor von hinten an. „Des morgens trinkt der Berliner seine Stange Weeße, des Mittags isst er seine Bierkaltschale. Abends geht er wieder aus und trinkt seine kühle Blonde, und wenn er dann nach Hause kommt, hat er sich jettlich amüsiert!“

„Wollen wir uns jetzt dazwischen setzen und einige Flaschen Champagner ausstechen?“ schlug stud. Fite vor, indem er sehr verächtlich auf die Bierfamilien herabsah. „Wi sind je de Lüüd, de <dat> dohn köht!“

„Jawohl, warum nicht gar geschunden“, negierte der Doktor; „auf ein andermal, jetzt <wollen?> wir nach dem Grunewald.“

Somit waren sie aus dem Tiergarten hinaus ins freie Feld marschiert, wo sie den Grunewald schon in der Ferne liegen sahen. Die Sonne schien <warm?> vom blauen Himmel, die Lerchen sangen hoch in der Luft ihre muntre Lieder, und alles war freundlich und fröhlich, wie es denn an einem schönen Sommermorgen zu sein pflegt. Da ging dem Student Nordheim das Herz auf in innerlicher Lust und Wohligkeit, und mit kräftiger Stimme sang er das schöne Lied von Eichendorff:

 

Wem Gott will rechte Gunst erweisen

Den schickt er in die weite Welt

Und lehrt ihn seine Wunderweisen

In Wald und Flur und Hain und Feld.

 

Fröhlich sekondierend und begleitend fielen die andern ein und sangen das Lied mit zu Ende, indem sie rüstig die Schenkel regten nach dem raschen 4/4 Takt, so dass sie in diesem Tempo fortschreitend bald das Nadelgehölz des Grunewaldes erreicht hatten.

„Kennt ihr den berühmten Grunewalder Wallfahrtsgesang“, fing der Doktor wieder an, nach seiner Weise in die Poesie ausschweifend, „es geht nach dem Jungfernkranz, ihr könnt gleich mitsingen!

 

Es sch – ß der Hund im Grunewald

Und wischte sich am Zecken

Und dennoch wollt er mit Gewalt,

Daß man ihn sollte lecken<.>

Schöner, grüner, schöner grüner Grunewald.“

 

„Schöner, grüner, schöner grüner Grunewald“, jauchzte der Chorus in überschwänglicher Ausgelassenheit.

„Der Doktor Wanst ist doch von allen Märkten zu Hause gekommen“, lachte Ezzel.

„Aber“, bemerkte Nordheim und dachte an die Kellerszene im Faust, „eigentlich scheinen mir <doch?> deine Berliner Nationallieder ebenso fade zu sein, wie dein Berliner Nationalvergnügen.“

„Tut nichts zur Sache“, redefendierte sich der Doktor, „es passt herrlich eins zum andern, und lässt sich prächtig singen.“

Unter solchen fröhlichen Späßen und Scherzreden zogen die vier durch den Grunewald, rupften hie und da bunte Feldblumen aus und schmückten sich Hut und Wams damit. <. . .> Endlich war mitten im Gehölz das romantische Jagdschlößchen <...> erreicht, das von vier Seiten mit Gehölz umgeben, von <. . .> einem kleinen Teich begrenzt wird, <und eine?> ganz eigentümliche, man möchte sagen, gemütliche und mysteriöse Bauart <hat?>. Der Doktor erzählte den andern gleich von dem schönen Schlossfräulein, die dadroben hause, von Mondschein und Entführung und was seine Phantasie derart noch sonst aufzubringen wußte. Nicht weit davon lugt einsam das Wirtshäuschen aus den Fichten hervor, wo eine alte freundliche Frau mit zwei netten Töchtern den Wanderern im Grunewald Ruhe und Erquickung gewährt. Hier kehrten unsre Freunde ein, und labten sich bald an einem guten Mittagsessen, und danach an einer schwarzen Tasse Kaffee, was alle sich mit einer unverkennbaren Behäglichkeit aus den Händen der freundlichen Wirtstöchter reichen ließen. Auch ermangelte der Studiosus Fite nicht<,> sich augenblicklich in alle beide zu verlieben und ihnen von Zeit zu Zeit kräftige Lobreden zu halten. Ezzel und der Doktor aber bemühten sich eifrigst, den Musikanten Nordheim ans Klavier zu bringen was sich in einer Stube nebenan zum Amüsement der Töchter befand; dieser setzte sich denn auch endlich dran, hatte aber wegen der Leute die sich noch sonst im Zimmer befanden kaum rechte Lust, und da das Instrument <. . .> verstimmt war, so ging man auf seinen Vorschlag ein und zog in den Garten um ein Pol Kegel zu schieben.

Nachdem der Junge aus den Kartoffeln und Gott weiß noch woher sonst die Kegel zusammen gesucht hatte, ging die Geschichte los; die Kugeln waren aber so klein, dass sie meist zwischen die Kegel durchflogen<,> und da die Kegelanten in ihrer Heimat die schweren Boßeln gewohnt waren, so kamen meist Pudel und allerlei seltsame Würfe zum Vorschein, wobei denn keiner unterließ jedesmal seine Laune über den Wurf des andern loszulassen. Der Doktor warf immer, als wenn er die Kugel in den Grund bohren wollte, der stud. Ezzel machte <andere Kunststücke,?> indem er sich bemühte, die ganze Bahn zu Ende zu setzen, und das Resultat war gewöhnlich, dass der eine nichts traf und der andere einen Pudel warf. Die Tafel war beinahe voll und noch nicht ans Ende zu denken, der Kegeljunge selbst konnte seine Lachlust und Verachtung nicht unterdrücken, da stellte Ezzel sich hin, als wollte er jetzt den Ausschlag geben, misst die Bahn mit gewichtigem Blick und schleudert die Kugel hoch drüber hin – –

„Alle 10!“ ruft stud. Fite und wälzt sich vor Lachen über die Bank hin, dass ihm die Luft vergehen wollte.

„Wahrhaftig neun Kegel und der Kegeljunge mit! das macht zehn!“ wisperte der Doktor und wischte sich mit seinem Schnupftuch die Lachtränen aus den Augen.

Es war aber nur blinder Lärm gewesen; denn als der Junge die gefährliche Kugel hatte heransausen sehn, war er seitab in die Kartoffeln gesprungen, woher er denn bald wieder auf die Bahn heraufkrabbelte.

 

„Die Spatzen fiel'n vom Hagel,

Die Schneider fiel vor Schreck!“

 

sang der Doktor, der sich in seiner Freude gar nicht wieder erholen konnte. Ezzel aber trat unter die Dreie und erhob seine Stimme und redete also: „Freunde und Genossen, mein ist die Tat, unser aller ist der Ruhm, jetzt haben wir den Zenit unsrer Größe erreicht; die heilige 9 habe ich überragt, mehr habe ich getroffen, denn je ein Sterblicher; darum lasst uns aufhören im Glück und fürder nicht die Götter versuchen.“

Also sprach Ezzel der studiosus theologiae; die andern aber begriffen den Sinn seiner Rede und nachdem sie ihren Zehrpfennig gezahlt, zogen sie wieder gegen Berlin durch die Fichten des Grunewalds, indem sie, auf einem andern Wege, bald kleine Hügel überstiegen, bald durch das dichte Gehölz sich einen Richtweg suchten. Dann wiederum standen sie still, schrien in die Ferne und zwangen übermütig die keusche Echo, ihnen allerhand hundsföttische Wörter nachzusprechen. Fröhlich waren sie wie vorher, die gute Laune war ihnen unverwüstlich, aber die Hitze drückte weit schwerer als am Vormittage, deshalb gaben sie Nordheims Bitten nach und streckten sich im Baumschatten auf die moosbewachsene Erde.

„Hätte wirklich nicht gedacht, dass man sich in <der> Nähe dieser alten staubigen Stadt so gut amüsieren kann“, fing Nordheim sein altes Thema wieder an.

 <„Ach, Unsinn“, widerlegte?> der Doktor, „die alte staubige Stadt bietet dir mehr als irgend eine, wo du bis jetzt gewesen, wenn du eben nur unbefangen das genießt, was da ist, und dich nicht gerade nur um das bekümmerst, was nicht da ist. – Wartet“, fuhr er fort, „ich will euch ein Lied singen, passt mir gut auf“ <. . .,> und fistulierte, wie folgt:

 

War ein Gesell zu Riekestadt,

Der fuhr zum Tor hinaus,

Und als er in der Fremde war,

Da war er nicht zu Haus.

Da schien ihm alles schief und schlecht

Und nichts nicht schien ihm recht.

 

Der Gesell trank gern ein gut Glas Wein,

Er trank es alle Tag

Und wie er in die Fremde kam,

Da fragt er gleich danach.

Da schmeckt der Wein ihm sauer sehr

Und macht ihm groß Beschwer.

 

Doch konnt er nicht vom Weine lân,

Das war halt gewaltig dumm,

Viel Bessers gab's noch in der Fremd,

Tat sich danach nicht um.

Die Mädels all so blank und schön

Hat er nit angesehn.

 

Da sprach der Meister, lieber Sohn,

Du drehst das Spiel nit recht;

Denn wo du umschaust, ist doch halt

Das gut und jenes schlecht.

Drum lass Gesell das Picheln sein

Und leg dich auf die Mägdelein!

 

„Merkst du was“, rief Ezzel; „das geht auf dich Nordheim, bedank dich!“

„Ja“, pflichtete dieser bei, „der Doktor hat ein moralisch Lied gemacht, und will damit meine Grundsätze verbessern. Schade nur um seinen letzten guten Rat! Mein Autor hat leider schon das Kapitel von der Liebe ausgelassen –Ha, ha, ha, Schade, lieber Doktor, Schade! Aber was fangen wir an, wenn wir zu Hause kommen? Wenn des Doktors Wirtin nur nicht wieder vor Gericht ist, damit sie nicht in Contumaz verurteilt wird, so möchte ich vorschlagen, heute Abend bei ihm den Tee einzunehmen!“

„Damit hätte es wohl am Sonntag Abend keine Not“, meinte dieser, „aber um <. . .> Nordheim <zu zeigen, dass?> man hier am Ende doch noch ein gutes Gläschen Wein bekommen kann, und um Ihren Gelüsten von heute Morgen zu begegnen, Herr Fite, möchte ich vorschlagen, heute Abend nach Lutter und Wegner zu gehen. Was meinen Sie dazu?“

Statt aller Antwort <umarmten die drei?> den Doktor für diesen herrlichen Einfall, und um die Festlichkeit des Tages voll zu machen, schlug Ezzel vor, sich, da man bei Zeiten noch die Stadt erreichen könne, <...> die Oper zu gehen, wo die Alceste von Gluck gegeben werde. „Die Gluckschen, Opern <werden hier bei häufig?> gegeben“, <sagte?> der Doktor und schwankte zwischen ja und nein, und Fite meinte ganz ernstlich, es werde zu viel auf einmal; da Nordheim sich aber kräftig auf Ezzels Seite schlug, so ging <...> doch dieser Vorschlag durch und man machte sich eiligst auf die Beine, um die Zeit nicht zu verfehlen.

 

Kap. VI.

Da nach Beschaffenheit der menschlichen Natur wir alle leider größeres Interesse für die Leiden, als für die Freuden – unsrer Mitmenschen zu haben pflegen und ich trotz aller Hochachtung gegen meine geneigten Leser nicht annehmen darf, dass sie hierin eine Ausnahme von der allgemeinen Menschlichkeit machen, so will ich ihnen, da es <nun?> überhaupt mit den Leiden des stud. Nordheim <aus ist,?> zum voraus versprechen, dies zweite Kapitel von seinen Freuden recht kurz abzutun und damit mein Büchelchen zu schließen.

Wir treffen Nordheim mit den 3 übrigen im Parkett des Opernhauses, das heute leider nicht so besetzt ist, wie es das Stück verdiente. Die Glucksche Alceste ist groß <und ewig?> wie die verstoßenen Götter; <in fest bestimmten?> Grenzen schreitet die Musik mit der dramatischen Entwicklung fort <und wie die?> Gluckschen Meisterwerke den <. . .> Übergang vom Oratorium zur Oper bilden, so ist auch vorzüglich der <...> Ernst und die Würde des Oratoriums sichtbar und dem Gegenstand vorzüglich günstig. Das Ganze macht <ganz?> den Eindruck der antiken Tragödie.

 

Quellen

LL 4, S. 448-469; Kommentar S. 948-954. Ediert nach der Handschrift in der SHLB, die einige Wasserschäden aufweist; hier in einer leserorientierter Fassung.

Noch in Berlin schrieb Storm diese literarisierten Erinnerungen an seinen Studienaufenthalt in Preußen nieder, wo er vom Sommersemester 1883 bis zum Herbst1839 an der Friedrich-Wilhelm-Universität immatrikuliert war.

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Auf dem Theater*

Es ist Sonntag nachmittag vier Uhr; der Direktor in Hemdsärmeln und furchtbarem Amtseifer hämmert, klebt, kommandiert, schilt und flucht. Der Komiker Dircks steigt schwärmend zwischen Stühlen und Latten herum, memoriert seine Rolle, zitiert Stellen aus dem „Don Carlos“ und beglückt dabei bald diese, bald jene Schauspielerin mit einer halben Umarmung. Der Maler klebt eifrig mit, damit seine Dekorationen ins gehörige Licht gesetzt werden, streitet sich mit dem Direktor über das Decken der Setzstücke und streicht sich behaglich den angeklebten Knebelbart. Die Damen gehen ab und zu, lachen noch mitunter über die Witze des Komikers, fassen, sich an ihr kleines Herz, memorieren ihre Rollen und sagen: „O Gott, o Gott!“ – Der Tenorist übt mit dem Musikdirektor noch seine Lieder; beide können sich in dem Spektakel oft gegenseitig nicht verstehen. Rosenberg ist als Theatermeister sehr emsig; aber da er gar nicht durchfinden kann und allenthalben Widerspruch findet, so wird ihm die Sache am Ende verdrießlich. Die andern sind vom Direktor kommandiert und stehen sich mit dem größten Amtseifer gegenseitig im Wege. Niebuhr hat bereits sein Müllerkostüm angezogen, besieht die blanken Stahlknöpfe in seinem weißen Kamisol und freut sich über die allgemeine Verwirrung. Zu allem diesem spielt Scheby brillante Variationen, nachdem der Tenorist sich heiser gesungen.

 

Direktor: Kuhn, wo sind Sie?

Kuhn: Herr Rehse!

Direktor: Ach, möchten Sie nicht so freundlich sein, den Komödienzettel abzuschreiben.

Kuhn: Na – wo so denn – –?

Direktor: Ich hab ihn in Eiseners Stube hingelegt.

Alle: Aber unterstehn Sie sich nicht, die Namen dabeizuschreiben!

Kuhn: Na, aber hären Se mal – na, ich will's schon recht machen. (Ab.)

Maler (für sich): Schafskopp!

Direktor (Kuhn nachrufend): Wollen Sie denn wohl so freundlich sein! – (indem er den Hammer gegen die Wand wirft) Verfluchte, verdammte Lumpenflickwerk! Nun will der knotige Schund nicht festhalten! – Wo stecken Sie denn alle, Eisener! – – Ach!

Schlichtmann tritt herein und wird sogleich als Lampenmeister angestellt. Die andern beschäftigen sich auf die obenerwähnte Weise. Darauf tritt Kuhn herein und bringt den Zettel:

 

Heute Sonntag, den 23. Februar:

Theatr. alla scala

Der Stellvertreter, Lustspiel in einem Akt

Uhrmacher HippelHerr Schlichtmann, mit dem Beinamen Gillis.

Luise, seine TochterDem. Kuhn, ein Backfisch.– Weiter nichts? – Weiter nichts!

Amanda, seine NichteDem. Völkner, ein Mädchen ohne Furcht und Tadel.

Wolfgang TrollbergHerr Storm, ein unverbesserlicher Liebhaber.

Alexander TrollbergHerr Dircks, Theaterarzt und Besitzer mehrerer Edelhöfe im Monde.

Ein BedienterHerr Kuhn, verfehlter Tenorist, derzeit für das Bedientenfach engagiert.

 

Hierauf:

Der reisende Student, Vaudeville in zwei Akten

Jakob, ein MüllerHerr Niebuhr, der Müller vom vergangenen Jahr.

Tollberg, gräflicher VerwalterHerr Dircks, verbrauchter Liebhaber, jetzt groß als komischer Mime.

Brandheim, IngenieurlieutenantHerr Storm, erster Tenorist.

Hannchen, Jakobs TochterMad. Röse, Frau Direktorin.

Margarethe, WirtschafterinDem. Völkner, ein handfestes Mädchen.

Mauser, ein StudentHerr Wagner, Tenor-Buffo und Theatermaler, ein junger Mann, über den sich manches sagen ließe.

Das Gewitter hinter den Kulissen wird ausgeführt von Herrn Direktor Röse, der Feuerlärm von mehreren Mitgliedern des Theaters alla scala.

Die Dekorationen im ersten Akt und die Setzstücke im zweiten sind vom Herrn Dekorationsmaler Wagner.

Das Lied „Der Vater sagt usw.“ im ersten Akt ist vom Opernregisseur Herrn Storm.

Wegen Mangel an Platz ist der Zutritt auf der Bühne ernstlich untersagt.

Musik dazu macht der Kapellmeister Herr Scheby.

 

Quellen

LL 4, S. 466-469; Kommentar S. 914f. Ediert nach den einander ergänzenden Erstdrucke Gedenkbuch 1916, S. 35-37 und Köster 1920, Bd. 8, S. 16-18.

Storm trug in das Stammbuch seines Berliner Freundes, des Malers Theodor Wagner, am 1. August 1839 anlässlich seiner Abreise aus Berlin nach dem Ende des Sommersemesters acht seiner Gedichte ein.

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Bertha von Buchan*

Hamburg 24. März 1842.

Ich wollte noch einmal ihre Stimme hören, sie selbst noch einmal sehen. ‒ Guido musste der alten Schicht einen Brief und ein Andachtsbuch als Geschenk von mir überbringen, um gesprächsweise von dieser zu erfahren, in welcher Kirche sie konfirmiert sei. Nachdem dies mit ihm verabredet und er voraus gereist war, kam ich gestern hier an. Um nicht mit ihrer Mutter und ihr selbst zusammenzutreffen, wollte ich keinen Verwandten sehen; und war daher nicht in geringer Besorgnis, als ich den Bedienten meines Vetters beim Stillhalten am Altonaer Posthause in der Tür stehen sah. Doch bemerkte er mich nicht. Hier empfing mich Guido und benachrichtigte mich, dass alles glücklich abgelaufen sei, und wie gerührt die alte Schichten darüber gewesen, dass ich so treu an sie dachte. ‒

Gestern Abend ging ich zu ihrem Hause; konnte aber weder oben in ihrem Stübchen, das nach dem Wall hinausgeht, wo wir so oft zusammengesessen, wenn uns nach Tisch die Mutter aus der Stube jagte, noch vorne im Wohnzimmer ihre Gestalt oder ihre Stimme bemerken. Ich kam mir vor wie ein rechter Narr, konnte aber nicht vom Fleck.

 

Mittag

Guido und ich standen über eine Stunde vor der <Kathrin>kirche, bis alle Kutschen weggefahren waren; sie aber kam nicht. Da ging er in die Bierhalle und ich nach Hause. Ich war beinahe an der Tür; und als ich aufsah, kam sie mir entgegen ‒ wir sahen uns an, wir sagten nichts, wir grüßten uns auch nicht. Es kam mir vor, als wenn ihre Augen ‒ ‒ es lag ein ungeheurer Ernst in diesem Blick.

 

25. März Nachmittags

Den übrigen Teil des gestrigen Tages musste ich mit Guido bei seinen und des Doktors Verwandten Visite machen. Die erste alte Tante, die wir besuchten, wird mich ohne Zweifel für verrückt gehalten haben; mittags bei Guidos Eltern ging’s schon besser; und Abend bei des Doktors Eltern brachten mich einige Gläser Punsch und die tolle Schwester des Doktors in eine förmliche Ausgelassenheit. Guido u<nd> ich blieben die Nacht da. Fräulein Minna war am Morgen fast in derselben Laune; und ich musste dem Unsinn ein Gedicht in ihr Bilderalbum schreiben. ‒ Ich komme mir wunderbar vor hier; alle Leute, mit denen ich verkehre, sind mir fremd; was ich liebe, geht mir wie im Traum vorüber.

Seit Mittag sitze ich wieder auf meiner Stube u<nd> friere u<nd> warte, dass die Uhr halb sieben wird, um neue Besuche bei fremden Leuten zu machen.

 

26. März Mittags.

Was tue ich weiter hier; Ich habe sie gesehen und das ist alles was ich wollte; doch kann ich mich nicht losreißen. Wenn ich auf der Straße gehe, ist mir immer als sollte sie mir begegnen, mir stehen immer die Augen vor, mit denen sie mich vorgestern morgen ansah; ich erschrak heute vor ein Paar Mädchenaugen so heftig, dass ich Herzklopfen bekam, und diese Augen waren mir doch fremd und ohne alle Ähnlichkeit mit ihren.

In allen Wegen, die ich heute machte, musste ich an sie erinnert werden; hier hatte ich mit ihr, als sie noch Kind war, vor den Ladenfenstern die Porzellansachen beschaut, hier hatten wir zusammen Einkäufe für meinen Vater gemacht, aus dem Blumenkeller hatte ich in späterer Zeit immer die Myrten mitgebracht, die alle nicht wachsen wollten.

 

So muss mich alles, alles mahnen

an die vergangne schöne Zeit;

So nah ist alles was ich liebe

und doch so unerreichbar weit.

 

Kiel 2t April.

Am zweiten Ostersonntag ging ich mit Guido zur Nachmittagspredigt in die Kathrinkirche; die Predigt hatte schon angefangen. Die Kirche war still, und als wir aufs Chor hinaufgingen, blieb unser Eintritt nicht unbemerkt. Als ich von oben in die Kirche hinabschaute, war es meinen Augen zu weit, um unten deutlich die Gesichtszüge der Frauen zu erkennen. Ein blasses Mädchen ließ mich nicht los, und ich fühlte, sie wars. Sie wandte das Gesicht zu mir hinauf; und ihre Andacht musste der Andacht der Liebe weichen; denn sie schaute nicht zum Priester, sondern zu mir; und als nun nach der Predigt der Gesang begann, da trugen die Orgeltöne unsere Gedanken hin u<nd> wieder. Da war ich überzeugt, sie habe mich verstanden, sie wisse den Grund meiner Reise; sie liebe mich.

Als sie aufstand, erkannte ich sie deutlich; ein fremdes Frauenzimmer begleitete sie. ‒

 

Einige Tage später begegnete ich ihr wieder mit ihrem Vater, ich bemerkte sie zu spät u<nd> sah ihr nicht in die Augen. Diese Begegnung ohne irgendeinen Eindruck stimmte mich herab, mir war wieder all mein Glaube verloren. Guido saß den Abend lange vor meinem Bett, auch den folgenden Abend; und so konnte ich doch einem treuen Herzen aussprechen, wie ich sie liebte und wie liebenswert sie sei. Ich hatte ein eigentliches Bedürfnis, dass mir die Brust zerspringen möchte; mir war es als müsste das geschehen in der Vereinigung mit ihr.

Vorgestern war einer von den Tagen, von denen man fühlt, dass sie einem zur Freude prädestiniert sind; ich hatte das Gefühl als müsste ich durchaus vergnügt sein und konnte denn doch wieder nicht.

Gestern Abend waren wir bei der Mad<ame> Nolte in Gesellschaft; ich erschrak als die älteste, elfjährige Tochter hereintrat. Es war Bertha als Kind aber mit schwarzen Augen; doch stellten die wenig die Täuschung. Alle bemerkten den Eindruck, den das Kind auf mich hervorbrachte; der D<okto>r riss schlechte Witze. Man sprach darüber, dass ihr so die kräftige Gesichtsfarbe der Schwester fehle. Ich sagte unwillkürlich „Blass muss sie sein!“ Guido guckte mich an; und hatte alles verstanden. Ich las auf Bitte der Damen einige alemannische Gedichte vor; die Kleine stellte sich zutraulich an meinen Lehnstuhl, sah mit mir ins Buch und bat ich solle doch noch eins lesen.

 

Das war ein Ton verklungener Freude ‒

So war’s um mich ‒ O holde Jugendzeit,

Wie fühlst du noch mit wunderbarem Leide

Und liegst so weit, so weit.

 ‒ ‒

 

Ich hatte in der letzten Zeit gewünscht, ihr allein zu begegnen, es geschah nicht. Ich schrieb folgenden Brief, den Guido unter allen Hinderungen sicher in ihre Hände zu liefern versprach; und er ist zuverlässig. ‒ In den Brief legte ich die beiden Gedichte: „Lebewohl“ vom März 1841 und „Und blieb dein Auge immer ohne Tränen“ vom März 1842. […]

 

Gestern Abend hatten wir noch für G<uido> ein Bett in meiner Stube aufschlagen lassen; und als wir um 1 Uhr aus der Gesellschaft nach Hause kamen, schwatzten wir noch lang in die Nacht hinein. Dann gings heute morgen fort.

 

Wie rasch mich die Rosse auch vorwärtstragen,

Die Sehnsucht reißt mich weit zurück

Die können sie nicht überjagen.

 

d<den> 9t May: Morgens.

Guido hat sie nicht wiedergesehen; der Brief ist nicht in ihre Hände gekommen.

Hamburgs Schicksal hat hier Alles in Aufregung gebracht, das Militär ist requiriert, die Sprützen<,> Ladungen von Brod sind hingeschickt, um der Unordnung, dem Feuer und dem Mangel abzuhelfen. Gestern Abend (Sonntag) war der Markt mit Menschen aller Stände angefüllt; die Soldaten zogen weg; eine Menge Studenten verlangten Geld und Waffen vom Rektor, um mitzuziehen. Ob sie auch die Nachricht, dass das Feuer gelöscht, doch nicht von dieser Ritterfahrt abgestanden, weiß ich doch nicht. Wenn Altona gefährdet wird, gehe ich doch noch auf eigne Faust hinüber. Bertha u<nd> Therese werden doch bei Scherffs sein. Ich habe an Friederike geschrieben, mir umgehends zu sagen, wo Bertha sei. Morgen werde ich Nachricht erhalten.

_

 

Ich habe auf den Brief, der nur eine aufgeregte Frage nach Bertha enthielt, Antwort erhalten; und darin einen Gruß von B<ertha> u<nd> Therese._

Ich habe mein Nachtlied, an Friederike geschickt; ich denke, sie wirds ihr vorsingen.

 

Schlafe du! aus weiter Ferne

Lull’ dich ein mein Schlummerlied!

 

Quellen

Eversberg 1995, S. 135-141.

Diese Notizen wurden von Storm vom 17. März bis 29. Mai 1842 auf Einzelblätter geschrieben (StA), während er sich bei seinem Studienfreund Guido Noodt in Hamburg aufhielt und versuchte, wieder mit seiner Jungen Freundin Bertha von Buchan zusammenzutreffen.

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Ich habe das Kind geliebt*

Ehe Du anfängst meinen Brief zu lesen, muss ich Dich bitten, ihn allein zu lesen; denn ich muss Dir allerlei beichten, um danach Deine Hülfe in Anspruch zu nehmen. Glaube indes nicht, dass ich etwas von Dir verlange, das Dir irgendwie misslich wäre mir zu gewähren.

Es betrifft eine Sache, die ich bis jetzt immer vor Dir geheim gehalten habe, nicht weil Du mir nicht lieb genug wärest, sie Dir mit zuteilen, sondern weil ich nach allen Deinen Äußerungen überzeugt war, Du würdest mich in diesem Punkte nicht verstehen. So hab ich denn immer geschwiegen; wenn ich Dir indes jetzt sage, dass es den größten Teil meines Glücks ausmacht, so hoffe ich so weit Dein Vertrauen zu besitzen, dass Du mir ohne Weiteres Glauben schenkst. Lass mich etwas weit ausholen!

Du weißt, dass ich Bertha schon als Kind immer die Schleppe nachgetragen. ‒ Seitdem ich sie an dem Weihnachtsabend gesehen hatte, den ich noch bei Lebzeiten Deiner vortrefflichen Mutter mit Euch verlebte, bildete sich ein Gedanke bei mir aus, dies Mädchen geistig an mich zu fesseln. Und jetzt muss ich Dir das Manchen vielleicht Unbegreifliche sagen, ich habe schon damals das Kind geliebt. Aber Du darfst nicht darüber nachdenken. Liebe Friede, Du musst mir blindlings glauben! ‒ Ich hatte besondere Freude daran, als Therese auf meine Bitten dem Kinde einmal ihre reichen Locken wiedergab, ganz so wie das Bild ‒ denn ihre Locken waren schon damals gebunden ‒ und als ich nach Lübeck zurückkam dichtete ich mein „Lockenköpfchen“, das noch jetzt mir eins meiner Liebsten Sachen ist.

 

Quellen

Theodor Storm an Friederike Scherff, März 1841; in: Eversberg 1995, S. S. 124f.

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Erinnerungen an Bertha*

Die Liebeslieder der Minnesänger, die der Schlesischen Dichterschule, die Gleimschen Liebeslieder und die nach ihm bis zur Zeit, wo Göthe anfing zu dichten, ‒ ‒ ‒ lest sie, die ihr die Liebe nicht kennt. Es ist ein zierliches Spiel, ihr hört das Wort Liebe klingen im Reim, aber ihr versteht es nicht; denn die Dichter verstanden es selbst nicht. Doch in dieser Nacht steht ein Mann, hütet euch vor seinen Liedern! Sie sind wie ein Schwert<,> gefeit um Mitternacht und bezahlt mit der Seele. In seinen Liedern hat er sich verzehrt; jedes Lied ist geschmiedet aus Jugendliebe und Leben; hütet euch! Sie singen in eure Herzen brennendes Verlangen und tödliche Sehnsucht. Er schrieb sich auf sein Grab:

 

Mein Pilger lies geschwind und wandle deine Bahn;

Sonst steckt dich noch mein Staub mit Liebe und Unglück an.

 

Ich denke dran, wie ich vor Jahren oben auf der kleinen Elbstube in dem alten Lehnstuhl der gestorbenen Großtante saß, wo mir der Nachmittag gar nicht hingehen wollte, bis zu der Stunde, wo sie mit ihrer Mutter erwartet wurde. Ich hatte aus dem altväterischen Repoisitorium allerlei Bücher vor mir aufgestellt und las und las und wußte vor Ungeduld gar nicht, was ich las. Die Nachmittagsonne schien warm ins Stübchen und beleuchtete an den Wänden die alten Kupferstiche. Meine Augen glitten übers Buch ins Zimmer umher und der urgroßväterliche Hausrat des Ganzen versetzte mich in eine wunderbare friedliche, fromme Stimmung. Ich dachte mich lebhaft in die Zeiten hinein, wo dies von meinen Voreltern gebraucht und besessen war. Ich dachte an ihre Feste und Hochzeiten, wovon mir die Großmutter erzählt hatte ‒ ‒ es hat einen tiefen Zauber, es zieht uns hinein ‒ in die alte Zeit. Endlich, endlich ging unten die Türglocke und ‒ ‒ ‒

Ich denke dran, es ist manches Jahr her, doch lässt es mich nicht ‒ sie hat einen tiefen Zauber, die alte Zeit.

 

Ihm ist vor vielen Jahren die Braut gestorben. Er saß damals vor dem Lehnstuhl, in dem das bleiche kranke Mädchen ruhte; er sah ihr in die blauen Augen; sie waren noch die Boten ihrer Liebe; der Blick ward zur Umarmung; sie glaubten nicht an Tod und Scheiden. Sie starb in seinen Armen; er legte sie sanft zurück; er hatte keine Liebe mehr auf Erden. ‒ Als er auftauchte aus der Nacht des Grams, da war seine Jugend vorüber. ‒ Ihr kennt ihn alle! Er ist jetzt ein starker, froher Mann. Denn seine Jugend war in ihr vollendet worden; geliebt hat er nicht wieder.

 

Der Gott der Weiber ist eigentlich nur ein Hausgötze; jede macht ihn sich so groß, dass sie damit ohngefähr die Leere ihres Herzens ausfüllen kann; daher ist er am bedeutendsten bei alten Jungfern und jungen Mädchen vor der ersten Liebe; und wer nicht weiß, dass es bei den letztern in der Regel nur auf ein kurzes interregnum für ihren Herrgott hinausläuft, dem möchte bei solcher Konkurrenz etwas wunderlich zu Mute werden.

 

Mir liegt beständig ein künftiger Herbstnachmittag im Sinn, wo im Garten die roten Weinblätter vom Spalier fallen, und wo die goldne Herbstsonne dem Mädchen auf dem braunen Haar schimmert. Im Hause werden schon die Lichter angesteckt, die Sonne geht unter, das Mädchen zieht mich fröstelnd an sich; wir gehn langsam ins Haus zurück ‒ ‒ ‒ Ob der Nachmittag wohl kommen wird? Die Wälder färben sich schon. Ehe das Laub gefallen ist, muss alles entschieden sein wohl oder wehe.

 

Mir träumte die Nacht, ich ginge in den Straßen von Hamburg; aber sie waren wunderlich zusammen gesetzt und ich verirrte mich. Schon lange ging neben mir ein stilles Mädchen, ein halbes Kind; ich fragte einen Vorübergehenden nach der Dienerreihe. Da wandte das Mädchen ihr Gesicht und sagte mir den Weg. Es war der Ausdruck<?> deiner Züge, es war auch deine Stimme, aber du warst es nicht. Wir gingen so neben einander und kamen in eine Straße, wo das Wasser quer durchfloss, es fehlte die Brücke ‒ ‒ ‒

Im Wachen hab ich mir zusammengedacht, das stille Mädchen seist doch du, das Kind gewesen, die mich zu dir, der Jungfrau, führte. Aber wir kamen nicht so weit. ‒ Gute Nacht! Ich will schlafen und träumen, vielleicht komm ich dann hinüber zu dir.

26. Aug<u>st Abends im Bett

 

Fried<rich> Hebbel, Gedichte. Hamb. 1842. ‒ Weil in den mei­sten derselben nur der Anstoß poetisch ist, in der Aus­führung ab<er> die Unmittelbarkeit verschwindet, so hat die Verstandesoperation oft zu Unnatürlichem geführt Va­ter unser ‒ Unterm Apfelbaum ‒ Das Scharfsinnige ‒ mater, virgo ‒ kann das Poetische nicht ersetzen. Er reflektiert fast immer, ist der modernste aller Poeten, oft großar­tig, bleibt er immer in den Grenzen seiner Judith.

 

Das aber sah sich hübsch an. Die Predigt war zu Ende; vor mir saß die vierzehnjährige Tochter des verstorbenen ‒ ‒ Nun trug der Pastor eine ewige Liste von Verstorbenen vor, die sich zu verehlichen dachten. Da sah ich von Anfang an, wie die Wangen des Mädchens zuckten, und wie lächelnd die Röte ihr ins Gesicht stieg, mehr und mehr, bis sie brannte wie eine Rose, und ward doch ihr Name nicht mit abgekanzelt.

 

Quellen

Eversberg 1995, S. 141-144.

Diese Notizen hat Storm im Juni bis August 1842 in seine Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ auf den Seiten 104-109 eingetragen.

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Von Kiel nach Husum*

Die Reise war im Ganzen recht erfreulich; ich sah den Wald in meinem Leben nicht so schön, noch vollbelaubt und durch alle Farbentöne spielend vom Grau zum dunkeln Roth, und alles das im Sonnenschein. In Schleswig fand ich meinen Vater, wie ich es mir dachte und wie auch Sie es prophezeiten, durchaus liebenswürdig. Wir fuhren denselben Nachmittag auf Husum zu; es war mir doch wohl ein eignes Gefühl, als ich unter meinen jetzigen Plänen, oder um mit Ihnen zu reden, mit häuslichen Gefühlen die bekannte Gegend auftauchen sah. Der Wald verschwand, wir fuhren durch flaches ödes Land, und wie es dunkel wurde, wetterleuchtete es fort und fort über der weiten Heide; man sagt, dann scheidet sich die Jahreszeit. Es wurde über dem Fahren ganz dunkel; da hört ich's deutlich brausen aus der Ferne; das war ein bekannter Laut. Die Nordsee war's, und meine Vaterstadt lag dicht vor mir; ich war zu Haus. Lichter und Leute brachen aus der Haustür, und die Stimmen meiner Geschwister schrien durcheinander „Ist Theodor mit? Ist Theodor mit?“ So bin ich denn nun hier; die ersten Tage, während der Anwesenheit des Alten, habe ich ihn lediglich die notwendigsten Sachen expedieren helfen, so dass er nur die Kladden diktierte; wir schafften so ziemlich was von der Hand; doch liegt noch genug.

 

Quellen

Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 31. Oktober 1842; Br. Mommsen, S. 33f.

Nach Beendigung des Jura-Studiums brach Storm seine Zelte in Kiel ab und fuhr nach Schleswig, wo er sich mit seinem Vater traf, der dort in seiner Funktion als Abgeordneter der Ständeversammlung tätig war. Dann ließen sich Vater und Sohn von ihrem Kutscher nach Hause bringen.

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Spukgeschichten*

Ich kann die kurze Zeit meines Hierseins nach ihrem verschiedenartigen Charakter schon in Perioden einteilen; in der ersten Periode war der erneute Eindruck des alten Familienhauses und der alten Vaterstadt vorherrschend; Erinnerung sah mich aus allen Winkeln an mit tausend Augen; dabei sammelte ich Sagen und Volksglauben und Märchen, die mir von allen Seiten zuflössen; wegen meines Unwohlseins ging ich nicht aus; nur zu einer alten halbverrückten Person, die in einem unsrer Hinterhäuser in einem zimmerartigen Verschlage haust, bin ich Abends mehrmals gegangen, um mir unter den sonderbarsten Exklamationen und Gebärden Stücke von ihr erzählen zu lassen. Dabei schnurrte in den Pausen das Spinnrad, der Kater lag unter dem Ofen und schnarchte wie ein Kind; denn er war krank und medizinierte; auf dem Tisch brannte eine Tranlampe – vollkommner Hexenapparat.

Mir war in der Periode ganz graulich zu Muth, es wurde in unserm Hause so viel und immer des Abends von Sagen und dann von Volksglauben überhaupt gesprochen; meiner Mutter war selbst allerlei widerfahren in den letzten Jahren, was ich noch nicht wusste. Da verbreitet sich noch obendrein folgende Geschichte wie Brand durch die Stadt. In dem Dorfe Rantrum brannte voriges Jahr ein Haus aus, wie man sagt durch Anzünden des Eigentümers, er erbaute ein neues Haus auf der Stelle; das er an einen jungen Roßkamrn verkaufte. Dieser nahm sich den letzten Herbst eine junge Frau; aber in der Hochzeitsnacht erkrankten beide, er starb nach 14 Tagen, sie liegt noch zu Bett und ist, obgleich die Ärzte es wollen, nicht zum Aufstehen zu bewegen; sie kann nicht vor Grauen aus dem Bett. In dem Pesel des Hauses ist plötzlich eine Hand aus der Wand gewachsen, vollkommen mit Gliedern und Gelenken; man hat sie abgeschnitten und sie in einer Schachtel bewahrt. – Ich versichere Sie, am Abend, da die Dienstmädchen diese Geschichte mit so sicherm Glauben erzählten, fühlte ich so recht, wie mir der Spuk faustdick unter die Nase kam, und die poetische Betrachtung musste dem Grauen weichen. Sie müssen wissen, meine Stube ist, wie es hier im Hause heißt, gewaltig unruhig, und wahr ist es, es kracht und flüstert mitunter wunderlich, als wenn die Nacht mit tausend Zungen spräche, und von Zeit zu Zeit fällt ein schwerer Seufzer zu Boden.

 

Quellen

Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 1. Dezember 1842; Br. Mommsen, S. 39.

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Schwester Cäcilie*

Das Wetter passt zu der Geschichte, die ich zu erzählen habe.

Der Sohn des Physikers Hans Chr. Örsted logierte, wie Du vielleicht erinnerst, als Auditeur bei meinen Eltern. Als ich sein Verhältnis mit Cäcilie entdeckte, war es schon zu spät. In diesem Falle hatte ich die Dänen zuviel gemieden. Ich teilte die Sache sogleich meinem Vater mit, und wir gingen dann zusammen zu dem jungen Menschen. Es wurde verabredet, daß die Hochzeit um etwa vierzehn Tage, wo seine Militärpflicht zu Ende ginge, gehalten werden solle. Ich habe niemals einen so verhagelten Menschen gesehen. Als die Zeit um war, reiste er plötzlich weg, wie ich jetzt wohl sehe, aus purer Ratlosigkeit und um sich seiner Familie in die Arme zu werfen; denn nach einigen Tagen kam wieder ein Brief von ihm über den Zeitpunkt und Ort der Trauung; mittlerweile war aber Vater mit Cäcilie und Agnes Wommelsdorff schon nach Kopenhagen gereist, wo Vater sich durch den uns verwandten Prof. Forchhammer, der ein genauer Freund des Ørstedtschen Hauses ist, bei der Mutter einführen ließ. Dort wurden denn die beiden jungen Sünder, welche beide noch wahre Kinder sind – er ist grade in den Schlingeljahren –, durch den Dr. Johannsen getraut. Die Mutter ist sehr zärtlich gegen Cäcilie gewesen, hat aber leider den jungen Mann, der ein Muttersöhnchen zu sein scheint, ein Jahr auf Reisen geschickt, statt ihn tüchtig an die Arbeit gehen zu lassen. – Zerstreuung statt Konzentrierung, der gewöhnliche moralische Missgriff der Gesellschaft. – Nach einem Jahr werden die beiden Leute denn wohl vielleicht versuchen, ob sie mit ihrer Ehe etwas anstellen können. Was soll man aber davon hoffen. Mündlich sollst Du das Spezielle hören. Meine Eltern haben namenlos dabei gelitten; ich dachte, der Alte wäre gestorben. Bei mir war der Humor bald Meister der Sache, z. B.: Gasel

 

Ohne Blut und ohne Liebe, nennt man das einmal Verwandtschaft,
Muss man wenigstens, so dünkt mich, nennen es nicht Wahlverwandtschaft,
Aber soll es absolute diesen schönen Namen tragen,
Bleiben wir nur hübsch im Reimen, nennen wir es Qualverwandtschaft.

 

Quellen

Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann vom 30.5.1851; in: Br. Brinkmann, S. 64f.

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Eine Koogsgerichts-Verhandlung*

Meine Partei, das alte tolle Weib, war gestern Abend wieder bei mir, sacrirte auf alle mögliche Weise und wollte in ihrer Sache einen Eid leisten „dass ihr der Dampf zum Hals ausflöge“ und „das Essen solle ihr im Magen verrotten“ wenn es nicht wahr sei. Mit dieser liebenswürdigen Person auf dem Bock ging denn heut morgen die Fahrt los. Das Gericht, was merkwürdigerweise, wie wir aus dem alten schweinsledernen Protokoll ersahen, seit 1769 nicht gehalten worden war, bestand aus 4 Eiderstedter Rathleuten, 2 Koogsvorstehern und Setzer als Actuar, dem Landvogt als Direktor.

Es war ein eigentümliches Gefühl, als ich unsre Verhandlung unmittelbar unter eine protokollieren sah, welche vor 76 Jahren passiert war. Wer hat damals plädiert, welche Leute haben damals zu Gericht gesessen? Ihre Namen waren nicht genannt, wir wissen nicht mehr, dass sie gelebt haben; so wird vielleicht wieder nach 76 Jahren Jemand das alte Protokoll in die Hand nehmen und wir werden ganz vergessen sein, mit Allem, Allem, was uns jetzt so stark und mannigfach bewegt; und dieser Jemand wird dann vielleicht ebenso fragen „Wer mag damals hier gestanden, hier geredet haben?“ Wahrscheinlich indes hat dann freilich schon lange eine neue Gerichtsverfassung diese alten Überbleibsel der Volksgerichte verdrängt. – Mit meinem Vortrage bin ich zu frieden; es ist mir, als wäre nach dem Gelingen der Schwabstedter Sache alle Besorgnis von mir genommen, dass ich mich jemals wieder bei solchen Gelegenheiten blamieren könne. Elsabe Pernau suchte freilich auch mitzuplädieren, wurde aber leider nicht angenommen. Während die Herrn des Gerichts (bei verschlossenen Türen) über die Urthel deliberierten, gingen Beccau und ich erst mit dem berühmten Pastor Hansen in sein Haus und dann die (leider neue) Kirche zu besehen, und setzten darauf, als bei unsrer Rückkehr die Herrn noch nicht einig waren, unser Plädoyer in der Wirtsstube bei einer Tasse Kaffee zur Ergötzlichkeit der Zuhörer fort. Endlich schlug die entscheidende Stunde, und ich wurde, wie ich erwartet, mit der Klage abgewiesen.

Als Elsabe Pernau das gehört und verstanden hatte, erklärte sie dem Gerichte, in Simonsberg gebe es wohl einmal solche Fahrt, sie wolle jetzt ans Obergericht, das ginge schlanker. Darauf erzählte sie eine Geschichte, worin die Advokaten sich durch Butter und fette Gänse bestechen ließen und erklärte in Pastor Hansens Gegenwart, dass er ja kein Priester, sondern ein Advokat sei. Durch diese Naivität entstand bei Allen eine große Heiterkeit und ich riskierte noch einmal mit dem verehrlichen Gerichte etwas Kaffee einzunehmen. Kaffee ist nämlich gut gegen Katzenjammer, und mir war während der Verhandlung von meinem verzweifelten Tabakkauen und dessen Folgen wirklich sehr katzenjämmerlich zu Mute. Zu Mittag, den ich bei Beccau einnahm, waren wir wieder in Husum. Von da an hab ich mehr oder weniger in Zahnweh gelebt, den ich heut Abend durch ein Fußbad vertreiben will. – Eben schlägt die Uhr sieben, und es wird schon etwas dämmrig. Das ist der Herbst die Blätter fliegen, durch nackte Zweige fährt der Wind, bald steht der Garten ganz verödet, und du bist fern geliebtes Kind. –

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 3.-6.8.1845; in: Br. Constanze E. Bd. 1, S. 182 f. und Anm. S. 430 f.

Storm nahm im August 1845 an einer Verhandlung eines altertümlichen Koogsgerichts in Simonsberg bei Husum teil, er kannte sich genau in den komplizierten und uneinheitlichen Rechtsverhältnissen im Herzogtum Schleswig aus, die teilweise noch auf das Jütische Lov aus dem 13. Jahrhundert zurückgingen. Koogsgericht bezeichnet eine eigene Gerichtsbarkeit in den oktroyierten Kögen Nordfrieslands.

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Zwei Kuchenesser der alten Zeit

Nur wenige mögen sich noch des Verfassers der Urhygiene entsinnen, insonders seiner so beherzigenswerten Worte: „Was süß und was lieblich ist, das genießet; aber werfet von Euch mit hochsinnigem Abscheu das giftige Dampf– und Nieskraut!“ Und doch ist wenigstens der erste Teil derselben seit lange Fleisch geworden; Denker, Dichter und Helden, Alles isst jetzt Kuchen, ohne dadurch in den Verdacht der Originalität zu kommen oder sonst von der bürgerlichen Reputation etwas Merkliches einzubüßen. Die meisten Älteren aber werden wissen, daß in unserer Jugend Solches für ganz unmännlich galt und lediglich den Frauen zugestanden wurde; und nicht zu leugnen ist es, dass sich unter den Kuchenessern der alten Zeit manche seltsame oder wohl gar unheimliche Figuren befanden.

Zu den ersteren gehörte ein alter Familien–Onkel, den wir „Onkel Hahnekamm“ nannten. Der feingeschnittene Kopf des sauberen alten Herrn wurde nämlich von einem wohlgepflegten Toupet gekrönt, das durch die glatt an–gekämmten Schläfenhaare nur noch mehr zum Ausdruck kam. Nie und nirgends wieder habe ich ein solches Toupet gesehen; aber es war auch der Stolz und die Wonne des Besitzers. Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde es von ihm selbst – denn der arme Alte hatte an seinem Lebensabend keinen Diener mehr – mit Papilloten eingewickelt und dann die Nachtmütze behutsam darüber gezogen; die Frisierstunde selbst pflegte er bei verschlossenen Türen und ohne Zeugen zu begehen. Aber wer vergäße nicht einmal, den Schlüssel umzudrehen? – Und so kam ich denn am Ende dahinter, weshalb, wie unsere Köchin behauptete, „der Pull“ im Winter doch am schönsten sei. – Es war an einem Neujahrsmorgen, als ich wie herkömmlich den Großohm für den Abend auf „Karpfen und Fürtgen“ einzuladen hatte; aber ich klopfte diesmal wiederholt an seine Tür, ohne das: „Herein!“ der alten Stimme zu vernehmen. Als ich endlich dennoch zu öffnen wagte, erblickte ich ihn vor seinem großen Ofen in einer Stellung, die mich zuerst auf den Gedanken brachte, der gute Alte wolle durch einen Feuertod seinem Leben ein Ende machen; denn Kopf und Hals steckten völlig in dem heißen Ofenloch. Glücklicherweise, ehe ich einen Rettungsversuch begann, kam mir wie durch Eingebung der innere Zusammenhang der Dinge; ich schlich mich leise fort, um erst nach einer halben Stunde wiederzukehren, wo das Toupet bereits wie ein silbergraues Sträußchen über der Stirn saß; und der gute Alte hat es nie erfahren., daß sein keuschestes Geheimnis von mir belauscht wurde. – Wer weiß! Jenes Toupet war vielleicht das Einzige, was er aus den Tagen seines Glanzes in sein einsames Greisenalter hinübergerettet hatte; er hatte es vielleicht in seinem Bräutigamsstande als allerneueste Mode aus Hamburg oder gar aus Paris mit heimgebracht; und es war nun das letzte Zeichen, das ihn, wenn er in voller Toilette vor dem Spiegel stand, noch an die verstorbene Tante erinnerte, die ich in meiner frühesten Kindheit mit gelben falschen Locken und kupferigen Wangen auf dem Sofa hatte sitzen sehen, von der aber die Großmutter sagte, dass sie einst eine große Schönheit gewesen sei.

Am Abend trat er dann in seinem olivenbraunen Überrock mit feingefälteltem Jabot in die Gesellschaft. L'Hombre spielte er nicht mehr; er hatte nichts mehr zu verspielen; er saß nur als ein bescheidener und wenig beachteter Zuschauer bald bei dieser, bald bei jener Spielpartie. Dafür aber fand er denn auch Gelegenheit, in dem letzten halben Stündchen vor dem Abendessen, wo die Hausfrauen in der Küche ihre Saucen zu revidieren pflegen, in das noch einsame Tafelzimmer hinüberzugehen und ungestört die zu erwartenden Genüsse vorzukosten. Nicht zu leugnen ist es, dass dabei hier ein Törtchen, dort eine Traubenrosine aus den Krystallschalen verschwand. Indes, der Onkel war einer von den harmlosen Kuchenessern; die Törtchen und Rosinen gehörten zu den wenigen Veilchen, die ihm zuletzt noch an seinem Wege blühten, und er befolgte nur die Mahnung des alten Liedes, sie nicht ungepflückt zu lassen. –

Eine ganz andere Figur war der Herr Ratsverwandte Quanzfelder. – Noch sehe ich ihn, wie er unserem Hause gegenüber aus seiner Tür zu treten pflegte; im mausgrauen Kleidrock, den rotbaumwollenen Regenschirm unter dem Arm. Trotz seiner knochigen Gestalt machte er mir immer den Eindruck einer alten Mamsell. Denn seine Bewegungen waren klein und seine Stimme dünn und gläsern gleich der eines Verschnittenen; dabei hingen ihm in dem runzligen zusammengedrückten Gesichte die Augenlider wie Säckchen über den kleinen Augen. Wenn er vor einer Dame den Hut zog, so krächzte er sein: „Gud'n Dag, gud'n Dag, Madam!“ wie ein heiserer Vogel; und seltsam war es anzusehen, wie er dann mit gespreizten Fingern und taktmäßig hin und her bewegten Armen seinen Weg fortsetzte.

Von dem intimeren Gebaren des Mannes weiß ich aus eigener Erfahrung nichts zu berichten; aber unsere Tante Laura, in deren elterlichem Hause er aus und ein ging, hat mir gründlichen Bescheid gegeben, da ich mich neulich nach diesem weiland „Hausfreunde“ bei ihr erkundigte.

„Hmm, Vetter!“ begann sie – und sah mich dabei mit äußerstem Behagen an, wie immer, wenn wir auf unsere alte Stadt zu reden kommen. – „Er kam allerdings mitunter zu uns; aber unser Hausfreund ist er nicht gewesen. – Mein Vater hatte, wie Sie wissen, einen Kram mit Galanterie– und Eisenwaren, aus dem auch Herr Quanzfelder seinen kleinen Bedarf, und zwar auf Rechnung, zu entnehmen beliebte; sobald aber sein Konto nur zu ein paar Mark aufgelaufen war“, – und Tante Laura nahm die verbindlichste Miene an und fiel für einen Augenblick in ihr geliebtes Platt – „so wurr en Grötniß bestellt, „Herr Ratsverwandter keem van Nåmiddag Klock dree, um de Räken to betalen.“ – Nebenan bei meinem Onkel, aus dessen Laden er seine Ellenwaren kaufte, bedeutete das eine Anmeldung zum Kaffee, bei uns auf Tee und Pfeffernüsse.

Der Mann übte einen seltsamen Bann auf mich aus, so dass ich ihn immerfort betrachten musste; und doch bekam ich allzeit einen Schreck, wenn ich seine Krähstimme von draußen vor dem Laden hörte, besonders aber, wenn er nun in der Stube mit altjüngferlicher Zierlichkeit seine knochigen Hände ausstreckte, um sich die wildledernen Handschuhe abzuziehen, und darauf Hut und Schirm so seltsam hastig in die Ecke stellte.

Es war mir damals ganz unzweifelhaft, dass es der Geruch der Pfeffernüsse sei, wodurch er in diese Unruhe versetzt wurde. Kaum, dass noch die rote Perücke mit beiden Händen glatt gedrückt war, so saß er in seinem mausgrauen Rock auch schon unter dem Fenster am Teetische. – Ich höre ihn noch sein „Danke, danke, Madam!“ krähen, wenn meine Mutter ihm das Backwerk präsentierte. Er nahm dann mit der einen Hand eine Pfeffernuss, zugleich aber mit der anderen auch den ganzen Teller und schob ihn neben sich unter das Blumenbrett auf die Fensterbank.

Gesprochen wurde nicht viel; man hörte meistens nur das Klirren der Teelöffel und das Scharren des Kuchentellers, der unter dem Blumenbrett aus– und eingeschoben wurde und unter der pflichtschuldigen Nötigung meiner Mutter sich allmählich leerte. Zuweilen geschah das Abbeißen auch nur scheinbar, und die Pfeffernuss verschwand in dem weiten Rockärmel, worauf dann plötzlich der Herr Ratsverwandte das Bedürfnis empfand, sich die Nase zu schneuzen. Das buntseidene Taschentuch wurde hinten aus der Rocktasche gezogen, und das Backwerk glitt bei dieser Gelegenheit hinein. Wir Kinder sahen dem Allen aufmerksam zu; sehnsüchtig nach der süßen Speise, von der heute für uns nichts abfiel. – Schließlich, nach der dritten oder vierten Tasse, stand Herr Ratsverwandter auf: „Dörf ick nu bidden um en bät Papier darum!“ Und mein Vater, der inmittelst rauchend im Zimmer auf– und abgegangen war, machte ihm eine Düte; Herr Quanzfelder schüttelte den Rest der Pfeffernüsse hinein und steckte sie zu ihren Brüdern in die Schoßtasche; dann nahm er Hut und Schirm, krächzte noch ein paar Mal: „Adje, adje, Madam!“ und empfahl sich.

„Auch zu Fasten“, – fuhr Tante Laura nach einer kleinen Pause in ihren Mitteilungen fort, – „machte er regelmäßig seine Visite; und wenn meine Mutter, wie nicht anders schicklich, dann die Anfrage tat, ob Herr Ratsverwandter Appetit auf einen Heißewecken habe, – und Sie wissen, Vetter, wie butterig die am Fastnachtmontag sind! – so erbat er sich außerdem noch immer Butter und holländischen Käs' darauf, der alte Bösewicht!

Seine größte Schandtat aber verübte er am Geburtstage meines jüngsten Bruders. – Der gute Junge hatte von seiner Tante ein Stück Kirschkuchen bekommen und saß seelenvergnügt damit auf seinem Kindersofa. Da – Gott verzeihe mir, Vetter; ich glaube, er hatte es im Geruch! – da tritt Quanzfelder herein: „Na min lüt je Jung" schall ick dat Stück Koken hemm?“

Ob mein Bruder das für Scherz hielt, ich weiß es nicht; genug, er gab richtig seinen Kirschkuchen hin; Herr Ratsverwandter aber ging ungesäumt zu meinem Vater: „Dat lütje Jung hätt mi dat Stück Koken gäben; will'n Se mi dat en bäten inwickeln?“– Und mein Vater verlor so die Fassung, daß er ihm auch noch einen Bogen schönes weißes Papier darum gab. „Danke, danke, min Leeve.“ Und fort ging Herr Ratsverwandter mitsamt dem Kirschkuchen; und ich sehe noch meinen Bruder mit seinem langen Gesicht auf dem Kindersofa sitzen „

Tante Laura schwieg; sie hatte ihre Erinnerungen ausgeschüttet.

Ich selbst entsinne mich des Herrn Ratsverwandten besonders aus der Kirche, wo er seinen Stuhl neben dem unsrigen hatte, und wo er an keinem Sonntage fehlte. Eine breite Hornbrille auf der Nase, das aufgeschlagene Gesangbuch in der Hand, ließ er bei jedem Verse noch vor dem Kantor den Einsatz seiner scharfen Stimme hören. Kaum aber war nach Schluss des Gesanges der Propst auf die Kanzel getreten, so verfiel der Herr Ratsverwandte in seinen eigenen Zeitvertreib; legte zuerst den linken Arm auf den rechten, dann den rechten auf den linken, passte sorgsam die Nähte der Ärmelaufschläge an einander und maß und verglich in immer neuen Lagen ihre beiderseitige Länge, begann dann ebenso mit den gelbledernen Stülpen seiner Stiefel, und fuhr in diesen stillen Unterhaltungen, denen ich zum unersetzlichen Schaden meiner Andacht stets wie unter dem Blick der Klapperschlange zusehen musste, wechselsweise fort, bis er jedesmal noch vor dem Vaterunser fest entschlafen war. – So wie aber die Orgel wieder einsetzte, fuhr er mit einem Schnarcher in die Höhe, und, indem seine Hand mechanisch nach dem Gesangbuch griff, intonierte er unfehlbar das: „O Lamm Gottes“, oder was sonst an der Nummertafel stehen mochte; und sein tremulierendes Falsett schwebte wieder wie eine flatternde Krähe über dem Gesang der Gemeinde. Wenn schon überall die Türen der Kirchenstühle klappten, und unter dem Herausdrängen der Menge, hörte man noch immer den Diskant des Herrn Ratsverwandten. Erst wenn die Orgel schwieg, klappte auch er sein Gesangbuch zu, stäubte sich mit seiner ausgespreizten Hand die Andacht aus den Rockaufschlägen und schritt dann eilig über den Markt in das Weinhaus zur großen Traube. – Hier bemächtigte er sich der neuesten Zeitung. Er las indessen nicht, er tat nur desgleichen; in Wahrheit nahm er sie nur für seinen Freund, den Actuarius, in Beschlag; und wenn außer den anderen Sonntagsgästen auch dieser in die Gaststube getreten war, so verschwand er bald darauf und machte sich ein Scheingeschäft auf dem Hofe, wo immer eine Anzahl fetter Küken umherspazierte. – Und eine dunkle Sage ging, der Herr Ratsverwandte habe bei solcher Gelegenheit stets einigen der fettesten den Hals umgedreht und sie hinten in die unergründlichen Taschen seines grauen Rockes gleiten lassen; wobei die jungen Hähne mit doppelten Kämmen besonders in Gefahr gewesen sein sollen.

Ich glaube zwar nicht an diese Mordgeschichte; dennoch hat sie in meinem Kopfe sich immer seltsam mit der Erzählung von einer schönen blassen Frau verflochten, welche er lange vor meiner Geburt besessen haben sollte. In Bremen oder Lübeck – so hieß es – sei sie ihm wider ihren Willen bei Abschluss eines Handels angeheiratet worden, dann aber jung und kinderlos verstorben. Nach der Meinung Einiger hatte sie nur vor Angst und Widerwillen nicht länger leben können; während Andere von noch unheimlicheren Dingen munkelten. So viel ist gewiß, dass ich in meinen Knabenjahren die knochigen Hände des Herrn Ratsverwandten stets mit einer heimlichen Scheu betrachtet habe.

O, seliger Theodor Amadäus Hofmann, dessen laterna magica ich an stillen Herbstabenden so gern noch vor mir aufstelle, weshalb schlägt nicht mehr die Stunde deiner Serapionsabende, auf dass ich dir diesen Kuchenesser der alten Zeit überliefern könnte! In welch' wunderbaren, geheimnisvoll glühenden Farben würdest du durch deine Zaubergläser sein Bild an der grauen Wand erscheinen lassen!

 

Quellen

LL 4, S. 218-224; Kommentar S. 710-720.

Die Erzählung entstand Mitte 1870 und wurde mit der Überschrift „Zerstreute Kapitel“ erstmals in „Westermanns Monatsheften“ 31.1871/72 veröffentlicht.

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Von heut und ehedem

1

Auf der Reise

Unser Freund, der kleine muntere Bahnhofsinspektor, ging neben mir auf dem Perron. „Besorgen Sie den Herrschaften einen guten Platz!“ rief er mit einer seiner resoluten Handbewegungen; und der Schaffner, an den diese Worte gerichtet waren, schlug eine Tür des hintersten Wagens auf. „Hier“, sagte er; „es schaukelt nur ein wenig.“

„Dafür“, erwiderte der Inspektor nicht ohne einen gewissen Nachdruck, „ist der Wagen hier aber auch der sicherste.“

„Der sicherste?“ – Wer hatte an eine Unsicherheit gedacht! – Auch bei einer Eisenbahnfahrt gilt also die alte Geschichte: „Es ging ein Mann im Syrerland“. – Ich äußerte indessen nichts dergleichen; wir stiegen ein und saßen bald bequem genug. Wir, sage ich; denn auch unsere beiden Freundinnen ließen es darauf ankommen, in meiner Gesellschaft dritter Klasse zu fahren. Freilich, vor einer etwas vertraulichen Höflichkeit des Schaffners vermochte ich sie nicht ganz zu schützen, und eben so wenig vor einem kleinen impertinenten Blick, mit welchem sie von einem elegant gekleideten Backfisch bestrichen wurden, der an einer der nächsten Stationen mit einer laut redenden Badegesellschaft ein Coupé erster Klasse in Besitz nahm.

Ich musste dabei eines Vorfalles gedenken, den mir vor Jahren eine dir sehr bekannte, edle Frau erzählte. – Die Familie, deren Glück und Stolz sie war, hatte, während die Dänen in unserer Heimat wirtschafteten, im mittleren Deutschland einen Unterschlupf gefunden. Die Einkünfte waren klein, die Kopfzahl groß; desungeachtet wurde Jahr um Jahr ein Besuch bei den zurückgebliebenen Eltern ermöglicht; nur freilich, bescheiden musste gereist werden; aber sie entbehrte nichts dabei; denn, wie du weißt, ihr schönes sicheres Wesen bedurfte äußerer Stützen nicht. Bei einer solchen Heimatsreise vermochte sie einst auf einem größeren Bahnhofe das verlassene Coupé nicht wiederzufinden, und irrte, nur von einer Magd begleitet, mit ihrer Kinderschar auf dem weiten Perron umher, als ein junger Offizier sich zu ihnen fand und mit gutmütiger Höflichkeit ihr seine Hülfe anbot. Sie nahm das dankend an; als sie jedoch bemerkte, dass er sein Augenmerk nur auf die zweite Wagenklasse richtete, wandte sie sich gegen ihren höflichen Begleiter und sagte: „Wir fahren dritter Klasse!“

Auf dieses Wort hin sah sie zu ihrem Erstaunen den jungen Mann spurlos und auf Nimmerwiederkehr im Gewühl verschwinden; und erst später kam es ihr zum Bewusstsein, dass es denn doch wohl gegen die Standesehre sein müsse, im Dienste einer Frau gesehen zu werden, welche dritter Klasse fuhr.

Sie hat mir lächelnd dies kleine Abenteuer erzählt; und du weißt es, wie schön und mild einst dieser Mund gelächelt hat.

Doch das sind nur Gefahren, die aus der ersten Wagenklasse kommen; und – halsgefährlich sind sie eben nicht. Der arme junge Offizier; was soll denn Einer machen, der zufällig seine Persönlichkeit nicht in sich selber, sondern in der Regimentsrangliste stecken hat! – –

Am Nachmittage verließen mich meine beiden Damen, die ein anderes Reiseziel hatten; unverkennbar übrigens mit einer kindlichen Genugtuung über den gesparten blanken Taler, den sie durch den Sieg ihrer Demut im Knipptäschchen behalten hatten.

Es war kühl geworden; als der Zug weiter klapperte, vermummte ich mich in meinen Plaid und gab meinen Gedanken Audienz. Die Reisestimmung wollte noch nicht kommen. Weshalb hastet denn im Mittsommer Alles von Hause fort? – Um Genesung für irgend ein Übel zu finden, das vielleicht eben dort sitzt, wo es am leichtesten zu tragen ist? – Ich fürchte, der arme Solitaire hat nicht Unrecht mit seiner Warnung:

 

„Drum sei nur still, trag jeden Kummer gerne;

Das Leiden, das dich quält, hält andere Leiden ferne!“

 

Die schlimmsten aus dieser dunklen Genossenschaft, die kleinen schwarzen Dinger mit den Fledermausflügeln, die Sorgen, machen es doch wie unser heimischer Hausgeist, der treffliche Niß Puk; sie setzen sich hinter uns auf den Karren und rufen ganz vergnügt mit ihren schrillen Stimmchen: „Wir ziehen um!“

Es war heute gerad' ein Wetter, in dem sie sich besonders lustig fühlen; denn es regnete; es klatschte oben auf die Wagendecke, wie zornig schlug es mitunter gegen die auf–gezogenen Fenster; an den Scheiben rieselten einförmig die Tropfen und zeichneten kleine Ströme auf dem beschlagenen Glase.

Ja, das war das rechte Wetter; und schon hörte ich ihr emsiges Gesumme. Die von heute mochte ich selber unversehens mitgenommen haben; wie die anderen, die ich doch zu Hause lassen wollte, in den festverschlossenen Wagen kamen, weiß ich nicht. Aber sie kamen, eine nach der anderen; und nicht bloß die von morgen und übermorgen und vom nächsten Jahr; in ganzer Kette schwärmten sie aus; es war, als hätte die eine immer die andere herbeigerufen; ganz aus dem Nebel der Zukunft, vom Ende des Lebens kamen sie herangeflogen, und ich fühlte es jedesmal an einem Ruck an meinem Herzen, sowie eine neue zu mir heranflog und sich mit ihren Klammerzehen an mich anhing; zuletzt kamen sogar die von jenseit des Grabes. Auch die kamen; und es war etwas Fürchterliches dabei. Kleine süße Kindergesichter, mir die trautesten auf der Welt, drangen lächelnd auf mich ein, und auch der Sonnenschein war da, den ich immer um ihre Häupter sehe; aber unmerklich verwandelten sie sich; bleich, mit kranken Augen, wie um Hülfe flehend und ohne Sonnenschein sahen sie mich an; dann verschwand Alles, und ich sah nur eine Menge blutdürstiger Augen, die aus der Finsternis auf mich zublitzten. Nun wusste ich es, das waren die von jenseit des Grabes, die furchtbaren, vor denen kein Entrinnen ist; und ich würde vielleicht zum Erstaunen meiner Reisegenossen einen lauten Schrei ausgestoßen haben, wenn von dem Verwesungsdunste, den sie mit sich führten, mir nicht die Kehle wie zugeschnürt gewesen wäre.

Da tat es in den Spuk hinein plötzlich einen gellenden Pfiff, der unleugbar aus der Welt von heute kam; und nicht lange, so scholl die tröstliche Menschenstimme des Wagenmeisters: „Hamburg! Station Klostertor! Alles aussteigen!“

Ich schüttelte mich, griff nach Schirm und Reisegepäck und stolperte auf den Perron hinaus.

Es war inzwischen dunkel geworden, und der Regen strich noch immer ebenmäßig vom Himmel herab. Aber der Vetter war zur Stelle, und am Arme eines Mannes, der allzeit erster Klasse fährt, fühlte ich den Boden noch um Eins so fest unter meinen Füßen. Leider hatte er bei solchem Wetter seinen Einspänner zu Haus gelassen; die Droschken waren alle schon vergriffen; auf der Pferde–Eisenbahn trabte es wohl vorüber, aber drinnen war Alles besetzt. So marschierten wir denn unter unseren Schirmen noch eine halbe Stunde, bald durch ein Wirrnis überschwemmter Straßen, bald auf durchweichten Kieswegen unter tropfenden Alleen, bis endlich ein hellerleuchtetes Zimmer und bekannte freundliche Gesichter dem heutigen Reisetage ein Ziel setzten.

Aber mitten im heitersten Plaudern überfiel's mich wie–der; denn ich hatte einen Schatten an den Wänden huschen sehen. Er kam wohl nur von einer Amarillis–Blüte, die neben mir aus einem Blumenkorbe ragte und jetzt von einem Zugwind hin und her bewegt wurde. Ich bemerkte das sofort; als ich aber durch die offen stehende Stubentür auch die Haustür offen sah, sprang ich hastig auf und schloss dieselbe zu.

„Was fällt dir ein?“ rief die junge muntere Base; du weißt, der alte Musikmeister nannte sie einst so allerliebst: „Das Rotkehlchen.“

„Was mir einfällt?“

„Ja, dir! – Hast du Angst vor Fledermäusen?“

Ich starrte sie an. „Vor Fledermäusen? – Nein, so eigentlich nicht; ich hoffe auch, sie fliegen nicht in diesem Schlackerwetter; aber ich hatte eine Gesellschaft unterwegs; ich möchte lieber, dass sie draußen bliebe.“

„Du! – Was sprichst du komisch!“ sagte das Rotkehlchen, und sah mich lustig mit ihren hellen Augen an. „Dahinter steckt eine prachtvolle Geschichte; nimm dein Glas, setz' dich in die Sofa–Ecke und erzähle!“

„Ja“, stimmte nun auch der Onkel bei, indem er bedächtig einen Zug aus seiner langen Pfeife tat; „erzähle; du weißt doch, dass sich das nicht schickt, solch' unverständliches Zeug vor anderen Leuten reden.“

Der Onkel sah mich schelmisch an; aber ich erzähle die „prachtvolle Geschichte“ nicht.

 

2

In Urgroßvaters Hause

Ja, es war eine Trompete, nur eine; und es war ein Choral, der von ihr geblasen wurde! – Ich sprang aus dem Bette und weckte den neben mir schlafenden Vetter, und wir stellten fest, daß in dem dritten Nachbarhause links geblasen wurde.

Bald hatten wir uns angekleidet, und saßen unten im Familienzimmer am Kaffeetisch; und die Trompete blies noch immer fort; wenn der Choral aus war, wurde sogleich mit einem neuen weiter geblasen; und so blies die eine Trompete zwei Stunden lang Choräle. Dann wurde sie vermutlich durch ein Glas Wein erfrischt; denn die Musik schwieg, und bald darauf – wir waren Alle in die Veranda getreten – sahen wir den Bläser aus dem Hause kommen; er hatte seine Trompete in ein schwarzes Tuch gewickelt; aber das blanke Mundstück, das daraus hervorsah, verriet ihn. Dann fuhr eine Kutsche vor; von einer Bonne wurde ein festlich weißgekleidetes Wickelkind herausgetragen, dem ein geistlich aussehender Herr mit weißer Halsbinde folgte. Das Alles, von einer kleinen behaglichen Matrone an den Droschkenschlag bekomplimentiert, stieg ein und fuhr davon.

Diese Sache ist mir höchst verdächtig. Was mag das Wickelkind zu der furchtbaren Musik gedacht haben? – Am Ende hat es gar nichts dazu denken sollen! denn wir wohnen hier im Quartier der Frommen; wie der Berliner Pastor zu unserer Freundin Rosa sagte, als er in einer Abendgesellschaft beim ragout fin an ihrer Seite saß: „Und wo wohnen Sie denn, mein wertes Fräulein?“ – „Ich? Ich wohne in der Matthäikirch-Straße.“ – „In der Matthäikirch-Straße! Ei, das ist ja eine liebe Gegend, eine herrliche Gegend! Eine liebe Seele bei der andern! Und die Glo-cken, sie lo-cken!“

– – Es ist mir in diesem Augenblick eine seltsame Erquickung, dass ich aus dem Fenster, an welchem ich dieses schreibe, den Blick auf die Hamburger Abdeckerei habe, die drüben mit ihrem braunroten Ziegeldach aus grünen Bäumen hervorschaut. – –

Als wir uns, nicht ohne Anstrengung, von der Trompete erholt hatten, und wieder– denn es war am Sonntag Morgenruhig um den runden Tisch saßen, kündigte ich meine mitgebrachte Rarität an.

„Hmm!“ machte der Onkel und rauchte erst ein paar Gedankenstriche in die Luft, „das wird wohl wieder so etwas vom poetischen Tandelmarkt sein, wofür wir hier keinen Absatz haben.“

Ich aber ließ mich das nicht anfechten, sondern legte meinen kleinen Pergamentband auf den Tisch.

– „Nun, das sieht denn doch wenigstens solide aus.“

Und während Tante Friede die Augenbrauen in die Höhe zog und über die Brillengläser weg zu mir herüberblickte, schlug ich das Büchlein auf und las: „Regeln der vereinigten freundschaftlichen Gesellschaft, sammt eigenhändiger Einschrift derselben Mitgliedere Namen.“ – Du weißt, es sind darin nicht nur die Namen, sondern auch die Schattenbilder der alten Herren, samt deren voraussetzlich nicht minder wohlgetroffenen Haarbeuteln und Zopffrisuren.

Nun ging das Buch von Hand zu Hand; die Groß– und Urgroßväter und –Onkel wurden aufgesucht und gefunden und mit kleinen über dem Sofa hängenden Miniaturbildchen zusammengehalten; zuletzt verglichen wir noch unsere eigenen lebendigen Familiennasen mit den Nasen der armen Silhouetten.

Schatten von Schatten! – Über ein halbes Jahrhundert bestand diese freundschaftliche Gesellschaft; aber endlich müsste doch auch sie sterben, wie sie so viele ihrer Mitglieder hatte sterben sehen; trotz ihrer fürtrefflichen Gesetze: Paragraph 5, dass kein Rangstreit Platz haben solle, so wenig, als ein unerlaubter handgreiflicher Spaß, bei Vermeidung von 2 Schilling Lübisch Straffe; Paragraph 6, dass, derjenige, so übermäßig und vorsätzlich fluchet, für jeden Fluch bezahlen solle 1 Schilling; und Paragraph 7 – der weiseste von allen –, dass die Gesellschaft jedesmal nicht länger als höchstens bis eilf Uhr Abends beisammen bleibe, und zwar für Jeden bei Strafe von 1 Mark. –

„Ist mir doch mitunter“, sagte ich, „als wäre ich selbst einmal dabei gewesen!“

 „Oho!“ rief der Onkel; und das Rotkehlchen warf die Lippen auf und sah ganz spöttisch nach mir hin.

„Nein, nein; ich meine nicht zur Zeit der Gründung anno 1747 –“

„Nun, das wollte ich doch auch nur sagen!“ unterbrach mich die Tante und lachte ganz befriedigt.

„Nein, Tante Friede; nicht anno 1747, wo noch beliebet war, dass kein Kaffee und beim Weggehen kein hitziges Getränke außer Wein gereicht werden solle; vielmehr ist mir, als sei es an einem heiteren Julitage in den achtziger Jahren gewesen, wo allerdings noch der Großvater ein Bräutigam war; und zwar im Hause des Urgroßvaters großmuttermütterlicherseits. Hier ist das Schattenbild dieses kleinen behaglichen Mannes, der leider schon lange vor meiner Geburt sein darunter stehendes >obiit< erhalten hat!“

Damals aber war auch ein Tag! – Das Haus mit der Sandsteinvase auf dem spitzen Giebel, welches zu Pfingsten seinen frischen, sandgrauen Ölanstrich erhalten hatte, schaute aus den blank polierten Fenstern wie die lachende Gegenwart auf die Schiffe des gegenüberliegenden Hafens, deren Wimpel regungslos an den heißen Masten hingen. Auch drinnen der weißgetünchte, durch zwei Stockwerke hinaufreichende Flur des Hauses war voll von Sonnenschein, der durch die beiden über einander liegenden Fenster freien Eingang hatte. Aber Alles war still und feierlich. Der Riesenschrank, welcher, die Leinenschätze des Hauses enthaltend, über die Hälfte der einen Wand einnahm, war augenscheinlich frisch gebohnt, die krausen Messingbeschläge blitzten; stattlich erhoben sich auf seiner Bekrönung die großen blau und weiß glasierten Vasen. Aus der offen stehenden Tür des schmalen Wohnzimmers zogen Blumendüfte auf den Flur hinaus; denn drinnen im Ausbau–Fenster blühten Reseden und die Blume der alten Zeit, die düftereiche Volkameria.

Und jetzt erscholl ein Schritt vom Hinterhause her; begleitet von seinem Mops Fidel, der pflichtgemäß hinterher–watschelte, erschien der Urgroßvater, ein wackerer Fünfziger, zierlich bezopft, im schokoladefarbnen Rock; und nicht von ungefähr spielten seine Finger mit der emaillierten Festtagsdose: er erwartete „die vereinigte freundschaftliche Gesellschaft“! – Da schlug es draußen Drei vom Turm der alten Marienkirche – sie ist jetzt längst schon abgebrochen – und der Urgroßvater zog seine goldene Uhr hervor, schälte sie aus zwei Gehäusen und stellte dann die Weiser nach der Kirchenuhr; denn ihm als Wirt lag heut' die Sorge für die Beobachtung der Gesellschaftsregeln ob; und wer allererst nicht vor einem Viertel nach drei Uhr erschien, der musste Strafe zahlen. Und fast wünschte der gutherzige Mann, die Uhren der übrigen Mitglieder möchten heut' nicht allzu richtig gehen; war er für dieses Jahr doch auch der Rechnungsführer der Gesellschaft und hatte für seine Kasse zu streben, die statutengemäß um Weihnachten unter geheim Bedürftige verteilt werden sollte! Mit ein paar leb–haften Schritten trat er in das Wohnzimmer und griff nach der blechernen Büchse, die dort hinter dem Vorhängsel des nach der Außendiele liegenden Guckfensters stand. Er wog sie in der Hand; sie war schon recht gewichtig; aber auch der armen Leute waren ja so viele! Und hastig, damit von den Gästen ihn Niemand über diesem heimlichen Tun ertappe, nahm er eine Anzahl kleiner Münzen aus seiner Börse und ließ sie in den Spalt der Büchse fallen.

 

„Und wüssten wir, wo Jemand traurig läge,

Wir brächten ihm den Wein!“

 

Unwillkürlich summte er das Lied seines lieben Wandsbecker Boten, welches die Gesellschaft am Abend der Weihnachtsverteilung bei einem Gläschen echten Rüdesheimer anzustimmen pflegte. Singend war er ans Fenster getreten, und im Nacken schlug der Zopf bescheidentlich den Takt dazu; vergnüglich blickte er durch die Blumen über die sonnige Straße nach dem Hafen hinab, wo eben eine Menge größerer und kleinerer Tonnen in ein Helgolander Schiff verladen wurden. Der Urgroßvater schmunzelte; sie enthielten freilich nicht jenen „Labewein“ vom Rhein, wohl aber das berühmte Gutbier aus seiner eigenen Brauerei, das derzeit weit und breit versandt wurde.

Jetzt aber rief das plötzliche Schellen der Türglocke ihn wieder nach dem Hausflur, wo ihm zu seinem Erstaunen ein friesländischer Seemann in Jacke und Hose vom gröbsten blauen Wollenzeug, mit kurz geschorenem Haar und einer Pelzmütze auf dem Kopf, entgegentrat. Der Urgroßvater schaute etwas unsicher auf die unerwartete Erscheinung; als ihm aber sogleich unter lebhaften Gestikulationen eine Begrüßung, aus wenigstens vier lebenden Sprachen zusammengemischt, entgegensprudelte, da wusste er freilich, dass er es mit einem Mitgliede der „freundschaftlichen Gesellschaft“ zu tun habe, mit seinem trefflichen Hausarzte, dem vielberufenen holländischen Doktor, der gleich vielen anderen „Patrioten“ nach der Wiedereinsetzung der Prinzessin von Oranien seine Heimat verlassen und in unserer guten Stadt sich rasch zum Modearzt emporgeschwungen hatte. Lachend schüttelte er ihm jetzt die Hände.

„Alle Tausend, Doktor! Was habt Ihr da nur wieder ausgeheckt!“

Der Doktor aber tat gar nicht, als ob was Auffälliges an ihm zu sehen sei. Hatte er doch kurz zuvor in blausamtner Husarenuniform, mit Säbel und goldbequasteten Stiefeln, und ein ander Mal im schwarzseidenen Kostüm eines französischen Abbé dem Publikum der kleinen Stadt mit Glück zu imponieren gewusst. – So ließ denn auch der Urgroßvater es bei seiner einmaligen Verwunderung bewenden und verschwand mit seinem, übrigens grundgelehrten, Gaste in dem Hinterhause, wo im oberen Stockwerk der Gesellschaftssaal belegen war.

 –– Von droben, durch das über der Tür des Wohnzimmers befindliche Kammerfenster, hatten zwei blaue Mädchenaugen aus einem blonden, leichtgepuderten Köpfchen neubegierig und lachend auf den Flur hinabgeblickt. Es war das Haustöchterchen, meine Großmutter, die dort noch bei ihrer Toilette säumte. Sie hatte keine Eile; denn auf den liebsten Gast, den Großvater, dem sie, sobald die Astern blühten, ihre Hand am Altare reichen sollte, hatte sie heute nicht zu hoffen, da ihn Geschäfte in der benachbarten Handelsstadt zurückhielten. Aber wusste sie ihn doch auch dort bei guten Freunden wohlbehalten!

Wieder schellte es unten; und eine breite untersetzte Gestalt mit fleischigen, stark geröteten Wangen, in Zopfperücke und leberfarbnem Rock, schob sich zur Tür hinein. Es war der Herr Zoll– und Schlossverwalter; er stützte sich auf sein langes Rohr und pustete mächtig, während er mit dem Schnupftuch den Schweiß sich von der Stirn trocknete. – Das Großmütterchen lächelte: der Mann hatte einen so seltsamen Beinamen – der „Ballenfräter“ hieß er – sie hatte als Kind ihn selbst einmal danach gefragt.

Und wieder läutete die Türglocke. Eine stattlichere Erscheinung, ihr Großonkel, der alte Herr Ober- und Landgerichtsadvokat, war eingetreten, der allein von allen Mitgliedern noch die große Lockenperücke auf seinem schönen ausdrucksvollen Haupte trug. Das Großmütterchen liebte ihn sehr, diesen Helfer der Bedrängten; und fast hätte sie ihn angerufen. Aber eben legte er lächelnd seine Hand auf die Schulter des kleinen Schlossverwalters, und Beide schritten nun dem Hinterhause zu.

Droben am Fenster war der hübsche Mädchenkopf verschwunden; die Inhaberin desselben hatte sich in die Tiefe der Kammer zurückgezogen. Sie saß mit aufgestütztem Arm vor ihrem Toilettentischchen und blätterte in einem winzigen pergamentnen Goldschnittbändchen, das ihr vor Kurzem der Bräutigam gebracht hatte. Es war der mit Hölty's Bildnis geschmückte Jahrgang des Voßischen Musenalmanachs. – Wie ernst und früh gealtert erschien ihr das Antlitz des so jung verblichenen Dichters; und welche Friedhofsstille war in seinen Liedern! – – Doch jetzt geriet sie in die vielgerühmte Ballade Friedrich Stollberg's: „Hört ihr lieben deutschen Frauen, die ihr in der Blüte seid!“– Zu grausam war es doch, und ihr junger Busen wallte von Mitgefühl, daß die treulose Ritterfrau so Tag für Tag aus dem Schädel ihres getöteten Buhlen trinken mußte! Aber – ja so! – sie wurde doch, dem Himmel Dank, von ihrem beleidigten Eheherrn noch zur rechten Zeit zu Gnaden wieder angenommen! – Dem Großmütterchen fiel es im Traum nicht ein, daß auch sie selber zu den deutschen Frauen gehöre, denen der ungalante Dichter diesen Schädel zum Exempel aufgestellt hatte; sie wäre arg erschrocken, hätte ihr Jemand das gesagt. Es ging sehr schön zu lesen; aber es war ja doch nur eine Geschichte, weit ab von ihr und ihrer Welt! – Dagegen ein paar Seiten weiter, wo der lila Seidenfaden eingelegt war: „Blühe, liebes Veilchen“, das kleine süße Lied von Overbek, das sie schon selbst an ihrem grün lackierten Klavier gesungen hatte, das freilich, das war wie nebenan im Nachbargärtchen nur gewachsen!

Oftmals hatte indessen unten im Hausflur die Türschelle geläutet; immer neue Gäste waren eingetreten, geistliche und weltliche, gelehrte und ungelehrte, Träger von Namen, die durch viele Geschlechter an der Spitze des städtischen Lebens gestanden hatten, und welche jetzt die neue rasch lebende Zeit spurlos hinweggefegt hat.

Und nun knarrte auch oben die Kammertür; ein kleiner Schritt klapperte die Treppe herab, und da stand es unten auf dem Flur, das Großmütterchen; eine zierliche Gestalt, hausmütterlich ein weißes Schürzchen vorgebunden, das Brusttuch mit einer Rosenknospe zugesteckt. – Schon trat sie auf die Falltür des Kellers, welche den Auftritt zum geräumigen Pesel bildete; da schellte es noch einmal, und zugleich auch hörte sie von dort her ihren Namen rufen.

Ein alter Herr in dunkler Kleidung, mit feinem weißen Jabot, war eingetreten; der Vater ihres Bräutigams, ein hochangesehener Kaufherr und Ratsverwandter dieser Stadt. Wenn unter den starken Brauen nicht die schönen blauen Augen gewesen wären, der strenge Mund hätte leicht ein junges Wesen zurückschrecken können; aber sie wußte wohl, daß sie sein Liebling war; und schon hing sie an dem Arm des alten Mannes.

„Nicht wahr, Papa, Sie haben mir etwas mitgebracht?“

Er zog schweigend die goldene Tabatiere aus der Schoßtasche seiner Weste und bot ihr eine Prise.

„Aber, fi donc, Papa! Sie wissen besser, was ich meine!“

Der alte Herr lächelte. „Seit wann ist deine Französin entlassen, Tochter? du hast dein vocabulaire noch nicht vergessen.“

– „Papa, Sie dürfen mich nicht necken!“

„Aber du, eines Kaufherrn Braut; und weißt noch nicht, daß heut' kein Posttag ist!“

– „Ach!“

„Nun, Geduld nur, Töchterchen, und Köpfchen in die Höh! Wer weiß, was mit Gelegenheit geschehen kann! Unser Herr Stadtsekretär soll ja heut' noch von der Reise kommen.“ – Und er streichelte die Wange seines Lieblings.

Da schlug draußen vom Turme die Viertelsglocke.

„Papa, machen Sie rasch; sonst setzt es Strafe!“

Der alte Herr aber hielt sein Schwiegertöchterchen an der Hand zurück. „Laß nur, mein Kind; wir wollen doch deinem Papa sein Späßchen nicht verderben.“

Langsam durchschritten sie den düsteren mit Fliesen ausgelegten Pesel, dessen hohe Fenster nach einer engen sonnenlosen Twiete hinauslagen; einem so alten Gäßchen, daß nach der Chronik ein dort einstmals verübter Mord noch durch die Mannbuße war gesühnt worden; dann traten sie durch eine Flügeltür in den Flur des Hinterhauses. Schon ehe sie hier die Treppe hinaufstiegen, hörten sie von droben den lebhaften Diskurs der versammelten Gesellschaft. Oben angekommen aber, ließ das hübsche Kind den Herrn Schwiegerpapa allein in den Saal gehen; sie selbst während von dort neben dem Scharren der Kratzfüße auch das Rasseln der unerbittlichen Blechbüchse erscholl, trat gegenüber in die offene Tür der Geschirrkammer, wo sie auf einem der Binsenstühle ein verwachsenes Männlein in zeisiggrünem Rocke hatte hucken sehen. Jetzt sprang es mit devotem Bückling auf, schüttelte sein dürftiges Zöpflein und fuhr dabei mit den langen Fingern säubernd über seine breiten Ärmelaufschläge.

„Mach Er nur keine Umstände, Meister“, sagte das Großmütterchen; „ich wollte mich nur nach seiner kleinen Stina bei Ihm erkundigen.“

Und während das Männlein ihr ein Breites über sein kümmerlich Würmchen vorklagte, hatte sie, wehleidig wie sie war, sich abgewandt, indem sie eifrig in ihrem Täschchen suchte. Und bald zog auch der Meister ein mageres Lederbeutlein hervor und schob zwei blanke Silbermünzen zu der darin befindlichen kupfernen Gesellschaft. Dabei hatte er ein feines Scherchen auf den Tisch gelegt; denn er betrieb außer seiner Flickschneiderei auch noch eine höhere Kunst; er war ein beliebter Silhouetteur und auf heute bestellt, um den kleinen Stadtwaagemeister, ein neues Mitglied, für das Buch der Gesellschaftsregeln auszuschneiden. Das gute Meisterlein wollte durchaus zum Beweise seiner Dankbarkeit auch die Silhouette der liebwertesten Demoiselle anfertigen; und wirklich ist sie später von seiner Hand als einziges Damen-Konterfei unter die Mitglieder der freundschaftlichen Gesellschaft aufgenommen; für jetzt aber entschlüpfte ihm das Großmütterchen und trat gegen über zu den Gästen in den Saal.

Es war ein besonders tiefes, geräumiges Gemach; die Decke mit schwerer Stukkatur verziert, die weißen Wände mit Kupferstichen in den verschiedensten Manieren und einzelnen Pastellbildern fast bedeckt. – Der kunstliebende Hauswirt hatte sich so eben den hagern Propsten eingefangen und demonstrierte mit ihm vor dem neu erworbenen Chodowiecki: „Ziethen sitzend vor seinem Könige.“ Daneben unter Berghemschen Landschaften sah man zwei schöne Stiche nach Guercino: „Abram ancillam Agar dimittit“ und „Esther coram Asuero supplex“. Unweit davon, in Rotstiftmanier, hing ein Blatt, dem gewiß keine gefühlvolle Seele vorbeiging, die je bei Miller's berühmtem Siegwart Trost in Tränen gefunden hatte. Von zwei grimmig blickenden Mönchen wird eine in spanischer Männertracht entflohene Nonne in ihr Kloster zurückgeführt; die in zierlichen Schleifenschuhen steckenden Füßchen schreiten wie in Todesangst; entsetzt unter dem breiten Federhut blickendie Augen aus dem Bilde heraus. – „Und nun soll sie lebendig eingemauert werden!“ So hatte oft das Großmütterchen ihren Freundinnen das Bild erklärt. „Seht nur, dort wird schon an dem Glockenstrang geläutet!“ – Doch was hier erregt wurde, war nur das Grauen vor den Menschen. Dort neben dem Ofen aber, wohin bei Tagesabschied zuerst die Schatten fielen, befand sich ein kleineres Bild, dem selbst die heiteren Augen des Großmütterchens nicht gern begegneten, wenn sie um solche Zeit allein das abgelegene Festgemach betreten mußte. Die jugendliche Frauengestalt in der düsteren Kammer schien wie unbewußt vom Schlafe auf das Ruhebett hingeworfen; der Kopf mit dem zurückfallenden Haar hängt tief herab. Auf ihrer Brust huckt der Nachtmahr mit großen, rauhen Fledermausflügeln. Sie vermag kein Glied zu rühren; vielleicht geht ein Stöhnen aus ihrem geöffneten Munde; hülflos in der Einsamkeit der Nacht ist sie ihm preisgegeben. Nur durch den Vorhang sieht der wild blickende Kopf eines Rappen, der ihn hierher hat tragen müssen, der selbst nicht von der Stelle kann.Zwar dem Großmütterchen war dergleichen niemals widerfahren; aber des Bräutigams Schwester hatte erzählt, wie einmal von ihrem Nachttisch solch' Unwesen im Traum ihr auf die Brust gesprungen sei; und auch von den Brauknechten hatte sie gehört, dass mitunter der Nachtmahr die Pferde auf den Weiden reite, wo es denn tausend Not mache, die verfilzte Mähne wieder aufzulösen, in welcher er beim Ritt sich mit den Krallen festgehalten. Jedenfalls, die Sache hatte ihren Haken!

Doch heute war Gesellschaft und fröhliches Leben in dem großen Saale; und der Nachtmahr hing ganz unbeachtet in seiner Ofenecke. Die beiden Fenster zwar gingen, wie unten die des Pesels, auf die enge Twiete; aber es war trotzdem nicht unfreundlich hier; ein Sonnenstreifchen, das durch die höchste Eckscheibe des einen Fensters hereinglänzte, erinnerte an den Sommertag da draußen und ließ hier innen die Kühle doppelt labend empfinden.

In der Tiefe des Zimmers war der Kaffeetisch serviert. Daneben stand die Urgroßmutter, eine noch immer hübsche Frau, deren feiner Kopf jedoch heute einen fast zu hohen Bau aus Spitzen und Gaze zu tragen hatte. Ihre eine Hand ruhte auf dem Griff der Porzellankanne, aus der sie schon die runden Täßchen vollgeschenkt hatte, mit der anderen drohte sie, nicht gerade gar zu ernsthaft, dem eben eingetretenen Töchterchen.

Ein überfliegendes Rot machte ein paar Sekunden lang die jungen Augen dunkeln. „Verzeihen Sie, Mama!“ Dann nahm sie geschickt das große Präsentierbrett, auf dessen schwarz lackierter Fläche sich ein Muster von kleinen Rosenbouquets zeigte, und bot mit wohlgeschultem Knix einem jeden Gast sein Schälchen dar, wobei sie auf die zierlichen Scherze der älteren Herren über das nun bald erwünschte Ende ihrer Brautschaft eine noch zierlichere Erwiderung nicht schuldig blieb.

Und alsbald, unter den belebenden Duftwolken des javanischen Trankes, erscholl das gesellige Klirren der Tassen und Löffelchen; wäre ein Kanarienvogel hier gewesen, er hätte jetzt unfehlbar seinen Sang erschallen lassen. Selbst der Herr Zoll- und Schlossverwalter erhob sich von dem Toccadilletische, an dem er, den Würfelbecher in der Hand, bis jetzt sich ausgeruht hatte. Das derzeitige Thema des Stadtgesprächs kam aufs Tapet. Stimmen waren laut geworden, welche die Baufälligkeit des hohen Kirchturmes behaupteten, ja den Abbruch der ganzen Kirche forderten, und schon zirkulierte der erste Spottreim, gleichsam die Überschrift zu den vielen anderen, womit nachmals die kleine Stadt ihr eignes Tun verhöhnte, als sie mit unsäglicher Mühe ihr ältestes Baudenkmal zerstörte.

 

„De Tönninger Torn is hoch un spitz;

De Husumer Herrn hemm Verstand in de Mütz!“

 

Wo kam das her? Wer hatte es gemacht? Niemand wusste es. Aber es traf; ein lebhaftes Für und Wider erhob sich und wogte durch den Saal.

Inzwischen war, fast ungesehen, noch ein letzter Gast eingetreten, nach welchem unter Herzklopfen und – es ist nicht zu verschweigen – ganz unbekümmert um den alten Kirchturm, schon längst zwei junge Augen ausgeblickt hatten. Zierlich, wie immer, obgleich eben von der Reise kommend, begrüßte der galante Herr Stadtsekretär die versammelte Gesellschaft. Zum Leidwesen des Hauswirts war seine Verspätung schon im Voraus entschuldigt worden; und jetzt nahte er sich mit höflicher Verbeugung der Tochter des Hauses, die eben allein am Kaffeetische stand.

„Mamsell Lenchen!“ flüsterte er und legte leise etwas vor ihr auf die Damastserviette; „ein Billetdoux vom Herzallerliebsten; Alles wohl und munter!“ – Und als sie glücklich lächelnd aufblickte, sah sie die dunklen Augen ihres Schwiegervaters auf sich gerichtet. Ihr freundlich zu nickend, hielt er einen Brief empor, den auch er soeben durch den gefälligen Reisenden erhalten hatte. Aber sie schüttelte den Kopf: „Ich tausche nicht, Papa!“ Und sorgsam barg sie ihren Brief unter der Rose ihres Brusttuchs.

– – „Ei der Tausend! Der grüne Schneider draußen wäre ja fast vergessen!“ Der Hauswirt rief es, und sofort auch holte er ihn herein; und bald saß der Stadtwaagemeister mitten im Zimmer auf einem Stuhl, daneben auf einem anderen der grüne Künstler, mit Eifer an seinem Werke arbeitend. Es wollte indessen nicht wie sonst gelingen; schon zum zweiten Male wurde ein frisches Papierblättchen hervorgezogen.

„Aber Herr Waagemeister!“ rief der Hauswirt, der teilnehmenden Blicks der kleinen Schere folgte, „Sie bekommen eine doppelte Nase, wenn Sie nicht ruhig sitzen!“

„Freilich, freilich! Bitte submissest!“ akkompagnierte der arme Künstler, indem er unruhig die Beine unter seinem Stuhle kreuzte.

Der Herr Waagemeister räusperte sich verlegen; er hatte gegen den bösen Fluss eine getrocknete Kröte auf der Brust sitzen, die plötzlich an zu rutschen fing.

„Nur Contenance, Meister!“ rief der Hauswirt. „Herr Stadtsecretarius! Ei, helfen Sie mir doch, hier unseren Freund ein wenig festzuhalten!“

Der Herr Stadtwaagemeister protestierte lebhaft und wollte solches Beginnen als einen „unerlaubten handgreiflichen Spaß“ und als den Regeln der freundschaftlichen Gesellschaft ganz zuwiderlaufend angesehen wissen. Aber der muntere Hauswirt berief sich auf den Entscheid der Gesellschaft, und als diese die Sache außer allem Spaß, ja es sogar für die ernsteste Pflicht eines jeden Mitgliedes erklärte, ein naturgetreues Konterfei in das Buch der Gesellschaftsregeln zu liefern, da biss der kleine Waagemeister die Zähne zusammen, hielt sich baumstill und ließ die Kröte rutschen. Saßen doch die Knieschnallen fest genug, dass sie nicht etwa dort zum Vorschein kommen konnte! – Das freilich wäre fürchterlich gewesen; denn ihm gegenüber, sein Kaffeeschälchen in der Hand, die Pelzmütze noch immer wie festgenagelt auf dem Kopfe, saß der holländische Doktor, ein Mensch ohne alle Egards und Lebensart. – Freilich war es um mehrere Jahre später, als er bei Gelegenheit der jährlichen Schulreden im gefüllten Rathaussaale das Katheder beschritt, im Leidner Redekostüm, in Frack und Schuhen, mit dem Degen an der Seite und dreieckigem Hute auf dem Kopf, um, wie er sich unhöflicher Weise ausdrückte, „den dummen Tieren“ in puncto der Jennerschen Vaccine einige Wahrheiten einzuimpfen. , Soviel aber wusste schon damals der Herr Stadtwaagemeister, dass dieser Holländer Alles, was ihm beliebte „medizinischen Aberglauben“ zu titulieren, mit einer schauderhaften Rücksichtslosigkeit verfolgte.

So nahm er sich denn zusammen, bis der grüne Künstler das wohlgelungene Bildchen mit zweien seiner langen Finger stolz dem Tageslicht entgegenhielt; und so ist denn, wie der Urgroßvater zu sagen pflegte, auch „das Hammelgesicht“ dieses kleinen Mannes für die Nachwelt gerettet worden.

Aber das Großmütterchen! Wo war das Großmütterchen indes geblieben?–

 

3

In Großvaters Hause

Während bei dem Urgroßvater sich das Leben in die kühle Tiefe des Hauses zurückgezogen hatte, saßen die Bewohner der Nachbarhäuser im Schatten wohlgestutzter Linden vor der Tür auf ihren Bänken. Beim Nachbar Krämer saß der Nachbar Schlachter; sie hatten mit Stahl und Feuerschwamm eben ihre Kalkpfeifen in Gang gebracht und den Kopf derselben sorgfältig mit einem Drahthütchen versichert, und schauten nun, ohne viel überflüssige Worte, auf das Treiben am Hafen und auf die jenseits liegende Schiffswerfte, von wo die taktmäßig herüberschallenden Hammerschläge ihnen die beruhigende Versicherung gaben, daß doch die Zeit nicht ungenützt entfliehe. – Daneben lag das Bäckerhaus; die Heißewecken und Eiermahne waren aus–verkauft; die Bäckerfrau und ihre dicke Schwester mit dem runden roten Gesicht in der schneeweißen Mützenkrause, „Fru Nawersch“ und „Jungfer Möddern“, saßen sich gegenüber auf den vorspringenden Beischlägen; aber das emsige Nadelklirren ihrer großen Strickzeuge verstummte allgemach; denn, von Sommermüdigkeit übernommen, waren die Hände der guten Frauen in den Schoß gesunken, während der Kopf über den vollen Busen nickte. – Vor dem Wohnkeller des Hauses, zwischen den schwarzen jütischen Töpfen, welche auf der niedergeklappten Schlussluke feilgestellt waren, saß spinnend die weiße Katze des Kellermanns; mitunter bog sie den Kopf zurück und rieb ihr rosiges Näschen an den gesalzenen Stockfischen, die vom Rande des Vorbaues herabbaumelten. Kinder waren nicht zu sehen; die kleinen hielten Sommerschlaf in ihren Bettchen, die größeren waren noch in der Schule; nur drüben vom „Helling“ tönten ununterbrochen die gleichmäßigen Hammerschläge.

Da ging ein junger flüchtiger Schritt am Hause vorüber. „Fru Nawersch“ und „Jungfer Möddern“ erwachten, die Stricknadeln fingen mechanisch wieder an zu klirren; Jungfer Möddern hob ihre schwere Last ein wenig von dem Beischlag auf und ließ sie wieder sinken, indem sie tief schmunzelnd einen Gruß auf die Straße hinausnickte. „Mamsell Feddersen!“ flüsterte sie ihrer Schwester zu, die mit kleinen Augen zu ihr hinüberstarrte.

Und richtig! Es war das Großmütterchen; in leichter Kontusche eilte sie vorüber. – –

Nebenan in der Gasse, die kaum hundert Schritte weiter von Norden her in den Hafenplatz ausmündet, lag das neuerbaute Haus des Großvaters, in welchem zur Zeit noch eine Schwester ihm die Wirtschaft führte. Anders als das gegenüberliegende seines Vaters und die übrigen alten Giebelhäuser in der Stadt, kehrte es der Straße eine breite Fassade zu, aus deren Mitte über dem Kellergeschoß eine mächtige Steintreppe vorsprang. Kein düsterer Pesel, keine entlegenen Kammern befanden sich darin; die Fenster gingen entweder auf die helle Straße oder hintenaus ins Grüne, auf den Hof und den danebenliegenden Garten; auch die Räume der beiden unteren Hausböden empfingen ihr Licht durch stattliche Fensterreihen des Giebels, der mit seiner geschnörkelten Sandstein–Bekrönung in der Mitte des Hauses aufstieg. Hart daran lag das Packhaus mit Fahrpforte und Eingangstür. – Der Urgroßvater drüben hatte im vorletzten Sommer Alles für den Sohn vollenden lassen, während dieser zu seiner kaufmännischen Ausbildung die Handelsstädte Frankreichs besuchte und entzückte Briefe über den milden Himmelsstrich nach Hause schrieb; ja, auf den Promenaden von Bordeaux, wo er derzeit weilte, hatte er einmal die linde Sommernacht auf einer Gartenbank verschlafen.

Aber jetzt war er wieder in der Heimat; sein Haus stand aufgerichtet und harrte nur der jungen Frau. Und eben war diese, für jetzt zwar eine Braut noch, von hinten durch die Hoftür eingetreten. Sie hatte in den unteren Zimmern vergebens ihre junge Stellvertreterin gesucht; jetzt ging sie oben in den hellen Saal, an dessen tapezierten Wänden schon mancherlei Geräte für die junge Wirtschaft aufgestellt war. Flüchtig sah sie ihr frisches Antlitz in den Spiegelscheiben des Mahagonischrankes vorüberwandeln, dessen Aufsatz mit vergoldeten Vasen und Girlanden geschmückt war; dann trat sie in das Nebenzimmer, wo Reiseerinnerungen ihres Bräutigams, die Vernet'schen Ansichten der französischen Hafenplätze, an den Wänden hingen. Aber auch hier fand sie die Gesuchte nicht. – Als sie in den Saal zurücktrat, wäre sie fast erschrocken; eine lebensgroße weiße Gestalt, in der ausgestreckten Hand eine Schale haltend, stand ihr gegenüber auf dem zierlichen Untersatz des Ofens, der auf breiten Marmorfliesen ruhte. Sie musste lachen; es war ja die Hygiea, welche man, wie ihr wohl bekannt war, gestern erst hier aufgestellt hatte; an der sie vorhin, ohne umzublicken, vorbeigegangen war.

Sie stand auf gutem Fuß mit dieser Göttin der Gesundheit, „der schönaugigen Beisitzerin des Apollo, ohne welche Niemand glücklich ist“; sie war eine der Auserwählten, die aus ihrer Schale einen vollen Trunk getan. – Hochaufatmend in Glück und Lebensfülle trat sie an eines der Fenster und blickte in den Sommertag hinaus. Jenseit der Stadt, wohinaus der Blick über die niedrigen Häuser der vorliegenden Nebengasse frei war, zwischen dem grünen Festlande und der Nachbarinsel, breitete sonnenfunkelnd sich die Reede aus; kaum erkennbar aus dem Geflimmer ragten die Masten eines großen Schiffes, einer Brigg ihres Schwiegervaters, die, von glücklicher Fahrt zurückgekehrt, seit Kurzem dort vor Anker lag. Die junge Frau des Kapitäns hatte die Reise mitgemacht; und lebhaft wünschte sich das Großmütterchen das große Teleskop von der Bodenkammer ihres Schwiegervaters, um einmal nach ihr auszuschauen. Denn sie kannte sie wohl, die schlanke grauäugige Insulanerin; hatte sie doch letzte Woche erst mit Bräutigam und Schwiegerin einen Besuch an Bord gemacht; und welch' ein angenehmer Nachmittag war das gewesen! Vorüber an der Schiffswand hatten sie den Tümmler tauchen, durch den Tubus des Kapitäns die Robben auf dem fernen Sande schlafen sehen; zu guter Letzt hatten sie auf Deck, während die Seeschwalben über ihnen gaukelten, nach der Violine des Leichtmatrosen einen English–Shake getanzt. Wo waren hier noch Schatten?

Und doch, das Geschenk der Hygiea ist ein verhängnisvolles; wer zu tief aus ihrer Schale trinkt, der muss alle Augen brechen sehen, die ihm in süßer Jugendzeit gelacht. Aber auch dann noch zeigt sich die Gunst der milden jungfräulichen Göttin. Sie selbst, die das erfahren müssen, haben ihre heiteren Augensterne auf die Gegenwart gerichtet; die Gespenster der Zukunft haben keine Macht über sie.

Das Großmütterchen stand noch am Fenster; sie blickte jetzt hinunter in die Straße nach dem vorspringenden Ausbau des schwiegerelterlichen Hauses; aber sie sah hinter den spiegelblanken Fenstern nicht das Leilach wehen, das, wie bald! durch seinen Schatten den Sarg eines gütigen und für das Leben selbst geschaffenen Mädchens mit jener herz–erdrückenden Dämmerung umgeben sollte, die auf die Nacht des Grabes vorbereitet. – Sonnig und schweigend lagen die Räume um sie her, in denen, weit über ein zweifaches Lebensalter hinaus, alles Menschengeschick über sie ergehen sollte; aber kein unheimlicher Nebel kroch aus den Ecken, kein Schrei hallte vorspukend durch das Treppenhaus hinauf. Lachend nickte sie dem neu erhobenen Götterbilde zu, und flog dann die Treppen hinab, leicht, wie sie gekommen war.

Im Kellergeschoß kam hinten aus der Gesindestube die Köchin im buntgestreiften Wollenrock und berichtete von unten herauf, dass die Mamsell „nur ein Gewerbe ausgegangen“ und bald wieder da sein werde. – Das Großmütterchen ging wieder aus der Hoftür, dann rechts ein Steintreppchen hinauf in den Garten, wo zwischen gefälligen Partien im Jasmingesträuche das in Holz geschnitzte Bildnis einer Flora stand. Eine weitere Treppe, deren Geländer auf buntfarbigen Stäben ruhte, führte sie in den Obergarten. Hier waren noch die steifen gradlinigen Rabatten, der breite Steg dazwischen mit weißen Muscheln ausgestreut; perennierende Gewächse mit zarten blauen oder weißen Blumen und leuchtend gelben Staubfäden, andere mit feinen rötlichen Quästchen oder mit Blumen, wie aus durchsichtigem Papier geschnitten, dergleichen man nur noch in alten Gärten findet, daneben gelbe und blutrote Nelken blühten hier zu beiden Seiten und verhauchten ihren süßen Sommerduft.

Zu Ende des Steiges in der jungen Lindenlaube saß jetzt das Großmütterchen. Sie zog unter ihrem Brusttuche den dort verwahrten Brief hervor, den sie freilich schon daheim im Kämmerchen erbrochen und gelesen hatte. Aber das war ja nur das erste Mal.

„Mein teures liebes Lenchen!“ – so lasen ihre Augen und leise sprachen es die jungen Lippen nach –

„Den besten Dank für Ihre liebe und wärmevolle Zuschrift! Noch nie ist mir bei Eröffnung eines Briefes so wohl gewesen, und nie las ich mit mehrerer Begierde einen Brief als diesen.

Meine gütige Wirtin hatte mir soeben ein Gläschen eingeschenkt, das auf unser beiderseitiges Wohlergehen geleeret werden sollte; und da wir uns just von Ihnen, meine Liebe, unterhielten, ich mein Glück und meine erwünschte Wahl so mit vollen Empfindungen schilderte, da trat Vetter Asmus herein, nach dem ich mich schon verschiedentlich erkundigt hatte, und brachte mir Ihren so werten Brief.

Siehe da – es wurde eine Stille – ich erbrach ihn; ein Jeder hielte sein Gläschen in der Hand und erwartete das Ende, um sich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen.

Mit voller Freude rief ich aus: Mein gutes Mädchen ist, dem Himmel sei gedanket, wohl! So lebe denn Ihre liebe Braut! – Wir klingten an; und es wurde Jubel um uns her.

Heute bin ich wahrlich so recht seelenvergnügt, da mir die Nachricht von Ihrem Wohlbefinden noch so neu ist. Wenn ich gleich, meine Beste, die Abende niemalen in der Einsamkeit zubringe, so fühle ich doch immer, dass mir Ihre schätzbare Gegenwart fehlet. Doch die Hälfte der Zeit ist verflossen, und binnen wenig Tagen sehen wir uns wieder und genießen in einer unzerstörbaren Ruhe die echten Freuden dieses Lebens, wogegen alles Andere hienieden doch – – – – – und glauben Sie, dass ich ewig bin

Ihr zärtlich liebender – –“

 

Lächelnd und immer tiefer senkte sich der Kopf der jungen Leserin auf das Blatt in ihrer Hand, als hätten die lieben Worte sie zu sich herabgezogen. Sie hörte nicht den jugendlichen Schritt, der jetzt über die knirschenden Muscheln sich ihr nahte, nicht das rasche Zuschlagen eines Fächers; erst, als ein Arm sich um ihren Leib legte, blickte sie tief aufatmend in die ernsten Augen ihrer Schwiegerin.

Das Großmütterchen wollte ihren Brief verbergen; aber es gelang ihr nicht. „Mädchen, springe mir nicht so um den Busch!“ rief die Schwester; und schon hatte eine kleine resolute Hand die ihre eingefangen. – Bald saßen die Mädchen, Wang' an Wange lehnend, und studierten nun gemeinschaftlich den Brief des ihnen beiden teuren Mannes. Standen doch auch praktische und sehr zu erwägende Dinge darin; denn wie viele Aufträge hatte der Gefällige nicht bei der Abreise in seinem Promemoria notieren müssen, für deren manchen ein männlicher Verstand nicht einmal reichen wollte! Zwar die Hummer für die liebe Frau Wirtin waren richtig angekommen, und den Fuhrlohn und das Futtergeld für unterwegs hatte er sofort mit dem Fuhrmann abgemacht; auch der kirschrote Taffet sollte mit Vergnügen besorget werden; aber wie sich die „florenen Fomeln“ in dem letzten Briefe zu den zwei Ellen Milchflor in seinem Promemoria verhielten, das war selbst dem Scharfblick der Liebe unentwirrbar geblieben.

Ein Lächeln mitleidiger Überlegenheit flog über das Gesicht der Mädchen. Wie man nur so was nicht verstehen konnte!

Der Brief war ausgelesen. – Auf dem ein wenig schärfer umrissenen Antlitz der Einen, unter den dunklen Brauen in ihren klugen Augen lag es plötzlich wie scheidender Abendstrahl; wie aus dunklem Antrieb schlang sie ihren Arm noch fester um die jüngere Freundin. So saßen sie schweigend, Jede ihren eigenen Gedanken lauschend.

Und leise über sie hin strich die Zeit. Sie wehte den Puder aus ihren blonden Haaren; sie blies unmerklich, aber emsig von dem einen jungen Antlitz das Rot des Lebens, um es einer frühen Vergessenheit zu überliefern. Aber die Augen der Braut lachten vor Seligkeit.

 „Ja“, sagte der Onkel – denn wir befinden uns noch immer an dem runden Tisch des Onkels – indem er die Pfeife absetzte und wie zu plötzlich vertraulicher Mitteilung sich gegen den geduldig zuhörenden Vetter neigte. „Hat er uns doch nicht richtig angeführt! Was habe ich Euch gesagt? Lauter Dunst und Phantasie!“ – Ich hatte die Briefstellen vorhin aus dem Gedächtnis angeführt; jetzt zog ich das dir bekannte „Promemoria“ des Großvaters aus der Tasche, in welchem noch ein Teil des großelterlichen Briefwechsels aufbehalten ist. Wie in dem fahlen Gelb des seidenen Umschlages das einstige Rosa, so lässt sich in dem darauf gestickten Tempel mit dem flatternden Taubenpaare die zärtliche Bestimmung nicht verkennen, welche die Verfertigerin einst dieser Arbeit gab.

Mit gespannten Augen blickte Tante Friede über ihre Brillengläser nach dem verblichenen Kunstwerke, mir zugleich, in richtiger Erkenntnis meines Vorhabens, ihre freundliche Parteinahme zunickend. Ich aber hatte indes aus den auf rauem Papier geschriebenen Blättern, an welchen noch überall die kleinen roten Familiensiegel haften, den vergilbten Liebesbrief des Großvaters hervorgesucht und legte ihn jetzt schweigend vor dem Onkel auf den Tisch.

Da mussten Alle Respekt haben; das war heiliges Papier. – – –

 

4

Staub und Plunder

Ich saß im Obergarten in der Lindenlaube; sie war von dem alljährlichen Kappen jetzt so verästet, dass es kaum noch des Laubes bedurfte, um die Sonnenstrahlen abzuhalten. Die alte Zeit war aus; die einst fast mit der Stadt zugleich entstandene Kirche, vor meiner Geburt schon, glücklich abgebrochen; an Stelle des altehrwürdigen Baues stand jetzt ein gelbes, hässliches Kaninchenhaus mit zwei Reihen vier–eckiger Fenster, einem Turm wie eine Pfefferbüchse und einem abscheulichen, von einem abgängigen Pastor verfassten Reimspruch über dem Eingangstore, einem lebendigen Protest gegen alles Heidentum der Poesie. Die Denkmäler und Kunstschätze der alten Kirche waren auf Auktionen verkauft oder sonst verstreut; die schöne Kanzel war zertrümmert, den Altar aus Hans Brüggemann's Schule hatte ich selbst als Knabe in dem Pesel einer Branntweinsschenke stehen sehen, wo er unbeachtet allem Unfug preisgegeben war, bis er schließlich noch in einer Dorfkirche Unterkommen fand; die einst zur Seite des Altars befindliche Monstranz, ein kostbares Schnitzwerk von des großen Husumer Meisters eigner Hand, war spurlos verschwunden; nur das Muttergottesbild derselben war fast ein halbes Jahrhundert nach dem Abbruch der Kirche zwischen staubigem Gerümpel eines Hausbodens von einem kunstsinnigen Dänen aufgefunden und dann für immer der Vaterstadt des Meisters entführt worden. Keine Spur seines Lebens war in ihr zurückgeblieben, keine Spur jener Kunst, die besonders in unserem Lande sich einst zu einer Hauskunst ausgebildet hatte.

Das war eine pietätlose nüchterne Zeit gewesen, von allem Segen der Schönheit und der Kunst verlassen; und wir haben noch daran zu leiden. Aber die alten Herren der „vereinigten freundschaftlichen Gesellschaft“ hatten sie nur von fern am Horizonte aufsteigen sehen, bevor sie alle schlafen gegangen waren.

Auch das einst vom Urgroßvater so stattlich für den Sohn errichtete Haus hatte dieser Zeit seinen Tribut entrichten müssen. Die einst so behaglich in die Straße vorspringende Steintreppe war auf Anordnung der modernen Polizei verschnitten und verhunzt; den hohen Giebel hatte man selbst herabgenommen, die steinerne Bekrönung sollte das Haus zu schwer gedrückt haben; sogar die hölzerne Flora hatte den ihr einst geweihten Garten mit, Gott weiß, welchem düsteren Winkel vertauschen müssen.

Dort lag das Haus hinter dem mächtigen Ahornbaum, der mit seiner Krone fast das hohe Dach bedeckte. Es war jetzt ein altes, ein Familienhaus geworden; in allen Winkeln und auf allen Dielen lagen die Schatten vergangener Dinge; von Allen, die einst darin lebten und starben, war eine Spur zurückgeblieben; uns, die wir ihres Blutes waren, trat sie überall entgegen und gab uns das Gefühl des Zusammenhanges mit einer großen Sippschaft; denn auch die Toten gehörten mit dazu. Ja, Einige von uns wollten wissen, dass das Leben Jener noch nicht ganz vorüber sei, dass es zuweilen in Nächten oder in einsamer Mittagsstunde sich den Enkeln kund zu geben ringe; droben in der Stube hinter dem Saal, wo noch die Vernet'schen Kupferstiche des Großvaters hingen, sollte es zu Zeiten recht „unruhig“ zugehen.

Unter dem Dach auf den drei über einander liegenden Hausböden war alles Gerümpel aufgespeichert, das während eines zwei Menschenalter überdauernden Zeitraumes allmählich aus dem Gebrauch des Tages zu verschwinden pflegt; was man als abgenutzt bei Seite setzt, weil man den Mut nicht hat es fortzuwerfen, und was man vielleicht nie wieder berührt, es sei denn, daß das Leid oder die Leere der Gegenwart uns antreibt, zu den Zeichen einer reicheren Vergangenheit zu flüchten.

Der zunächst über dem unbewohnten zweiten Stockwerk belegene Boden mit seinen Winkeln und Treppchen und der gleich einem großen Kasten hineingebauten „Gewürzstube“ war ein besonders heimlicher Ort, an dem ich manche Stunde meiner Knabenzeit verbracht habe. Schon der Duft der Hagebutten und Lavendelsträuße, die hier auf den Fensterbänken getrocknet wurden, erregte meine Phantasie; es roch fast wie in einem Garten; aber wie in einem Garten der Vergangenheit. Zwar mit dem grauen Schranke, in dem die Großmutter ihr Sterbehemd bewahrte, mochte ich nichts zu schaffen haben; auch wurde es mir zuweilen unheimlich, dass dort unter der Dachschräge der große Ohrenlehnstuhl, in welchem einst der Großonkel seinen letzten Seufzer getan hatte, immer so unverrückt auf seinem Platze stand, als warte er darauf, dass sich endlich wieder Einer in ihn hineinlege; aber gegenüber der altmodische buntfurnierte Schrank mit dem hohen Aufsatz ließ mich diese widerstrebenden Gefühle überwinden. Auch er stand in feierlichem Schweigen und wie zur ewigen Ruhe gestellt; allein ich respektierte dieses Schweigen nicht; ich wusste die Schubladen zu öffnen – noch höre ich dabei das Klirren der vergoldeten Messinggriffe – und mit lüsternem Grauen durchstöberte ich das in ihnen eingesargte Spielzeug einer vergangenen Zeit. Da lagen Perücken und schwarzseidene Haarbeutel; da war ein Kästchen mit den Fächern der Großmutter, ein anderes mit den Bräutigamsmanschetten des Urgroßvaters; da war vor Allem ein höchst ergötzliches und nützliches Instrument, ein sauber aus dunklem Mahagoni gearbeiteter „Buckelkratzer“, und endlich– sollte auch der Großvater sie gegen das Rheuma angewandt haben, oder war es nur ein Vermächtnis des kleinen Waagemeisters? – eine große getrocknete Kröte, die Beine wie zum angestrengten Fortstreben ausgestreckt, in der Mitte des warzigen Leibes das Loch des Nagels, der es verhindert hatte, und an dem sie, zur Gewinnung stärkerer Heilkraft, einst hatte krepieren müssen. – Lange und nachdenklich habe ich oft, vor der aufgezogenen Schublade kniend, dieses Ding betrachtet. Mitunter auch ergriff der Dunst der Vergänglichkeit, der aus all' den Raritäten auf stieg, mich so beängstigend, dass ich plötzlich fortrannte und die Treppe hinabsprang oder, lieber noch, am Geländer hinabrutschte, um nur bald wieder in die Region der Lebendigen zu gelangen.

Doch das geschah nur selten; meistens wurde auch der Inhalt der oberen Fächer einer behaglichen Musterung unterzogen; der schöne Tafelaufsatz aus mattem Porzellan, ein sitzender Apoll nebst seinen Musen, welchen letzteren freilich schon hier und da eines der zarten Fingerchen abhanden gekommen war; das Reiseglas des Großvaters mit der Eigenschaft eines „Staamanties“ und der Inschrift:

Trink' mich aus, leg' mich nieder!

Steh' ich auf, füll' mich wieder!“

die gläsernen Pokale mit dem roten Gewebe in den Stängeln, mit eingeschmolzenen Schaumünzen oder auf dem Kelche eingeschliffenen Schäferszenen; insbesondere zwei gräuliche chinesische Pagoden, – Alles wurde behutsam herabgenommen und demnächst ebenso wieder an seinen Ort gesetzt.

Zwar, sehr einsam war es hier, und an den Seitenräumen fielen tiefe Schatten überall; der hinter der Gewürzstube befindliche Teil des Bodens lag, da die Luken dort fast stets geschlossen waren, auch bei Tage im Dunkeln; von den nach der Gartenseite aus dem Dache vorspringenden kleineren Fenstern war das eine hinter großen Kisten versteckt, vor dem anderen verbreitete die Laubkrone des Ahorns eine grüne Dämmerung; so dicht drängte sie sich heran, dass ich an Sommerabenden, wenn die Vögel zur Ruhe gegangen waren, mehrmals, wiewohl vergebens, versucht habe, einen schlafenden Sperling von den Zweigen abzupflücken. Selbst das um die Mittagszeit mir stets so traulich klingende Mörserstoßen aus der im Kellergeschoß liegenden Küche drang nicht herauf. Deutlich genug aber hörte man das Hämmern der Holzkäfer in den morschen Schränken, oder von den Packhausböden, die dort hinter den verriegelten Flügeltoren lagen, den behutsamen Tritt einer Katze, die einsam die steilen Treppen auf und ab spazierte. – Freilich, nach Westen an der Straßenseite befanden sich zwei größere Fenster in dem hier aufsteigenden Giebel des Hauses – die Gewürzstube schloss das dritte ein – durch welche man über die Dächer auf die grüne Marsch und darüber hinaus auf das Meer sah; doch Alles, was sich dem Auge darbot, die weidenden Rinder, das vorüberziehende Schiff, die Mühle, welche jenseits am Horizonte auf der gleich einem Nebelstreifen oberhalb des Wassers hingestreckten Insel ihre Flügel drehte, – es war so fern, dass es nur wie ein Bild dalag und kein Laut von dort herüberdrang.

In dem freundlichen Raum vor diesen Fenstern, durch welche schon früh die Nachmittagssonne hereinschien, befand sich eines der Hauptstücke der ganzen Bodenwirtschaft: das „Gesundheitspferd“ meines Großvaters. – Dass er auf diesem Pferde die entflohene Gesundheit wieder eingeholt habe, ist kaum anzunehmen; denn der Tod, der dem ganzen Lebensritt ein Ende macht, hatte diesen liebreichen Mann schon während meiner frühesten Kindheit aus dem Kreise der Seinen fortgerissen. – Übrigens war es eigentlich gar kein Pferd, sondern nur ein auf Sprungfedern ruhender, schön ausgenähter Sattel mit einem vierbeinigen Holzgestell darunter. Allein, ging die Bewegung auf demselben auch nicht vorwärts, so ging sie doch auf und ab, und manchen eben so ungefährlichen als vergnüglichen Spazierritt habe ich darauf gemacht; denn vorn befand sich eine Krücke zum Festhalten und an den Seiten hingen ein paar Steigbügel, in deren Riemen ich die Füße steckte, bis meine Beine allmählich zu ihnen hinabgewachsen waren. Nicht zu begreifen vermag ich jetzt, wo mir im sicheren Lehnstuhl schon mitunter die Buchstaben nicht Stand halten wollen, wie ich, auf diesem Gesundheitspferde reitend, Spindler's dreibändige Romane, untermischt mit Schiller'schen Dramen, Eins hinter dem Anderen weg zu lesen vermocht habe.

Auch alles dies ist lange nun vergangen. Jetzt, wo auch die Gespenster meiner eigenen Jugend in ihnen umgehen, betrete ich nicht gern mehr diese Räume.

– Neben mir in der Lindenlaube saß eine uralte Frau; es war meine Großmutter, die ich in den milden Septembersonnenschein hinausgeführt hatte. Noch vor einigen Jahren war sie rüstig genug gewesen und hatte es sich nicht versagen können, mit mir in die Familiengruft hinabzusteigen, welche an jenem Morgen zur Aufnahme eines jüngeren Familiengliedes geöffnet worden war. – Der mit schwarzem Tuch überzogene Sarg des Großvaters war noch wohl erhalten. Sie betrachtete ihn lange schweigend; dann suchte sie nach ihren Söhnen, welche sämtlich noch in den Kinderjahren sich dieser stillen Gesellschaft hatten zugesellen müssen. Die kleinen Särge, außer einem, waren schon in Trümmer gefallen. Als wir von diesem den auch schon gelösten Deckel abgehoben hatten, da lagen unterhalb eines kleinen weißen Schädels – überaus rührend, als seien sie seit dem letzten Lebensatem unverrückt geblieben – die feinen Knochen eines Ärmchens und eines ausgespreizten Kinderhändchens. Die Großmutter tastete mit zitternder Hand an diesen armen Überresten; sie betrachtete aufmerksam den Sarg, nickte mit dem Kopfe und sagte dann: „Das ist mein Simon; was für ein lustiger kleiner Junge war er!“ Und als ich von ihr fort zu einem anderen Sarge trat, sah ich, wie die Lippen der greisen Mutter sich noch einmal lang und innig auf die Stirn ihres lieben kleinen Jungen pressten.

– Von diesem ihrem Knaben, den sie einst gehabt, erzählte sie mir jetzt. Der Großvater hatte ihm ein kleines Gefährte mit zwei weißen Ziegenböcken geschenkt; damit war er überall umherkutschiert; die Ziegenböcke waren ein Paar eben so lustiger Gesellen gewesen wie ihr kleiner Herr. Sie hatten der Welt nicht nachgefragt; im Garten hatten sie die schönsten Nelken und Ranunkeln abgefressen, auf der Straße waren sie mit ihren Hörnern in einen Haufen irdener Töpferware geraten, die zum Verkauf vor einem Keller ausgestanden; tausend Wirtschaft hatte es gegeben.

Die Großmutter lachte ganz herzlich; es war zu lustig, wie der Junge auf seine weißen Ziegenböcke peitschte; sie musste noch mehr davon erzählen. Aber allmählich verwandelten sich die zwei Ziegenböcke in einen widerspenstigen Esel, auf dem „ein Ausbund von einem Jungen“ zwischen den Beeten unseres Gartens umhertrabte, immer im Kreis um die hölzerne Flora, bis der Esel hinten ausschlug und ihn in die Büsche warf.

„Großmutter“, sagte ich leise; „das war wohl nicht dein Simon; ich glaube, das bin ich selbst gewesen.“

Die alte Frau wurde plötzlich still; und ein Ausdruck von ergebener Trauer trat in ihr liebes Gesicht. „Ja, mein Kind“, sagte sie endlich, „meine Nerven haben Bankerott gemacht; ich habe schon so viel erlebt.“

Es war ihr in den letzten Jahren zuweilen begegnet, dass sie für unsere, der Jüngeren, Anschauung weit aus einander liegende Zeiten und Personen verwechselte. Wir suchten dann wohl einzuhelfen; aber wenn sie es bemerkte, schwieg sie gewöhnlich, wie in tiefer innerer Beschämung. „Gebrauch doch unser junges Gedächtnis, Großmutter!“ riet ich ihr einmal; aber sie sagte nur: „Man mag doch auch nicht lästig fallen.“

Ihr frohes und bescheidenes Wesen hatte ein langes Leben mit ihr ausgehalten und tausend glückliche Stunden über meine Jugend gebracht; nun sie sich selbst nicht mehr zu helfen wusste, wollte es mit dem Frohsinn nicht mehr fort. Aber sie hoffte den wiederzusehen, mit dem sie die glücklichsten Stunden ihrer Jugend gelebt hatte, und auch ihre kleinen lustigen Jungen, die ja hier auf Erden nicht zu Männern aufgewachsen waren.

Mit diesen ihren Toten mochte sie im Geiste verkehren, als sie jetzt so still an meiner Seite saß, die von Gicht gelähmten Hände in ihrem Schoß gefaltet; denn wie in seliger Zufriedenheit waren die halberblindeten Augen nach dem Gipfel des gegenüberstehenden alten Birnbaumes gerichtet, der einst mit ihrem Glücke jung gewesen war, und aus dessen Zweigen die gelben Blätter niedersanken.

 

Ich höre dich fragen: „Sind das die Reisebriefe, die du mir versprochen?“ – Ich kann nur sagen: „Nimm fürlieb!“ Und im Übrigen mögen die Manen meines Großmütterchens es mir verzeihen, dass ich, ein ungewandter Nekromant, aus der Nacht, in die es schon so tief versunken, ihr Jugendbild heraufzubeschwören suchte.

 

Quellen

LL 4, S. 186-217; Kommentar S. 686-709.

Die Erzählung entstand 1873 und wurde mit der Überschrift „Zerstreute Kapitel“ erstmals in „Westermanns Monatsheften“ 35.1873/74 veröffentlicht.

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Berichte für die Schleswig-Holsteinische Zeitung 1848*

(1)

*Husum, vom 16. April

Gestern Nachmittag trafen der dänische Propagandist Niß Hansen und der Kaufmann Jochimsen aus Flensburg hier ein. Sie begaben sich zu dem Amtmann, zu dem Landvogt und zu dem Bürgermeister, welchem letzten sie die Fragen vorlegten, welche Stimmung in der Stadt herrsche, und ob man eine Truppensendung auf hier wünsche. Auf desfallsige Gegenfrage behaupteten sie, mit Vollmachten vom Höchstkommandierenden der dänischen Armee versehen zu sein; produzierten jedoch, worauf indes auch weiter nicht gedrungen wurde, nichts dergleichen. Die ausgesprochene Absicht, eine königliche Proklamation an den Straßenecken anzuschlagen, wurde nicht in Ausführung gebracht, und begaben sich die genannten Personen, nachdem sie obige Besuche abgestattet, sofort wieder auf die Rückreise. Am Abend gelangte mit der Post an alle, welche eine königliche Bestallung haben, das (gestern mitgeteilte) Schreiben der sogenannten königlich dänischen Regierungs-Kommission in Hadersleben. Heute Nachmittag fand deshalb im Rathaussaale eine Besprechung der Beteiligten statt. Fast durchgängig sprach man sich dahin aus, dass eine motivierte Antwort nicht gegeben werden dürfe.

Die meisten Antworten werden dahin ausfallen, entweder, dass man den König noch als unfrei ansehe<,> oder ganz einfach, dass man auf eine Beantwortung nicht eintreten könne. Der Deichinspektor Petersen ist soeben nach Rendsburg abgereist, um bei einer hoffentlich bald eintretenden Umgestaltung der Verhältnisse seiner Wirksamkeit bei den hiesigen Hafenarbeiten nicht durch eine etwanige Wegführung entzogen zu werden.

 

(2)

*Husum, vom 19. April

Das famose Regierungsschreiben vom 10. d. M. ist fast von allen, welchen es zugekommen, gänzlich unbeantwortet gelassen. – In den Dörfern Treysa, Ostenfeld, Schwabstedt und Hollingstedt hat sich dänische Kavallerie (Dragoner) gezeigt; im ersten Dorfe hat dieselbe sich die Waffen der Volksbewaffnung ausliefern lassen und auf die beiden Anführer gefahndet; der Eine hat sich durch die Flucht gerettet, de Andre, Rasch, ist gefangen und weggeschleppt; auch in Ostenfeld hat die Volksbewaffnung ihre Waffen abgeben müssen. In Hollingstedt hat man heut Nachmittag noch die dänischen Vorposten auf der Brücke gesehen.

Auch in unsre Stadt kamen gestern Nachmittag zwei, heut Vormittag wiederum etwa ein Dutzend dänischer Dragoner, während eine entsprechende Anzahl vor der Stadt hielt, legten der zu beiden Malen in Waffen versammelten Bürgerschaft die Niß-Hansenschen Fragen vor: ob man deutsch oder dänisch sei? ob man Truppensendung wünsche? ob die Beamten zu Hause seien? und ritten, nachdem sie das eine, wie das andere Mal die gehörigen Antworten erhalten hatten, sofort wieder zur Stadt hinaus. Kurz vorher hatte der Hegereuter aus Immingstedt sich der Nachsetzung von vier dänischen Dragonern nur durch die Schnelligkeit seines Pferdes entziehen können; auch auf einen Förster aus der Umgegend, welcher beim Bracklovschen Korps gestanden, hat man, jedoch vergebens, eine gleiche Jagd versucht. – Von hier durch und um ganz Eiderstedt bis nach Tönning ist für Tag und Nacht eine Signallinie eingerichtet. – Auf Föhr ist eine dänische Kriegsschaluppe mit einigen Kanonenböten gelandet und hat den Landvogten und den Zollverwalter weggeführt; ein Gleiches wird von Sylt, jedoch bis jetzt unverbürgt, behauptet. Wo mittlerweile das Schiff nebst Böten abgeblieben, ist hie unbekannt.

 

(3)

*Husum, vom 21. April (Verspätet)

Gestern Nachmittag 3 Uhr ist unsere Stadt denn endlich förmlich okkupiert worden, und die Dannebrogfahne weht vorläufig von unserm Kirchturm herab. Dass die Feinde, gute Wegweiser gehabt haben, ist unverkennbar; denn ein Teil derselben zog sich hinter den Gärten der Norder- und Süderstraße durch Pforten und Fußsteige, welche erst seit einigen Tagen dem Publikum offen stehen, in die Stadt hinein. Ihre Anzahl schätze ich auf etwa 600 Mann, 1 Escadron Dragoner, ein halbes Bataillon Infanterie und 2 Kanonen. Nachdem sie auf dem Markte Halt gemacht und sich von der in Waffen versammelten Bürgerschaft die Gewehre hatten ausliefern lassen, rückten sie nach der ersten eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Barrikade des Eiderstädter Landsturms hinaus; die Besatzung derselben zog sich einem vorgeschriebenen Plan gemäß auf die zweite stärkere Schanze zurück, während die erstere vom Feinde zerstört wurde. Die Verteidigung derselben wurde nicht erforderlich, denn die Truppen gingen, wie es heißt auf empfangene Ordre, plötzlich nach der Stadt zurück, deren Ausgänge sie übrigens vorher aufs sorgfältigste besetzt hatten. Während hier die Soldaten sich (selbst) bei den Bürgern einquartierten, verfügte sich der Major der Infanterie nebst seinem Adjutanten und zwei Gemeinen indie Häuser der Beamten, welche königliche Kassen führen und ließ sich den Behalt derselben ausliefern. Die Ausbeute ist keine große gewesen; die Beamten selbst hatten sich sämtlich in Sicherheit gebracht. Außerdem wurde das Haus des Deich-Inspektors Petersen, welcher bekanntlich keine Kasse führt, den aber die Herren Offiziere mehrfach mit dem Titel eines Rebellen und Verräters bezeichneten, an dessen Vermögen man sich halten werde, sogar Betten und Schränke, aufs genaueste durchsucht. Dem Herrn Niß Hansen, welcher diesmal selbsteigen und nicht bloß im Geiste die Expedition begleitete, gelang unter dem Schutze der Kanonen nunmehr der Anklatsch einer Proklamation, welche er riesweise mit sich umher trug. Nachdem die Dannebrogsfahne aufgepflanzt, und die Offiziere einigen Champagner auf Stadtskosten getrunken hatten, fuhren die sämtlichen Truppen auf sechzig aus der Stadt requirierten Wagen sogleich wieder von dannen. Privateigentum ist nicht verletzt, Beamte sind nicht gefangen worden, wahrscheinlich indessen nur, weil sie nicht vorhanden waren. - Zu bemerken ist nachträglich, dass gestern Nachmittag aus dem versammelten Volkshaufen auf die wegreitenden dänischen Dragoner, und zwar zum Teil scharf, geschossen wurde, und dass die dänischen Offiziere dies als die Ursache der ganzen Expedition anführten. In wie fern solches möglich ist, will ich Kundigen zu beurteilen überlassen. – Tags zuvor ist auch eine Abteilung Dragoner von 50 Mann in dem Flecken Schwabstedt gewesen; wie es heißt in Begleitung des nachgerade zum Kinderspuk werdenden Lauritz Skov. – Zu morgenfrüh sind hier aus dem Amte 150 Wagen nach Flensburg (dem Vernehmen nach zum Barrikadenbau) und 60 Wagen nach Schleswig requiriert; die Bauern sollen indessen die Fuhren weigern. – Einem Gerüchte nach sind die ripener Freischaren im Anzuge.

 

Vom 22. April, Nachmittags

Von den aus der Stadt requirierten Wagen sind zehn noch nicht von Schleswig, wohin sie das Militär gebracht haben, zurückgekehrt. Sonst ist gestern und heute nichts von Belang hier oder in der Umgegend passiert; auch die angekündigten dänischen Patrouillen sind bis jetzt ausgeblieben.

 

(4)

*Husum, den 25. April

Gestern Nachmittag traf hier durch einen Bauervogt aus der Umgegend die Nachricht ein, dass bei den nach dem Entsatz von Schleswig gegen Norden weiterrückenden deutschen Truppen Mangel an Lebensmitteln eingetreten sei. In kaum zwei Stunden wurden durch freiwillige Beiträge der Einwohnerschaft 13 Wagen mit Brot, Fleisch, Schinken, Bier und Branntwein beladen und sofort ins preußische Lager unter General Möllendorff bei Lusebusch am Itzstedter Gehölz geschickt, wo sie die Truppen, bei lebhaften Feuern biwakierend, und für die mitgebrachten Viktualien raschen und dankbaren Abgang fanden. Auch die Landdistrikte machten verhältnismäßige Sendungen. –

Lazarettgegenstände werden fortwährend hier bereitet und versandt; auch eine bedeutende Anzahl von Kleidungsstücken aller Art ist in diesen Tagen durch einen zu dem Ende zusammengetretenen Frauenverein zusammengebracht und nach Rendsburg abgegangen. – Nach den günstigen Ereignissen dieser Tage haben wir gestern Nachmittag unsern Kirchturm von dem Zeichen der Okkupation befreit; die Dannebrogsfahne ist hoffentlich für immer verschwunden, statt dessen zeigten sich wieder die deutschen Bundesfahnen von den Giebeln der Privathäuser. – Die für die deutsche Nationalversammlung vorzunehmenden Wahlen fangen an uns zu beschäftigen; von vielen Seiten wird der dringende Wunsch geäußert, die sämtlichen Wahlkandidaten möchten, wie dies bereits von Mehreren geschehen, ihr politisches Glaubensbekenntnis, wenigstens den Grundzügen nach, veröffentlichen. Aus diesem Grunde würden wir die Vornahme der Wahlen am liebsten bis zum l0. kommenden Monats hinausgeschoben sehen, wie denn auch die durchaus erforderliche ruhige Überlegung und Besprechung dieser wichtigen Angelegenheit bei dem bisherigen Okkupationszustande unserer Gegend bis zum 1. Mai nicht zu ermöglichen ist, und eine alsdann schon vorgenommene Wahl den Folgen der Übereilung nicht entgehen wird. – Dass der Wahldirektor des großen Distrikts die ganze Wahlkommission aus Einwohnern der Landschaft Eiderstedt zusammengesetzt hat, würde, wenn es bei den gegenwärtigen Verhältnissen noch auf derlei Formalien ankäme, schwerlich der allgemeinen Missbilligung entgehen. Wenn aber die Kommission die Insel Nordstrand, dem Vernehmen nach, mit Amt und Stadt Husum als Wahlbezirk zusammenzuwerfen beabsichtigt, so ist dies nichts Andres, als eine tatsächliche Ausschließung von der Wahl; denn es liegt auf der Hand, dass selbst bei vorhandenem Willen doch nur der kleinste Teil der Wahlfähigen die Gelegenheit haben würde, zur Vollziehung dieses Aktes eine Reise nach dem Festlande vorzunehmen; dass die Gleichgültigeren hiedurch jeden Sporn des Interesses verlieren, versteht sich nebenbei von selbst.

 

(5)

*Husum, den 29. April

Die für 1848 planmäßig zur Ausführung der hiesigen Hafenarbeiten veranschlagte Summe beträgt, wie mir aus sicherer Quelle bekannt ist, 396 231 Mark Courant. Bei Konstituierung der provisorischen Regierung ging hier sofort abseiten derselben die Erklärung ein, dass die zur Ausführung angesetzten Arbeiten, welche damals bereits in Angriff genommen waren, ihren ungestörten Fortgang haben, und die dazu erforderlichen Mittel auf nähere Requisition zur Verfügung gestellt werden sollten. In Gemäßheit dieser Erklärung waren bis zur Osterwoche gegen 500 Arbeiter angestellt, die aber wegen der uns näher rückenden Kriegsunruhen damals auf 9 Tage entlassen werden müssten, jetzt indessen bereits seit Donnerstag, den 27. d. M. wieder in voller Tätigkeit sind. Überdies lässt man es sich auf alle Weise angelegen sein, außer den sonst erforderlichen Fuhrwerken und Wagenarbeitern, die Zahl bis auf 1200 zu verstärken. Indessen stellt sich auch hier ein fühlbarer Mangel an Arbeitern heraus, da Viele derselben im Militär, andere zu Kriegstransporten verwandt sind, und es steht wohl kaum in Aussicht, dass die gewünschte Anzahl herbeigeschafft werde. – Nach einer Bekanntmachung vom 28. d. M. ist der Bürgermeister v. Kaup zum Wahlkommissär für die Stadt Husum, das Amt Husum und die Landschaft Nordstrand ernannt, und wird mit einer beigeordneten Kommission die betreffenden Wahlen respektive am 1., 2. und 3. Mai abhalten. – Um die so schnell hereinbrechenden Wahlen wenigstens nicht ohne alle Anregung vorübergehen zu lassen, hat der Ausschuss des patriotischen Hülfsvereins eine Ansprache, womit zugleich eine Empfehlung des Herrn Obergerichtsrats Esmarch verbunden ist, in tausend Exemplaren durch Stadt und Umgegend verbreiten lassen.

 

(6)

*Husum, vom 4. Mai

Die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung in Stadt und Amt Husum und der Insel Nordstrand sind gestern beendet. Von 306 in der Stadt abgegebenen Stimmen sind 240, von 639 im Amte 545, von 206 auf Nordstrand 195 auf den Obergerichtsrat Esmarch in Schleswig gefallen. Außer diesem erhielten einzelne Stimmen der Senator Rehder in Husum, welcher sich übrigens in einer städtischen Vorversammlung für Esmarch ausgesprochen hatte, Landdrost Engel in Pinneberg, Advokat Claussen in Kiel, Professor Dahlmann in Bonn und in der Stadt einzelne hiesige Bürger. Claussen, der in der Ständeversammlung gegen Absetzung der Schullehrer auf dem Verwaltungswege gesprochen hat, erhielt seine sämtlichen 11 Stimmen von Schullehrern aus dem Amte. – Die husumer Frauen haben gestern eine bedeutende Sendung von getrocknetem Obst und verschiedenen Fruchtsäften zur Verpflegung der Verwundeten an die Kommandantschaft nach Rendsburg abgehen lassen.

 

(7)

*Husum, vom 6. Mai

Von den im 5. schleswigschen Distrikt abgegebenen 2-3000 Stimmen, sind fast 2000 auf den Obergerichtsrat Esmarch gefallen. Von den übrigen Stimmen hat Hardesvogt Jacobsen die Majorität in seinem Amtsbezirk (gegen 500), der Senator Rehder hier etwa 80 (in dem Amt und Stadt Husum), der Obergerichtsrat Nickels in Glückstadt etwa 50 (im Amt Husum), der Regierungspräsident Francke in Rendsburg etwa 20 (größtenteils in Eiderstedt), der konstituierte Landdrost Engel in Pinneberg (größtenteils auf Nordstrand) und der Advokat Claussen (wie schon berichtet, von Schullehrern des Amts Husum) jeder l0 bis 12 Stimmen erhalten; damit auch die Republik nicht unvertreten bliebe, hat ein Eiderstedter auch den unseligen Hecker gewählt. – Aus diesen Verhältnissen geht klar genug hervor, dass die Wahl, mit deren Ausfall wir übrigens durchaus einverstanden sind, sich tatsächlich, nur mit geringerer Ordnung und Sicherheit, auf demselben Wege gemacht hat, als wenn sie durch das Medium von Wahlmännern bewerkstelligt wäre; denn es haben wenigstens bei den Wahlen für Stadt und Amt Husum, denen ich teilweise persönlich beigewohnt habe, eine große Masse Menschen, namentlich viele der Deicharbeiter, mitgestimmt, denen der Wahlkandidat begreiflich nur dadurch bekannt war, dass er ihnen von Leuten, zu denen sie im Verhältnis des Verkehrs oder Vertrauens standen, vorgeschlagen worden war. - Unsre Viehmärkte, deren Wichtigkeit wir auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht übersehen können, bringen trotz den Verfügungen der Provisorischen Regierung nur etwa die Hälfte der sonstigen Stückzahl, am vorletzten Donnerstag 1600, sonst 3 bis 4000; am letzten Donnerstag circa 4000, sonst 7-9000 Stück Vieh; teure Preise sind die selbstverständliche Folge davon. – Vom

Kriegsschauplatz hören wir außer unsichern, munkelnden Gerüchten, z. B. dass ein russischer Parlamentär ins deutsche Lager gekommen sei, so gut wie nichts; die Physiognomie von Stadt und Umgegend ist die des tiefsten sommerlichsten Friedens.

 

(8)

*Husum, vom 26. Mai

In Anlass eines Schreibens der außerordentlichen Regierungskommission für das Herzogtum Schleswig hat das hiesige Visitatorium den sämtlichen Predigern der Propstei Husum (mit Ausnahme des nunmehr entlassenen Pastor Otzen in Olderup) durch Curricular vom 15. d. M. eine Erklärung abgefordert, ob sie die provisorische Regierung in Rendsburg als die zur Zeit die Rechte und Interessen der Herzogtümer Schleswig-Holstein Namens des Landesherrn wahrnehmende höchste Behörde anerkennen. Die jetzt sämtlich eingegangenen Erklärungen sind ohne Ausnahme befriedigend. – Die Hafenarbeiten, an welchen gegenwärtig 1500 bis 1600 Mann beschäftigt sind, nehmen durch die Witterung begünstigt einen erfreulichen Fortgang; die beiden Deiche nähern sich bereits stark ihrem Anschluss, welcher ohne Zweifel in nächster Woche erfolgen wird. Bei dem Norder-Anschlussdeich ist man mit Legung der Entwässerungsschleuse beschäftigt. – In unsren Marschen wird der Mangel an Wasser schmerzlich empfunden; die Gräben stehen zum Teil leer. – Von den Dänen erfahren wir hier nichts Unmittelbares; nur dass neulich eine englische Brigg, welche bei Pellworm Korn geladen hatte, den Schrecken einer Dänenlandung und das a tempo Einziehen einiger deutschen Fahnen hier veranlasste.

 

(9)

*Husum, vom 26. August

Am Dienstage in dieser Woche ist hier in Veranlassung des interimistischen Herrn Superintendenten Nielsen eine Versammlung abgehalten worden behufs Besprechung einiger

höchst wichtigen Zeitfragen, wie der Trennung der Kirche vom Staat, Emanzipation der Schule und über eine bessere Einrichtung der Kirchenvisitationen. –So angemessen wir es nun auch finden, wenn Gelegenheit gegeben wird, diese so tiefeingreifenden Fragen wirklich zu verhandeln, so sehr müssen wir es tadeln, wenn solche Versammlungen nicht öffentlich angezeigt und abgehalten werden. Nur ein absichtliches Missverstehen der ganzen Zeitrichtung kann Maßregeln anraten, wie solche hier haben ausgeführt werden sollen, und auch teilweise ausgeführt worden sind. –

Aus glaubwürdiger Quelle wird uns nämlich versichert, es seien nur die Prediger der Ämter Husum und Bredstedt und aus jedem Kirchspiele derselben Ein Schullehrer und Ein Kirchenjurat berufen worden. – Die Lehrer Husums haben in ihrer Konferenz auch deshalb den Beschluß gefasst, es dem hiesigen Herrn Propsten anzuzeigen, dass sie verlangten, entweder alle zu kommen, widrigenfalls sie alle wegbleiben würden. – Am Abend vor der Versammlung soll man ihrem Wunsch geneigtest nachgegeben haben, und sind sie auch wohl alle erschienen. Was die Kirchenjuraten unternommen, darüber verlautet nichts, einige haben wir im Paradeanzug gesehen, und erfahren, dass sie die Versammlung besucht haben. – Von diesen ist auch im Allgemeinen nicht zu verlangen, dass sie mit ihren Ansichten über derartige Fragen auf der Höhe der Zeit stehen, sie sollen wesentlich nur die ökonomischen Verhältnisse der Kirche in Ordnung halten, das Vermögen verwalten. –

Sollten nun derartige Versammlungen sich andernorts wiederholen, wie wir glauben annehmen zu dürfen und auch wünschen, so sprechen wir den Wunsch aus, dass nicht allein alle Prediger und Schullehrer, sondern auch die ganze Gemeinde zur Verhandlung eingeladen werde; wir sind nämlich der Ansicht, dass die Gemeinde als wesentlicher Teil der Kirche auch ein Recht habe, über solche Fragen sich teils belehren zu lassen, teils auch ihre Ansicht auszusprechen; wir können die Geistlichkeit nicht anders denn als Diener der Kirche betrachten; wir finden es entschieden falsch, wenn Personen vermöge ihrer Gemeindeämter zur Verhandlung so wichtiger Fragen berufen werden. – Hier muss völlige Freiheit herrschen.

 

(10)

*Husum, vom 10. September

Husum steht in dem Verdachte des Republikanismus, der Wühlerei wohl gar und Anarchie! der „Altonaer Mercur“ weiß es schon und hat es in die Welt geschickt: in Husum solle die Republik proklamiert sein; das lesen und nicht in allen Fibern vor Schreck erzittern – hu, da müsste man kein Husumer sein, besonders da der „Mercur“ eine so erbauliche Einleitung über „das Gespenst der Republik“ vorausschickt.

Es ist etwas Wahres an der Geschichte. Ein hiesiger Klempner hatte, vermutlich der Abwechslung wegen, rote Kokarden angefertigt, ein Paar Soldaten aus dem 2. Jägerkorps, welche am 5. d. M. auf Urlaub in Rendsburg gewesen waren und dort von der bösen Freiheit angesteckt sein mochten, kauften von ihm jeder ein Exemplar und hefteten es ihrer Kopfbedeckung an. Ihr Hauptmann verwies es ihnen, als sie mit diesem Symbolum im Dienste erschienen. Die Polizei inhibierte den ferneren Verkauf der roten Kokarden. Das ist die Geschichte der husumer Republik, so weit sie Jedermann vor Augen liegt; außerdem gibts wohl einige geheime Artikel. Vor dem Gespenste der Republik schaudert es aber nicht dem „Mercur“ allein, es gibt auch sonst wohl noch den Einen oder den Andern, der nicht etwa bloß so schreckliche Manifestationen republikanischen Geistes bedenklich findet, sondern den Geist selber, der ja das ganze 2. Jägerkorps, und auch das damals hieselbst garnisonierende 8. Infanteriebataillon, endlich wohl gar die Bürgerschaft ergreifen könnte. Dieser Geist lässt sich zwar nicht töten, aber doch einem Umsichgreifen des Übels vorbeugen, man kann ein Exempel statuieren und je höher die Bestraften stehen, desto mehr Wirkung hat's nach unten! Ein Bisschen Denunziation, ein bisschen Übertreibung, dabei gläubige Ohren, furchtsame Herzen und – Hauptmänner, leider! die, welche beim Jägerkorps am meisten und vielleicht allein beliebt sind, werden in puncto republikanischer Umtriebe in Verhör gezogen, darauf versetzt oder aus schleswig-holsteinischen Diensten entlassen.

Der Eine von ihnen ist zufällig grade der, welcher die roten Kokarden verbot, er trug die Brust voll Orden, welche er sich im Felde für die Freiheit kämpfend verdient. – Dem Kommandeur vom 8. Infanteriebataillon ergeht es nicht besser, ist ihm doch so gut wie den beiden Hauptmännern ein Hoch von seinen Leuten gebracht, und hat er ihnen doch bei der Gelegenheit gesagt, Gehorsam sei des Soldaten erste Pflicht. Der Mann könnte ja ein Republikaner sein und sein Bataillon gegen das Königtum verwenden! Dass ihn, wie jene Hauptleute, die Soldaten gleichwie einen Vater liebten war gleichgültig, vielleicht gar sein Verbrechen. Der Soldat darf seinen Vorgesetzten nicht lieben, sowenig wie er denken darf, fürchten muss er seinen Offizier und Honneurs machen vor ihm und dann bei Gelegenheit sich allenfalls totschießen lassen.

Der „Mercur“ hat also so Unrecht nicht gehabt mit seiner Gespensterfurcht, es ist Etwas an der Geschichte. Ist doch gegen beregtes Gespenst außer dem „Mercur“ ein ganzes Jägerkorps aufgestanden und von Friedrichstadt hieher in den Krieg geschickt und hat doch eine ganze Schwadron Dragoner oder gar zwei am östlichen Tor Husums gehalten, um gegen ein halbes Dutzend längst wieder abgelegter Kokarden zu kämpfen. Schade in der Tat, dass wir Husumer Bürger nicht gegen das Königtum opponieren, sondern nur mit ganz Deutschland uns über königlich-preußische Diplomatie höchlichst doch submissest zu verwundern uns erlauben, sonst hätten wir uns einen Namen machen können, wir wären die deutschen Pariser. Aber leider geht es uns fast allen, wie einem entschiedenen Antirepublikaner, der auf die Frage: „ob's denn in Hamburg nicht ganz leidlich gehe mit der Republik, mindestens eben so gut als bei uns mit dem Königtum in der dänischen Zeit?“ – keine andere Antwort hatte als die Gegenfrage: „ist denn in Hamburg eine Republik?“ – Wir wissen nicht, was es mit der Republik eigentlich auf sich hat. - Armer Möller, Reckowsky, Willmann, warum seid Ihr keine husumer Bürger!

Der Kommandeur des hieselbst garnisonierenden 2. Jägerkorps heißt Seelhorst. - Dies auch zur Nachricht für die Börsenhalle.

 

(11)

*Husum, vom 12. September

Das zweite Jägerkorps, in welchem aus allen Ständen und Gegenden Schleswig-Holsteins gereifte Jünglinge und Männer beisammen sind, fühlte sich kürzlich, als durch den Waffenstillstand mit des Vaterlandes auch seine Existenz bedroht schien, gedrungen, dem Geiste, der Gesinnung, die in ihm waltet, einen Ausdruck zu geben. Hierzu kam,

dass seltsame Gerüchte von „wühlerischen, gefährlichen Bestrebungen in diesem Korps“ durch das Land und öffentliche Blätter liefen. Man wollte durch eine Vertrauensadresse an die Vertreter unsres Volks solche Gerüchte niederschlagen, selbst auf die Gefahr hin, durch solche Äußerung des Selbstbewusstseins mehreren der Offiziere missliebig zu werden. Plötzlich wurde die Absendung der Adresse, welche auf dienstlichem Wege durch den Herrn Major des Korps geschehen sollte, durch ein Verbot aller Adressen der Militärs verhindert. In der solchergestalt unterdrückten Adresse sollte ausgesprochen werden, dass das Korps, das sich freudig um Schleswig-Holsteins Fahnen geschart habe, bereit, für dessen Unabhängigkeit von fremder Gewaltherrschaft Gut und Blut einzusetzen, die Bedingungen des Waffenstillstandes mit Unwillen und gerechter Entrüstung vernommen habe, durch welche die schleswig-holsteinische Armee, einig in der Gesinnung, durch Ein Gesetz berufen, durch Eine Regierung in Pflicht genommen, auseinander gerissen und durch welche dem Lande eine Regierung aufgedrungen werden sollte, die nie dessen Vertrauen erwerben könne. Die Landes-Versammlung möge nicht dulden, dass die schleswigschen Streiter von den holsteinischen getrennt d. h. wehrlos gemacht und einem Obergeneral übergeben würden, der nicht von der provisorischen Regierung im Einverständnis mit der Landes-Versammlung seine Vollmacht habe. Wie auch immer Deutschlands politische Würfel fallen möchten, das Korps sei freudig bereit, den Beschlüssen der Landesversammlung wie der provisorischen Regierung mit dem Schwerte Nachdruck zu geben und jegliches Opfer für Schleswig-Holsteins Unabhängigkeit zu bringen.

 

(12)

Husum, vom 6. November

Unserm sonst so ruhigen Städtchen ward diese Woche schon zum 2. Mal ein Fackelzug zu Teil. Vorigen Dienstag galt es dem allverehrten Präsidenten Beseler, gestern Abend war es die zweite Kompanie des 2. Jägerkorps, der sich Mitglieder sämtlicher übrigen Kompanien angeschlossen hatten, die ihrem scheidenden Hauptmann diese ihn und die Kompanie zugleich ehrende Anerkennung darbrachte. Herr Hauptmann von Knobelsdorf, vom 32. preußischen Füselierbataillon, hat in der kurzen Zeit, in der das Korps das Glück hatte, ihn zu den Seinigen zu zählen, sich die Liebe und Achtung sowohl der Offiziere als der Mannschaften im höchsten Grade zu erwerben gewusst. Wohl selten hat ein Offizier eine Kompanie unter ungünstigeren Umständen übernommen als Herr v. K. die seine. Erbittert durch den Verlust ihres früheren wackern Hauptmannes, den man der Kompanie, ohne dass sie wusste weshalb? entrissen, hatte der jetzt von hier Scheidende die doppelte Aufgabe ungünstige Vorurteile, welche sich gebildet zu zerstreuen, und die aufgeregten Gemüter beschwichtigend, zugleich ihr Vertrauen zu gewinnen. Beides gelang dem Herrn Hauptmann über Erwarten, da er den Geist unserer jungen Truppen richtig erfassend, den Ernst des Dienstes mit der Humanität, die unsere Zeit verlangt, zu vereinen wusste. Hätten wir das Glück gehabt, von den sogenannten fremden Staaten nur Offiziere zu bekommen, die sämtliche Eigenschaften eines guten Offiziers vereinigen, wie Herr v. K., sicher würden die fremden Herren sich eben so wenig zu beklagen gehabt haben, wie der Scheidende. Der Verlust ist für unsere junge Armee und besonders für das 2. Jägerkorps ein unersetzlicher. Möge der Scheidende dem Korps dieselbe freundliche Erinnerung bewahren, wie sie das Korps ihm bewahren wird. Wir zweifeln nicht daran, da Hr. v. K. beim Abschiede Worte der Teilnahme und Zufriedenheit gesprochen, die bei ihm, dem Ehrenmann, sicher nicht allein Worte sind.

 

(13)

Herr Redakteur! Unter Bezugnahme auf den mit der Überschrift: „Der Major von Seelhorst“ in Nr. 195 Ihres Blattes erschienenen Artikel ersuche ich Sie um die Aufnahme nachstehender Mitteilung:

In der Nr. 52 der Altonaer Reform erschien vor einiger Zeit ein Artikel „die Republik in Husum“, worin unter Andern gesagt wurde, der Major von Seelhorst habe sich der beiden Hauptleute Möller und Rekowsky, welche das Vertrauen, die Liebe und die Achtung ihrer Untergebenen in hohem Grade besessen, durch falsche Denunziation entledigt. Im Auftrage des Herrn Majors forderte ich die Redaktion der Reform auf den Einsender jenes Artikels zu nennen, worauf mir die schriftliche Antwort wurde, dass derselbe der Redaktion von dem Herrn Hauptmann Möller persönlich zugestellt worden sei. – Indem ich mich bei gänzlicher Unkenntnis der Akten jedes Urteils über das gegen jene beiden Herren angewandte Verfahren enthalte und mich namentlich gegen jede Vertretung unsrer Militärjustiz verwahre, habe ich es gleichwohl für meine Pflicht gehalten, das Vorstehende mit Genehmigung des Beteiligten zu veröffentlichen, damit dem Publikum bei derartigen Aufsätzen so weit als möglich auch die Quellen derselben zugänglich werden.

Gleichzeitig habe ich eine verehrliche Redaktion der Schleswig-Holsteinischen Zeitung im Auftrage des Herrn Majors von Seelhorst aufzufordern, den Einsender des mit der Überschrift „der Major von Seelhorst“ in Nr. 195 Ihres Blattes abgedruckten Artikels namhaft zu machen, damit auf gerichtlichem Wege gegen denselben verfahren werden könne.

Husum, den 2. Dezember 1848   Advokat Woldsen-Storm

 

Quellen

Schleswig-Holsteinische Zeitung, Kiel vom 18.4. (1), 22.4. (2), 26.4. (3), 28.4. (4), 1.5. (5), 6.5. (6), 9.5. (7), 30.5. (8), 30.8. (9), 13.9. (10), 17.9. (11), 11.11. (12) u. 13.12. 1848 (13). Hier nach der Edition in LL 4, 311-325; Kommentar S. 793-809.

Dieter Lohmeier leitet seinen Kommentar mit folgender Darstellung ein: „In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1848 begann die schleswig-holsteinische Erhebung mit der Proklamation einer -Provisorischen Regierung vor dem Kieler Rathaus. Diese nahm für sich in Anspruch, an der Stelle des Landesherrn d. h. des Königs von Dänemark in seiner Eigenschaft als Herzog von Schleswig und Holstein zu handeln, dessen Wille durch die am 21. März vollzogene Umwandlung des zuvor absolutistisch regierten Königreichs Dänemark in eine konstitutionelle Monarchie „nicht mehr frei“ sei, und die historisch verbürgten „Rechte des Landes“ gegen die in Kopenhagen zur Macht gekommenen dänischen Nationalliberalen zu verteidigen, die das Herzogtum Schleswig staatsrechtlich vom Herzogtum Holstein trennen und es mit dem Königreich vereinigen wollten. Demgegenüber wollte die Provisorische Regierung sich, in dieser Hinsicht selbst nationalliberal, mit aller Kraft den Einheits- und Freiheitsbewegungen Deutschlands anschließen“. Am 24. März bemächtigte man sich der Festung Rendsburg, die auf der Grenze der beiden Herzogtümer lag und nun aus symbolischen wie aus strategischen Gründen für einige Monate der Hauptort der Erhebung wurde: als Sitz der Provisorischen Regierung, Tagungsstätte der Vereinigten schleswig-holsteinischen Ständeversammlung, zeitweiliger Sitz der Königlich Schleswig-Holsteinischen Regierung (der obersten im Lande selbst ansässigen Verwaltungsbehörde) und militärisches Bollwerk. Rendsburg wurde nun auch der Erscheinungsort eines von der Provisorischen Regierung finanzierten eigenen Presseorgans, der Schleswig-Holsteinichen Zeitung. Deren verantwortlicher Herausgeber wurde der Theologe Andreas Friedrich Hanssen, dem als weiterer Redakteur nur Theodor Mommsen zur Seite stand. Sie begann am 15. April 1848 zu erscheinen.

Das neue Blatt mußte zunächst einmal versuchen, Korrespondenten an verschiedenen Orten beider Herzogtümer und namentlich im politisch und nun auch militärisch besonders umstrittenen Schleswig zu gewinnen, und so schrieb Mommsen am 9. April, noch aus Altona, an Storm: Ich bin Ihnen wohl ganz aus der Kunde gekommen, liebster Freund, seit Ihrer freundlichen Einladung, der ich leider nicht Folge leisten konnte; nun lade ich Sie ein, mir beizustehen und mich heimzusuchen. Beistehen müssen Sie mir bei der schleswig-holsteinischen Zeitung, die im Laufe der nächsten Woche unter Hanssens und meiner Redaction in Rendsburg erscheinen wird. Es ist ein Regierungsblatt, gegründet auf Kosten und im Interesse der Provisorischen; das wird allerdings die Mitarbeiter oft geniren, aber die Zeiten sind so, daß jetzt die erste Pflicht eines Jeden ist, alle Velleitäten (= kraftlosen Wünsche) der Opposition zu unterdrücken und höchstens nach Mitternacht solo vorm Spiegel am eigenen Kopfschütteln sich zu erbauen. Ich rechne auf Sie für Berichte aus Ihrem Distrikte jedenfalls, wo möglich auch für leitende Artikel, doch dürfen diese keinen ausschließend lokalen Charakter tragen.

Dieser dringlichen Bitte konnte Storm sich nicht entziehen, und so schrieb er nun bis Ende Mai in recht dichter Folge acht Berichte über die Vorgänge in Husum, obgleich er zuvor noch keine Erfahrungen als Journalist gesammelt hatte. Soweit sich aus dem begleitenden Briefwechsel erkennen läßt, hat Mommsen fast alle von Storm gelieferten Beiträge ins Blatt genommen und dort mit einem Sternchen als Chiffre gekennzeichnet. Nur das Ende April als ein „leitende(r) Artikel in Versen“ übersandte Gedicht Ostern ließ er als für eine politische Zeitung nicht geeignet beiseite, und daß ein am 1. Juli geschriebener (nicht überlieferter) Bericht Storms nicht gedruckt wurde, erklärt sich aus der Tatsache, daß Mommsen selbst in diesen Tagen wegen Differenzen mit der Provisorischen Regierung aus der Redaktion ausschied. Später hat Storm dann nur noch viermal für die Schleswig-Holsteinische Zeitung zur Feder gegriffen; drei dieser Berichte haben ein und denselben Vorgang zum Thema, der Storm besonders in Harnisch brachte, weil er an seine liberalen Grundüberzeugungen im Sinne der schleswig-holsteinischen Erhebung rührte: ein Versuch, zwei in Husum stationierte Offiziere der Schleswig-Holsteinischen Armee wegen angeblicher republikanischer Überzeugungen zu maßregeln. Eben diesem Fall gilt auch ein Schriftsatz des Advokaten Storm vom Dezember 1848, den er in die Schleswig-Holsteinische Zeitung hat einrücken lassen. Er ist hier den Korrespondenzen am Schluß hinzugefügt, obgleich er strenggenommen nicht dazugehört und der Rolle des Rechtsanwalts gemäß eine ganz andere Haltung erkennen läßt als die Berichte des Journalisten Storm.“ (S. 793-795)

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Das war unser Weihnachten

 (1)

Wir haben seit meinem letzten Briefe Weihnacht und Neujahr gehabt, was ich ja alles, wie schon besagt und beklagt, hier in Kiel verleben musste. Indes hatten wir sechs Husumer doch einen Weihnachtsabend, wovon ich Dir wenigstens etwas erzählen will, da das Ganze bei mir gewiss bleibend einen freundlichen Eindruck zurücklassen wird. Ich mit noch einem Freunde arrangierte das Ganze mit aller möglichen Heimlichkeit vor den andern; in einem großen hohen Zimmer stellten wir eine prachtvolle 8 Fuß hohe Tanne auf, schmückten sie reichlich mit goldenen Äpfeln, Eiern, Netzen, Zuckerzeug und vielen bunten Lichtern; von der Spitze zu jeder Seite herab hängen zwei lange weißseidene Fahnen, auf der einen die Wappen von Schleswig und Holstein, darunter einen Königsspruch, der die bleibende Vereinigung dieser beiden Herzogtümer ausspricht: „wi laven dat Sleswik und Holsten bliven ewig tosamende ungedeelt!“1 − auf der andern Fahne das Husumer Stadtwappen, als Umschrift einen Vers aus einem alten Studentenliede: „Süßer Traum der Kinderjahre, kehr noch einmal uns zurück.“ − Für die Gesamtbeiträge wurde für jeden 1 Geschenk gekauft, außerdem wurden gegenseitig an uns als Kommission manche Privatgeschenke abgeliefert, ferner hatte ich von den Eltern, Geschwistern, Bräuten der Andern alle zum Weihnachtsabend bestimmten Geschenke an mich schicken lassen. Das alles stellten wir auf großen Tischen um den Weihnachtsbaum, und nachdem wir alle Lichter angezündet hatten, riefen wir die ungeduldigen Kinder zum Christfest. Unsre Einrichtung verfehlte ihren Zweck nicht. So rasch sie bis zur Tür stürmten, so langsam gingen sie hinein; denn der Christbaum ist ein brennendes Geheimnis! Ich sah es wohl, ihre Herzen waren in der Stunde, wie die der Kinder. Engel knieten an der Schwelle, hütend bei dem frommen Schein; von den Lippen klang es helle; nur die Kinder gehen ein!2 So blieb die Stimmung den ganzen Abend; wir freuten uns stundenlang am Baum, an den Geschenken, an den guten Einfällen, die dabei vorkamen; kein leichtsinniges Wort hätten wir geduldet. Bei Tisch brachten wir das erste Glas allen unsern Lieben in der Ferne, das zweite der bleibenden Vereinigung unseres Vaterlandes in den beiden Herzogtümern, das dritte unserer Vereinigung. Um 1 Uhr ging jeder mit seinen Geschenken beladen nach Haus, die bei Allen noch manchen Tag auf dem Tische zur Schau standen.

 

(2)

Ich bin in diesen Tagen ein rechtes Weihnachtskind gewesen; darum wollt Ihr, lieben Freunde, Euch auch nicht „wundern, wenn dieser Brief zum Teil von einem Kinde geschrieben wird. Ich sitze hier in unserm Saal3, der das Wohnzimmer für die Festtage ist, und vor mir steht der Weihnachtsbaum und welch’ einer! Die schönste Tanne meines Gartens, mit der Spitze fast an die Decke reichend, mit den untern dicklaubigen Zweigen die Bütte (aus der Setzerschen Haushaltung durch Detlef entlehnt) überhängend. Zuckerzeug von Meier aus Altona; Schleswig-Holsteinische Dragoner, Trommelschläger, Frösche in natürlicher Größe, Eisele und Beisele4 Affen und gelbe Wurzeln, etc. etc. kleine nackte Wachskinder, die jedes Mädchenherz entzücken müssen, schweben auf den Tannenspitzen, unzählige Glaskugeln, goldne Eier, goldne Wallnüsse und Pflaumen, denen ich die Arbeit dreier Feierabende widmete, während Propst Feddersen5 uns Arnims Appelmänner6 vorlas, Rosinenguirlanden, Rauschgoldstreifen, buntgefüllte weiße Netze, über deren richtige Construction eine ganze Ratsversammlung gehalten worden; und auf diesen wunderschönen Baum hatten wir außer der Hohlen Gasse7 den alten (Käthe ist bei uns auf Besuch) den würdigen kleinen Doktor8 und Detlef eingeladen Pröpsten Feddersen, der im schönsten Staat anhero erschien; unsre alte Großmutter, die ein Paar Schlagartige Zufälle gehabt hat9 war doch auch wieder so weit, um in der Kutsche erscheinen zu können. Nachdem fünf Personen 6 Stunden damit zugebracht hatten, nur um die Sachen an diesem ungeheuern Baum zu befestigen, wurden denn gestern Abend um 5 Uhr die 60 Wachslichter angezündet; und ich konnte mir mit aufrichtiger Befriedigung sagen: ein solcher Weihnachtsbaum brennt vielleicht heut Abend in ganz Schleswigholstein nicht mehr! (- „Germania, das große Kind, erfreut sich wieder seiner Weihnachtsbäume.“ (Heine, Romanzero.))10 Übrigens war ich doch eigentlich nicht hochmütig auf meinen Baum; die letzte Phrase ist mir nur heut so nachträglich aufs Papier gekommen. Ein eigenes Gefühl war es aber, dass der Baum noch lebendig ist, und nach Neujahr wieder m die Erde soll. Was wird der den Vögeln zu erzählen haben! Hans11, der, bis der ersehnte Ruf erscholl, wie eine Stahlfeder, so oft die Tür aufging, gar nicht in der Vorstube zu halten war, wurde denn so mit Spielzeug von allen Seiten überhäuft, dass er eigentlich zu keinem einzelnen ein rechtes Interesse fassen konnte, er bekam 20 verschiedene, zum Teil, größere Sachen, darunter 4 Bilderbücher, und in der Tat die Creme vom diesjährigen Kinderbilderbüchermarkt; Glasbrenners Marzipan, Bürkners Fibel, Deutsches Weihnachtsbuch von Heger u. ein älteres, Speckters Fabeln.12 Der kleine Ernst13 hatte an Allem die unaussprechlichste Freude, er saß auf der Diele und trommelte auf einer kleinen Trommel, und dann hielt er wieder still, und brach in lauten Triumph und Bewunderung aus, und rief Papa oder Mama oder sonst einen entzückenden Laut aus seiner kleinen Kinderkehle. Der Baum mit seinen Lichtern machte die Luft in dem großen Saal fast glühend, so daß wir die Saaltüren öffnen mussten. Die alte Großmutter saß ganz selig im Sofa bei diesem Kinderschein, sie wünschte uns, dass wir noch viele so schöne Abende verleben möchten; aber es sei wohl ihr letzter; sie habe sich so darauf gefreut noch einmal das Fest mit uns zu erleben, dass sie in den letzten Tagen jede Stunde bis zu diesem Abend gezählt habe. Nachdem der Baum etwa anderthalb Stunden gebrannt hatte, wurden die Lichter ausgetan, wogegen Hans freilich aufs Energischste protestierte, und nun gab es in dem ganz verfinsterten Saal Schattenspiel an der Wand und Transparentkasten.14 Nach 7 Uhr fuhr dann die hohle Gasse nach Haus und die Kinder waren zu Bett gebracht; der Rest der Gesellschaft besah nun die Bilderbücher, die 24 ersten Münchener Bilderbogen15 und die Schiefertafelbilder16, die ich für Weihnachtsabend angeschafft hatte. Wir saßen m der angenehmsten Wolke von Tannenbaum- und Weihnachtskuchenduft; dann kam noch das unerlässliche Festgericht, Fische und Futjen17 (so schreib ich diese Lieben); und dann war die Polizeistunde und die vollständigste Müdigkeit da. Für ein kleines Mädchen unsrer Waschfrau hatten wir auch einen Weihnachtsteller ausgerichtet; die war auch unser Gast, und wahrscheinlich der seligste. – Das war unser Weihnachten.

_____

1 „Wir glauben, dass Schleswig und Holstein für immer ungeteilt zusammen bleiben!“

2 Storm zitiert sein Gedicht „Weihnachtsgruß“.

3 Storm wohnte seit seiner Hochzeit mit Constanze Esmarch im September 1846 im Hause Neustadt 56.

4 Baron Beisele und sein Hofmeister Dr. Eisele waren bekannte Witzfiguren in den „Fliegenden Blättern“. Vergl. Eva Zahn (Hg.): Querschnitt durch die Fliegenden Blätter. München 1966.

5 Friedrich Federsen (1790-1863), 1838-1859 Propst von Eiderstedt.

6 Ludwig Achim von Arnim, Die Appelmänner. (Ein Puppenspiel), in: ders., Sämmtliche Werke. Neue Ausgabe, 7. Bd., Schaubühne II, Berlin 1857, S. 139-224. (Reprogr. Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1982).

7 Adresse der Eltern Theodor Storms in Husum.

8 Johann Lorenz Heinrich Kuhlmann (1817-1900), ein Jugendfreund Storms, der als Arzt in Husum praktizierte.

9 Magdalena Woldsen, geb. Feddersen (1766-1854); Großmutter von Theodor Storm.

10 Heinrich Heine: Romanzero, Gedichte (1851); Storm zitiert aus dem 2. Buch („Lamentationen“) das 16. Stück „Im Oktober 1849“.

11 Hans Strom (1848-1886), erster Sohn von Constanze und Theodor Storm.

12 Adolf Glaßbrenner: Die Insel Marzipan. Hamburg 1851.

Hugo Bürkncr (1818-1897) schuf Illustrationen zu Johann Peter Hebels und Theodor Storms Gedichten; bekannt wurde er auch durch biedermeierliche Weihnachtsbilder und durch eine Fibel für ABC-Schützen: Hugo Bürkner’s große Bilder-Fibel mit 50 neuen schönen Bildern und Reimen. Leipzig 1851.

Moritz Heger: Deutsches Weihnachtsbuch für die Jugend. Für Kinder von 5-8 Jahren. Dresden 1851.

Wilhelm Hey: Fünfzig Fabeln für Kinder. Hamburg 1833. Noch fünfzig Fabeln für Kinder. In Bildern gezeichnet von Otto Speckter. Hamburg 1837.

13 Ernst Storm (1851-1913), zweiter Sohn der Storms.

14 Storm meint eine Laterna magica, ein Projektionsgerät mit transparent bemalten Glasstreifen.

15 Die „Münchner Bilderbogen“ erschienen seit 1844 bei der Firma Braun & Schneider in München.

16 Schiefertafel-Bilder zu deutschen Kinderliedern nach Arnim, Brentano, Simrock u. a. Leipzig 1851.

17 Ein in Schleswig-Holstein bis heute beliebtes Schmalzgebäck.

 

Quellen

(1) Theodor Storm an Bertha von Buchan, Brief vom 31.01.1841. In: Eversberg 1995, S. 115f.

Das Weihnachtsfest 1836 verlebte Theodor Storm (1817-1888) nicht in Husum im Kreis seiner Familie, sondern bei Verwandten in Altona. Im Herbst des Vorjahres hatte er seine Heimatstadt verlassen und war nach Lübeck gegangen, um sich dort durch den Besuch des berühmten Katharineums auf sein Studium vorzubereiten; da war der Weg nach Altona weniger beschwerlich als der nach Husum. In Altona wohnte er bei Jonas Heinrich Scherff, einem Kaufmann, der mit einer Cousine von Mutter verheiratet war. Dort begegnete der Primaner einem kleinen Mädchen, der zehnjährigen Bertha von Buchan (1826-1903), die mit ihrer Pflegemutter Therese Rowohl in Hamburg wohnte und ebenfalls zum Weihnachtsfest eingeladen war. Diese Begegnung muss auf den damals 19jährigen Storm einen großen Eindruck gehabt haben. Ostern 1837 begann Storm in Kiel mit dem Jura-Studium und blieb das ganze Jahr über mit Bertha in Briefkontakt. Zum Weihnachtsfest 1837 schickte er ihr das Märchen „Hans Bär“, eines seiner ersten Märchen.

Das Weihnachtsfest nimmt im Leben Storms einen bedeutsamen Platz ein. Es ist das wichtigste der Jahresfeste; davon zeugen viele Aussagen des Dichters in Briefen an die Familie und an Freunde. Seine Tochter Gertrud Storm hat aus eigener Anschauung von diesem jährlichen Ritual berichtet. Auch in der Dichtung hat das Weihnachtsfest seine vielgestaltigen Spuren hinterlassen; das bekannteste Weihnachtsgedicht überhaupt ist wohl „Knecht Ruprecht“, von dem viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, dass es von dem bedeutenden Dichter der schleswig-holsteinischen Westküste geschrieben wurde.

(2) Theodor Storm an Hartmuth Brinkmann und Laura Setzer, Husum, Dezember 1851; Br. Brinkmann, S. 48f.

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Von meinem Geburtstag

Meine geliebte Dange, ich habe noch von meinem Geburtstag nachzuholen. – Zu Mittag kam denn richtig Fontane. Als ich eben vor Tisch in meine Stube ging schlossen er und Kugler die Tür hinter mir zu. Als sie mich nach einer Weile wieder herausließen, stand auf einem Tisch ein Kuchen mit brennenden Wachslichtern und ein frisches Bouquett, darum herum lagen: Kuglers Jacobäa (Trauerspiel), Fontanes Romanzen von der schönen Rosamunde, Lepels Lieder aus Rom, Paul Heyses kleines chinesisches Epos, die Brüder, ein verrücktes radirtes Blatt von Adolph Menzel, mehrere Blätter von Kuglers Radierungen und ein Heft sehr schöner Tenorlieder von Wöhler, alles Geschenke von K. u. F.; die Verfasser der Bücher sind nemlich Argonauten, und ich sollte eigentlich die ganze Argonautenschaft vertreten finden; es fehlen aber noch ein Paar. Neben dem Tisch stand Kugler und blies Waldhorn, sein Lieblingsinstrument.

Dann aßen wir vortrefflich (Onkel Carl, der mich den Morgen besuchte, hatte schon schnüffelnd gesagt: „es scheint ein gutes Diner zu geben; sie sind hier wohl gut aufgehoben“ tranken in Rheinwein und Champagner Deine und der Jungens Gesundheit, und Fontane zog natürlich wieder ein langes Gedicht aus der Tasche. Nach Tisch kam auch der Schulrat Bormann, und überreichte mir glückwünschend ein als Manuscript gedrucktes Büchelchen von ihm. Nachdem wir den Kaffee angenehm durchplaudert, gingen wir spazieren, und besahen ein eben vor der Stadt liegendes Haus, worin eine Familienwohnung zu 250 Thlr angekündigt ist.

Sehr schlimm, dass ich nicht jetzt schon mieten kann; denn die letzten noch offnen Wohnungen werden dieser Tage fortgehen. Heut Mittag geh ich zu Fontane und mit dem auf Wohnungbesicht.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Kommentar zum Brief vom 25.12.1852. In: Br. Constanze Storm, S. 354.

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Reiseberichte*

 (1)

Den 23 Dezember. Nachdem ich heut Vormittag an euch geschrieben, ging ich zu Rathgen, Niebuhrs Schwager, wo ich von Mann und Frau mit echt landsmannschaftlicher Herzlichkeit aufgenommen wurde. Er stellte mir die preußische Beamtenwirtschaft als sehr beengend und für uns peinlich dar; es sei Alles so militärisch, wenn man auch wolle, man könne nichts Besondres tun. Da das Avancement ganz streng geordnet sei, so werde jedes Einschieben eines Ausländers von Oben und unten sehr scheel angesehen. Das Materiale nicht, aber das Formale der Geschäfte sei hier so schwierig, dass man oft völlig ratlos sei. Hier erfuhr ich Niebuhrs Wohnung in Berlin. – Auf seinen Rat ging ich ohne alle Vermittlung zum Geheimen Kabinettsrat Illaire, ward aber auf den folgenden Tag beschieden. Ebensowenig traf ich Niebuhr. – Während dessen war Fritz in weißer Binde bei Manteuffel gewesen, und freundlich aufgenommen. M. „Nun wie steht es denn bei Ihnen.“ Fritz gab eine diplomatische Antwort, verhehlte aber dabei nicht, dass es schlecht stehe. M. „Ich versichre Sie, ich habe getan, was ich konnte; aber die Parteien in Kopenhagen sind nicht tot zu kriegen.“ Dann regte Fritz meine Sache an. Manteuffel sagte er würde mich, wenn er von seinem Gute zurückgekehrt (er ist heut und morgen dort) gern sehen, doch wolle er sich erst über mich erkundigen (Fritz nannte meine persönlichen Beziehungen hier) da mir sonst eine Audienz nichts nützen werde. Ich werde nun wohl den 27 oder 28 Morgens zu ihm gehen.

Den 24 Dezember. (heute) Morgens 9 ½ U. zu Illaire, der recht höflich war, mich aber an den Justizminister Simons wies, ohne den auch Manteuffel nichts tun könne. Dann zu Rathgen, der mir auch sagte, die Bisherigen seien eigentlich durch Simons, keiner noch durch Manteuffel angestellt. Dann zu Niebuhr der wieder nicht da war; aber es hieß morgen 1 Uhr werde er zu Hause sein. Dann zu Dr. Friedländer, dann zu Geheimrat Friedländer, die ich beide nicht traf. Dann zu Kretzschmer der gleich ein Billet an Simons schreiben musste, des Inhalts, dass ein Freund von ihm eine Audienz in diesen Tagen erbitten werde, den er wohlwollend aufzunehmen bitte. Dann zu Duncker, um ihn für Manteuffels Fragen zu stempeln. Duncker ist übrigens ein entsetzlicher Kreuzzeitungsgesell, noch mehr als Seine Excellenz der Ministerresident selber.

25 December. Heute und morgen, als an den Festtagen ist nicht viel zu machen; die Leute sind teils nicht zu Hause und haben auch keine Ohren für dergleichen. Doch werd ich wohl morgen früh zu Niebuhr gehn, den ich heut zum 3t Mal persönlich verfehlte. Er will sich mir offenbar entziehn doch werde ich ihn verfolgen. – –

Ich werde, lieber Vater wohl vor frühestens 8 Tagen hier nicht erlöst sein, wenn ich irgend eine bestimmtere Aussicht mit bringen will. Die Zeit des Weihnachtfestes war keine glückliche; aber wir hatten ja keine Wahl. Sollte mir eine Aussicht in Hannover darüber entgehen, so wäre mir das sehr schmerzlich; dort ist es jedenfalls für Seele und Leib vorteilhafter, als hier. Ich habe deshalb auch vorgestern an Prof. Hansen (früher in Kiel) jetzt in Göttingen geschrieben, und erwarte hier die Antwort. Auch an Brinckmanns Vater habe ich um ein Attest geschrieben. – Schreibt und schickt nur immer hieher an mich, bis ich darüber anders bestimme.

 

(2)

Nachdem ich beim Minister zuerst wieder auf eine Stunde später bestellt worden war, und diese Zeit teils auf der Straße, teils in einer Konditorei, wo ich in einer Zeitung theologische Charaktere, aber noch nicht Harros Charakter fand, in ziemlich unangenehmer Spannung hingebracht hatte, kam ich halb 7 Uhr zur Audienz. Minister Simons, der ein sehr guter Mann sein soll, hat, wie mir später von Merkel bestätigt wurde, nicht die Gabe, Einem dergleichen zu erleichtern, weil er eigentlich gar nicht spricht, so dass höchst verlegen machende Pausen eintreten, wo Keiner spricht und er Einen nur ansieht. Es ist dann sehr schwer, wenn man Allerlei auf dem Herzen hat, immer wieder von vorne anzufangen. Er sagte mir übrigens, es sei nichts mehr im Wege, und die Ordre des Königs wohl Ende dieser Woche zu erwarten, war damit einverstanden, dass ich vorläufig im Gebiet des Landrechts arbeite, meinte aber es sei richtiger an einem andern Orte als Berlin, obgleich er seinerseits dem nicht entgegenstehen wolle, zu volontairisiren, er könne und wolle mir darin nicht raten, ich möge das mit meinen hiesigen Freunden überlegen, und, wenn ich die Ordre empfangen, ihm darüber einen Antrag stellen. – Ich dankte und verabschiedete mich.

Vom Minister kam ich in die elegante Wohnung des Schulrats Bormann, wo ich den Rütli in seiner kritischen Tätigkeit zusammenfand, die indessen durch meine Mitteilungen über die Ministeraudienz sistirt wurde. Nun meinte Merkel, wenn nicht in Berlin, so könne ich vielleicht in Potsdam (per Eisenbahn ½ St. nach Berlin) beim Kreisgerichte volontairisiren; der Direktor des Kreisgerichtes in Berlin sei ein grober fataler Kerl, der des Potsdamer Kreisgerichts aber ein netter Mann, und sein Schwager dazu. Er wolle mir einen Brief schreiben, und ich möge einmal hinüberfahren. Das soll denn nun in diesen Tagen geschehen. Wohin wir kommen ist daher gar nicht zu sagen noch, gewiss ist nur, dass es bald los geht. Lass daher, meine süße Frau, Alles möglichst in Bereitschaft setzen, Möbeln und Geräte packen; denn wir müssen es doch wohl am Ende mitnehmen, und wo nicht, so schadet es ja nicht, dass es gepackt ist. Übrigens werde ich wenn ich meinen Antrag gestellt, und wahrscheinlich nächsten Sonntag nach Hamburg zu Scherffs reisen, da ich Kuglers Gastfreundschaft nicht so in’s Blaue hinein in Anspruch nehmen mag, zumal auch seine Familie demnächst zurückkommt, wo denn kein Platz mehr ist. Vielleicht könnten wir dann noch 8 oder 14 Tage in Hohn und Westermühlen verleben; ich werde darüber aber erst nach Empfang der Ordre ein Näheres schreiben können; rüste aber Alles so, dass es Ende dieses Monats (27 oder 28st) geschehen kann. Ich werde dann gleichzeitig nach dorten und an Dich schreiben. – –

 

(3)

Nachdem ich Montag in Potsdam eine Wohnung von, ich meine, 6 mäßig großen Zimmern und allen übrigen Bequemlichkeiten, besehen, die von Gosler für mich um 60 Thaler Pr. bis 1. April gemietet, und dann, worauf ich noch Antwort erwarte, an Woldsen wegen der Sachen geschrieben hatte, ging ich gestern (Mittwoch) aufs Kammergericht, um dort den Verfassungseid zu leisten. Die dreiviertel Stunden von Ottos Wohnung bis dahin waren mir ein recht sauerer Gang; wärst Du nicht und die Kinder, ich wäre ihn nicht gegangen; alle die Menschen, Assessoren, Räthe, Referendare oder was sie sonst sein mochten, die sich in den großen Büreauzimmern umhertrieben, hatten ihre Bekannte und Freunde, nur ich stand eine ganze ewig lange halbe Stunde ganz einsam an die Wand gelehnt und wartete der Vorladung; dabei das drückende Gefühl, in einem fremden Lande, wo einem doch der Boden unter den Füßen fehlt, in ein Verhältnis der Unterordnung zu treten, dienen, was ich nie gekonnt habe, das Vorgefühl all des kleinen einschneidenden Wehes kam über mich, was ich in nächster Zeit würde zu erleiden und zu überwinden haben. – Als ich erst vor dem grünen Gerichtstisch stand, war ich wieder an meinem Platze, und sprach meinen Eid mit voller, fester Stimme.

 

Quellen

(1) Aus einem Brief Theodor Storms an seinen Vater vom 25.12.1852 (SHLB Kiel, Storm-Nachlass); zitiert nach dem Kommentar zu Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 15.9.1853. In: Br. Constanze Storm, S. 52.

(2) Theodor an Constanze Storm, Brief vom 18. 9. 1853; in: Br. Constanze Storm, S. 57f.

(3) Theodor an Constanze Storm, Brief vom 24. 11. 1853; in: Br. Constanze Storm, S. 73f.

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Von Potsdam nach Heidelberg*

Gestern sind wir durch den Thüringer Wald geflogen, heute am Odenwald entlang, um 3 U. Nachmittag kamen wir hier an; die Welt ist so wunderschön, dass mir mitunter das Herz in die Augen gestiegen ist. Und doch hab ich mir, besonders wenn es Abend wurde, immer wieder das Glück der Heimkehr ausgemalt, und der Ruhe bei Dir; wenn ich fern von Dir bin, fühl ich erst recht, was Du mir bist und – wie lieb doch auch Du mich hast; ich fühle Deine Arme, die sich mir entgegenstrecken und ich höre Deine Stimme – sie klingt mir fremd und lieblich, und der Gedanke erschreckt mich dann ordentlich, dass Du mein bist. – Ich habe Rudelsburg, die Gleichen, die Wartburg und was nicht Alles gesehn, und immer gedacht: wär sie nur da! – Als wir im Thüringerwald bei Arnsstadt in den Bergen stiegen, sah ich im Geist immer unsern kleinen Hans mit seinem Spazierstöckchen neben mir her stapeln, und ich musste ernstlich bei mir erwägen, ob anno 1857 auch Ernemann wohl schon so rüstig sein könne, um mit mir die Tour in’s Gebirg zu machen.

Erfurt ist eine prächtige alte Stadt – man erholt sich ordentlich von diesen hässlichen nackten Städten Potsdam und Berlin – Otto wohnt reizend, recht in lauter Gärten und Blumenduft. Als ich Nachmittags nach vier Uhr an das Haus kam, das ich mit einem Erfurter Jungen erst mühsam suchen musste, rief auf einmal Vaters Stimme mit ihrem allerherzlichsten Klange aus einem Fenster: „Sieh da kommt Theodor!“

Sie waren grade Alle zum Tee bei Otto, und die wundervolle Thüringer Luft ging zu den offnen Fenstern herein. Otto hielt schöne Reden, Vater war in der besten Stimmung, die bis heute ungestört geblieben ist. Es hat sich – und das hat, glaub ich, ihm selbst wohl getan – endlich ein freundliches Verhältnis zwischen ihm und Otto gebildet; mit förmlicher Zärtlichkeit, mit der liebevollsten Vorsorge behandelte er ihn; die Sicherheit, mit der Otto in den Gärtneretablissements auftrat, die Aufmerksamkeit mit der man uns seinetwegen behandelte, konnten auf Vater ihre Wirkung nicht verfehlen. Dieser Gewinn der Reise freut mich herzlich. Otto wird sich vielleicht in Erfurt etablieren. Am Donnerstag machten wir die Tour nach Arnsstadt; gestern Mittag (Sonnabend) fuhren wir nach Frankfurt a/M, wo wir 10 ½ U. Abends ankamen.

Hier sitz ich in dem altertümlichen Gemach eines altertümlichen Hauses (ich bring die Abbildung mit), vor mir eine alte kolossale Kirche, einige Häuser dahinter

steigt der Odenwald auf mit Weingärten und Wald. Es ist 6 Uhr; wenn ich den Brief geschlossen, geh ich noch einmal aus. Vater ist allein gegangen, voll Entzücken, um die Plätze aufzusuchen, an denen ein Stückchen vom Zauber seiner Jugend hängen geblieben ist.

Ein unbeschreiblich herzlicher Brief Mörikes, der für mich hier auf der Post lag, hat den angenehmen Eindruck Heidelbergs für mich noch vermehrt. Ich werde Mittwoch nach Stuttgart reisen, die andern kommen Donnerstag nach. So glaub ich einige recht schöne Tage vor mir zu haben. Mit meiner Gesundheit komme ich so ziemlich aus.

Vater trägt mir so eben Grüße an Dich auf und an die Kinder. Ehe ich nach Hause komm, schreib ich noch einmal; damit Du es am Abend recht still machen kannst und diese Stunden ruhigen Beisammenseins dann noch den schönsten Schluss der Reise geben.

Nun eine Bitte noch, hütet euch vor dem Wasser; fahrt nicht in dieser gewitterhaften Zeit darauf, und trinkt nicht davon. Wir müssen uns gewiss auf einen Besuch der Cholera in Potsdam gefasst machen. In Magdeburg soll sie stark sein; hier ist Alles gesund.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 12.8.1855; Br. Constanze Storm, S. 72f.

Strom schrieb diesen Brief im Gasthof zum Ritter, in dem er in Heidelberg abgestiegen war, an seine Frau Constanze, die mit den Kindern in ihrer Potsdamer Wohnung, Waisenstr. 68, zurückgeblieben war.

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Meine Erinnerungen an Eduard Mörike

Auf der alten Gelehrtenschule meiner Vaterstadt wussten wir wenig von deutscher Poesie, außer etwa den Brocken, welche uns durch die Hildburghausensche „Miniaturbibliothek der deutschen Classiker“ zugeführt wurden, deren Dichter aber fast sämtlich der Zopf– und Puderzeit angehörten. Zwar lasen wir auch unseren Schiller, dessen Dramen in der Stille eines Heubodens oder Dachwinkels von mir verschlungen wurden, und selbst ein altes Exemplar von Goethe's Gedichten kursierte einmal unter uns; dass es aber lebende deutsche Dichter gebe, und gar solche, welche noch ganz anders auf mich wirken würden als selbst Bürger und Hölty davon hatte mein siebzehniähriges Primanerherz keine Ahnung.

Erst auf dem Lübecker Gymnasium, das ich vor dem Abgang zur Universität noch eine Zeit lang besuchte, las ich Goethe's Faust und Heine's Buch der Lieder, und mir war dabei, als seien durch diese beiden Zauberbücher doch erst die Pforten der deutschen Dichtung vor mir aufgesprungen. Von den neueren schwäbischen Dichtern kam nur Uhland in meine Hände; aber trotz der schönen frühlingsklaren Lyrik blieb dessen dichterische Persönlichkeit mir ferner, vielleicht weil in der Sammlung der Gedichte die Balladenpoesie einen so breiten Raum einnimmt, die man damals ganz in den Vordergrund geschoben hatte, zu der, mit wenigen Ausnahmen, ich aber niemals ein Verhältnis finden konnte.

Die Gedichte Eduard Mörike's, des letzten Lyrikers von zugleich ursprünglicher und durchstehender Bedeutung, der während meines Lebens in die deutsche Literatur eingetreten ist, lernte ich erst mehrere Jahre nach ihrem ersten Erscheinen (1838) während meiner letzten Studentenzeit in Kiel kennen. Wir waren dort derzeit eine kleine übermütige und zersetzungslustige Schar beisammen, die geneigt war, möglichst wenig gelten zu lassen; aber vor diesem Buche machten wir unwillkürlich Halt. Da war Tiefe und Grazie, deutsche Innigkeit verschmolzen oft mit antiker Plastik, der rhythmisch bewegte Zug des Liedes und doch ein klar umrissenes Bild darin; die idyllischen, vom anmutigsten Humor getragenen Stücke der Sammlung von farbigster Gegenständlichkeit und doch vom Erdboden losgelöst und in die reine Luft der Poesie hinaufgehoben. „Mich kann nichts so gefangen nehmen als solche Ergüsse, die uns jählings umwogen und aus jedem Fleck der Erde eine Insel machen, von der man ungern wieder scheidet“, schreibt kurz vor dem Erscheinen der Gedichte Mörike's vertrautester Jugendfreund Ludwig Bauer in seinen unten zu erwähnenden Briefen; und wir waren in ähnlicher Weise von diesen Dichtungen getroffen. In dem später (Kiel, 1843) von uns herausgegebenen jugendlichen „Liederbuche dreier Freunde“ findet sich aus jener Zeit unter der Überschrift „Eduard Mörike“ ein Sonett von Th. Mommsen:

 

Vorüber fluten stolz des Elbstroms Wellen,

Die Schiffe tragend mit dem goldnen Horte –

Der Reichtum wohnt hier wohl am weiten Porte;

Allein der Friede weilet bei den Quellen.

 

So will der Strom der Dichtung auch sich schwellen,

Und weiter strebt er von der stillen Pforte,

Wo Blumen wuchsen am verborgnen Orte

Und wo am Waldsaum gaukelten Libellen.

 

Ach! Wir sind oft anmutig, oft erhaben;

Allein Gervinus stellt uns zu der Prose,

Und Recht behält er, sind wir erst begraben.

 

Da fand ich in dem eignen Bett von Moose

Erblühend im geheimsten Tal von Schwaben

Des reichen Liedersommers letzte Rose.

 

Man sah durch diese Gedichte wie durch Zaubergläser in das Leben des Dichters selbst hinein, das zwar auf einen kleinen Erdenfleck beschränkt, aber dafür mit diesem auch desto inniger vertraut und überdies mit einem phantastischen Märchenduft umgeben war, der bei aller anmutigen Fremdheit dennoch dem Boden der Heimat zu entsteigen schien, und aus dem die bald zarten, bald grotesken Gestalten,

 

Die sel'gen Feen, die im Sternensaal

Beim Sphärenklang

Und fleißig mit Gesang

Die goldnen Spindeln hin und wider drehen,

 

wie der gespenstische Feuerreiter mit seiner roten Mütze bis zur sinnlichen Deutlichkeit hervortreten. Diese Poesie erregte, wie von E. Kuh in seinem schönen „Gedenkblatt“ treffend bemerkt ist, ganz von selber den Wunsch, die besonnten Rebhügel, die heimlichen Waldplätze oder stillen Dorfseiten aufzusuchen, denen sie entstammt ist; noch lieber, in des Dichters Pfarrgarten einzutreten und bei ihm selber anzusprechen. Aber freilich dazu fehlte mir derzeit auch das bescheidenste Legitimationspapier.

Nach den Gedichten lasen wir auch die Novelle „Maler Nolten“, und trotz der mystischen Zwiespaltigkeit der Dichtung und des Mangels befriedigender Lösung der darin angeregten Konflikte, welches Beides auch einem jugendlichen Leser nicht leicht entgehen kann, waren wir doch darüber einig, daß der Dichter, wie sein Freund Bauer gleich nach dem Erscheinen des Buches schreibt, „seinen Nolten aus dem dämmernden Brunnenstübchen hervorgeholt habe, wo Kunst und Natur als nachbarliche Quellen rauschen“; ja, daß in einzelnen Partien vielleicht das Höchste geleistet sei, was überall der Kunst erreichbar ist. Noch entsinne ich mich, wie ich eines Tages beim Eintritt in mein Zimmer einen unserer Genossen, einen eifrigen Juristen, mit feuchten Augen vor meinem Klavier auf einem Stuhle hängend fand; in der einen Hand hatte er das Heft der von Mörike selbst geschätzten Kompositionen von Hetsch, welche damals dem Buche beigegeben waren, mit der anderen suchte er unter Heraufbeschwörung seiner vergessenen Notenkenntnis auf den Tasten sich Agnesens Lied zusammen:

 

Rosenzeit, wie schnell vorbei

Bist du doch gegangen!

 

Leider verfiel ich, da ich nach abgelegtem Staatsexamen in meiner Vaterstadt sesshaft geworden war, in den seltsamen Irrtum, meine Begeisterung auch bei allen anderen Menschen vorauszusetzen; derart, dass ich den „Nolten“ der Lesegesellschaft unserer „Harmonie“ höchst dringend anempfahl. Das Buch wurde auch angeschafft; aber – ich konnte mich bald kaum noch irgendwo sehen lassen, ohne ein mitleidiges Kopfschütteln der rüstigen Geschäftsleute dafür einzukassieren. Ich hatte mich von vorn herein um allen Kredit gebracht. – Setzte es doch sogar einen Schriftsteller wie A. v. Sternberg, mit dem ich in den fünfziger Jahren zusammentraf, in Erstaunen, dass ich Mörike überhaupt eine Bedeutung einräumen wollte. Er hatte zur Zeit, da dieser an seinem „Nolten“ arbeitete, ihn persönlich kennen gelernt, wusste von ihm aber nur mit herablassendem Lächeln zu erzählen, wie Mörike ihn eines Tages gefragt habe, ob er wohl auch eine Gräfin könne Staub wischen lassen, worauf er ihn dann beschieden, ja wenn es grad' nicht nötig sei, da könne auch wohl einmal eine Gräfin zum Staubtuch greifen. – Die Stelle findet sich übrigens Bd. I, S. 225 im Nolten, und wird von Vischer in seinen „Kritischen Gängen“ gegen einen Rezensenten verteidigt, da der Vorgang als ein ungewöhnlicher psychologisch motiviert sei.

Und hier stehen wir vor der Frage: woher kommt es, dass Mörike selbst in Betreff der Gedichte noch heute ein so kleines Publikum hat? – Der gänzliche Mangel der flüssigen Phrase und jener aus der Alltäglichkeit der Anschauungen hervorgehenden bequemen Verständlichkeit schließt allerdings bei unserem Dichter den größten Teil der Jugend, insbesondere der jugendlichen Frauenwelt, von vorn herein aus; abgesehen davon, dass die Stoffe vielfach jenseits des gewöhnlichen Gesichtskreises dieses Alters und Geschlechtes liegen. Aber auch reifere Frauen oder Männer, denen man sonst wohl etwas zumuten kann, wissen oft sich nicht hineinzufinden.

Ich möchte Nachstehendes hervorheben. Einmal hat das Phantastische, das bei Mörike überall hindurch spielt, gegenwärtig überhaupt wenige Liebhaber; hier aber hat es noch dazu in mehreren Gedichten – so in der, allerdings köstlichen, 16 Seiten einnehmenden Erzählung vom „sicheren Mann“ – eine mythische Welt zur Voraussetzung, die nur dem Dichter selbst und seinem engeren Kreise bekannt war. Als Tübinger Studenten auf einsamen Spaziergängen oder in einem fremden Gartenhause auf dem Österberge, wo sie sich heimlicher und nächtlicher Weise einnisteten, erschufen Mörike und Bauer diese Welt, die irgendwo im stillen Ozean liegende Insel Orplid mit der Hauptstadt gleiches Namens und ihrer Schutzgöttin Weyla, deren auf und über der Erde spielende Geschichte bis ins Einzelne von ihnen ausgebaut wurde. Bauer schrieb später auf Grund dieser Erfindungen seine Dramen: „Der heimliche Maluff“ und „Orplids letzte Tage“; Mörike die in den Nolten aufgenommene Szene „Der letzte König von Orplid“. Die in letzterer enthaltenen und dieser Mythenwelt entsprungenen kleineren Gedichte: „Gesang Weyla's“, „Gesang zu Zweien in der Nacht“, „Elfenlied“, „Die Geister am Mummelsee“, sind dann auch, und freilich mit vollem Rechte, in die Sammlung der Gedichte übergegangen, aber sie beruhen sämtlich auf unbekannten oder ungewohnten Voraussetzungen. Weniger noch als mit diesen und dem „sicheren Mann“ werden manche Leser mit dem gleichfalls dem Nolten entnommenen Zyklus „Peregrina“ anzustellen wissen; die reizende Gestalt des Wundermädchens ist wie ein Irrlicht, von dem wir nicht wissen, ob wir es wirklich sehen oder ob es nur ein Bild der eigenen Phantasie vor unseren Augen spielt.

Es kommt noch ein Anderes hinzu. Insbesondere die Idyllen, die einen großen und köstlichen Teil der Sammlung ausmachen, haben in ihrer Vortragsweise, in Ausdruck und Redewendung etwas, das der antiken Dichtung abgelauscht und das, so fein und anmutig es sich der heimischen Weise einfügt, denen, die keine klassische Schulbildung hinter sich haben, nicht sofort geläufig sein mag. Wie es bei der Persönlichkeit dieses Dichters nicht anders sein konnte, die Welt seiner Studien verschmilzt sich mit seiner eigenen; der Verfasser schnupft zwar nicht, aber unleugbar ist es, dass er Lateinisch und vortrefflich Griechisch kann; und das von ihm verspottete „Schulschmäcklein“ kommt hie und da, wenn auch in stets graziöser oder bewusst humoristischer Weise, in seinen eigenen Gedichten zur Erscheinung.

Das Alles sollte freilich die ernsteren Leser nicht veranlassen, das unvergleichliche Buch nach dem ersten Einblick ungelesen zur Seite zu legen; gleichwohl vermag ich nach eigener Erfahrung, trotz meiner vielfachen Bemühungen dafür, eine Vergrößerung der Mörike–Gemeinde nicht zu verzeichnen. Scheint doch auch, nach dem eingeklebten Titelblatt, die letzte, sechste Auflage der Gedichte nur eine maskierte fünfte zu sein.

Nachdem von Mörike bereits 1846 die „Idylle vom Bodensee“ und 1848 die zweite Auflage der „Gedichte“ erschienen war, ließ auch ich ein wenig bemerktes Buch „Sommergeschichten und Lieder“ in die Welt gehen, worin eine Auswahl meiner Gedichte und meine ersten Prosadichtungen zusammengestellt waren. Mit diesem in der Hand, wagte ich es, bei Mörike, wenigstens aus der Ferne, anzuklopfen; im November l850 schickte ich es ihm und schrieb ihm dabei von seinen norddeutschen Freunden und meiner dauernden Liebe zu seiner Dichtung, den Ausspruch eines heiteren Genossen nicht verschweigend:

 

Die echten Lieder halten aus in Sommern und in Wintern;

Sie haben aber Kopf und Fuß, dazu auch einen H–.

 

Es vergingen ein paar Jahre, ohne dass ich über die Aufnahme meiner Sendung etwas erfahren hätte. – Dann im Mai l853 erhielt ich aus Stuttgart das eben erschienene „Hutzelmännlein“, das die Perle der von dem Dichter erfundenen Sage von der schönen Lau enthält, zugleich mit dem herzlichsten Schreiben, das mir diesen Frühlingstag zu einem der schönsten meines Lebens machte. Was mir später von Österreich aus entgegengekommen ist, schrieb mir schon derzeit Mörike: „Höchst angenehm frappiert hat mich die Ähnlichkeit Ihres Nordens mit unserer süddeutschen Gefühls– und Anschauungsweise“; und näher dann auf den Inhalt meines Büchleins eingehend: „Ihre Neigung zum Stillleben tut gegenüber dem verwürzten Wesen der Modeliteratur außerordentlich wohl. Der alte Gartensaal, der Marthe Stube und so fort sind mir wie altvertraute Orte, nach denen man sich manche Stunde sehnen kann.“

– – – „Das (Gedicht) von den Katzen wusste ich bald auswendig, und habe Manchen schon damit ergötzt. Von wem ist das? frug ich unlängst einen Freund. Nu, sagte er lächelnd, als wenn es sich von selbst verstünde – von dir! Die Zuversichtlichkeit des schmeichelhaften Urteils hat mich natürlich nicht wenig gaudiert.“ – Mörike wird sich bei dieser freundlichen Äußerung freilich wohl bewusst gewesen sein, dass dies Gedicht, wenn es auch nicht von ihm herrührt, schwerlich so entstanden sein würde, wenn der Verfasser nicht fleißig bei ihm in die Schule gegangen wäre. Schließlich wünschte er eine Andeutung meiner äußerlichen Existenz; das Eine wolle mich zum Arzt, das Andere zum Prediger machen.

Ich ließ mich selbstverständlich nicht vergebens bitten.

Später, in den Jahren, die ich während der Dänenherrschaft in dem großen Militär–Kasino Potsdam verlebte, sandte ich ihm das aus unserem Berliner Kreise hervorgegangene belletristische Jahrbuch „Argo“. Ich sammelte damals für ein Album zum Geburtstage meiner Frau Erinnerungsblätter aus der Heimat und handschriftliche Gedichte von mir bekannten Verfassern. Kugler hatte mir sein „An der Saale hellem Strande“ schreiben müssen; von Eichendorff, mit dem ich in des Letzteren gastfreiem Hause – „am ewigen Herd“ – im Freundes– und Frauenkranze einen heiteren Tag verlebt hatte, erhielt ich das: „Möcht' wissen, was sie schlagen, so tief in der Nacht“; nun bat ich auch Mörike um sein „Früh, wenn die Hähne krähn“.

Und rechtzeitig im April 1854 langte zur Antwort eine reiche Sendung bei mir an; dem ausführlichen Briefe war außer dem gewünschten Autograph und einem desgleichen von Kerner mit dem charakteristischen Datum „Weinsberg im unglücklichen April l854“ – er hatte damals eben sein „Rickele“ verloren – eine wertvolle Gabe beigeschlossen: „Ludwig Bauer's Schriften, nach seinem Tode in einer Auswahl herausgegeben von seinen Freunden“. Das Buch ist ohne Angabe eines Verlegers 1847 zu Stuttgart erschienen. Mörike's Frau, Gretchen, geb. v. Speth, auf welche, wie der Dichter mir verraten und ich wohl weiter ausplaudern darf, sich die in seiner Sammlung befindlichen Gedichte „Ach muss der Gram“, „O Vogel, es ist aus mit dir“, „An Elise“, „Wehet, wehet, liebe Morgendwinde“ beziehen, hatte es mit einer Widmung an die „Freunde in Schleswig“ begleitet. Er selbst schrieb dazu: „Sie werden den herrlichen Menschen bald darin erkennen. Was die vorangedruckten Briefe betrifft (an deren Auswahl ich natürlich einen Anteil habe) – wenn Sie im Stande wären, Alles gehörig abzurechnen, was jugendliche Freundschaft nach der ihr eigenen Übertreibung Gutes an ihrem Gegenstande findet, so könnte es mir schon lieb sein, dass Ihnen ein Stück Leben von mir und meinem Kreis damit vorgelegt wird.“

Und in der Tat sind diese Briefe Allen zu empfehlen, denen daran liegt, den Jugendspuren unseres Dichters nachzugehen. Man sieht die beiden Freunde in die Sommer nacht hinausschwärmen und sich auf einsamen Berghöhen und Waldplätzen zu künftigen Werken begeistern; von Mörike erfahren wir, dass er (1824) ein Trauerspiel vollendet, aber dann verbrannt habe, weil es nicht die ganze Höhe seiner Idee erreichte. Überall aber zeigt sich die beiden Freunden gemeinsame Neigung zum Phantastischen und Geheimnisvollen; noch als Pfarrer zu Ernsbach macht Bauer den Vorschlag, sich für Tag' und Nächte in dem verödeten Schloss zu Ingelfingen einzuquartieren, „in einem Zimmer, wo, wenn man allein ist, man sich zu Tode bängeln kann“. Es ist, als ob die jungen Dichter aus der Einsamkeit in der Natur, aus der Stille der Nacht die Offenbarung der Poesie erwarteten; und die „Felsenglocke Orplids, von welcher nur die Gazellen geweckt werden, seitdem die Gassen der heiligen Stadt verödet sind“, klingt überall hindurch. Hie und da in diesen Briefen wird uns, als läsen wir ein Gedicht von Mörike selbst.

Zwischen den Blättern dieses so willkommenen Buches fand sich überdies die Nummer einer württembergischen Kirchen-Zeitung mit dem ersten Abdruck des trefflichen „Turmhahns“, worüber Mörike mitteilte, daß er als Pfarrer zu Cleversulzbach aus Anlaß einer Kirchenreparatur solch ein altes Inventarienstück zu sich genommen habe, während das Ganze unter Sehnsucht nach dem ländlich pfarrlichen Leben entstanden sei.

Auch die Silhouetten des Dichters, seiner Frau und seiner Schwester Clara, der beständigen Genossin seines Lebens, waren beigefügt.

In seiner liebenswürdigen und bescheidenen Weise gab Mörike dem jüngeren Freunde über die Entstehung einzelner seiner größeren Dichtungen Auskunft; in Betreff seines „Nolten“ schrieb er: „Verschiedene Partien im ersten Teil desselben sind mir selbst widerwärtig und fordern eine Umarbeitung. Was denken Sie deshalb für den Fall einer zweiten Auflage? Ich möchte Sie nicht gern zum zweitenmal als Korrektor unzufrieden machen.“

 

Im August l855 wurde mir die Freude, mit meinen Eltern eine Reise in den deutschen Süden zu machen. Das Endziel war Heidelberg, wo mein Vater einst als Student der Rechte zu des alten Thibaut Füßen gesessen hatte, auch mit ihm befreundeten Söhnen eines Hainbundgenossen mitunter von dem alten Johann Heinrich Voß in dem Rebgange seines Gartens war empfangen worden. Ich aber dachte noch ein paar Meilen weiter zu einem lebenden Dichter, nach Stuttgart, wo Mörike derzeit mit seiner jungen Frau und seiner Schwester sein bewegliches Wanderzelt aufgeschlagen hatte. Während nun mein Vater, nur von seinem spanischen Rohre begleitet, in Heidelberg die Stätten seiner Jugend aufsuchte, setzte ich mich auf die Eisenbahn und fuhr nach Stuttgart.

Mörike war nicht im Wartesaal, wie er mir geschrieben hatte. Meine Ankunft war mit einer Literaturstunde zusammengefallen, die er derzeit als Professor am Katharineum zu geben hatte. Als die Menge sich verlaufen hatte, blieb ich rnit einem schwarzen Herrn auf dem Perron zurück, der nach dem mir bekannten lithographierten Bilde von Weiß jedenfalls nicht Mörike sein konnte; der aber bald auf mich suchend Umherblickenden zutrat und mir ein mit Bleistift geschriebenes Billett überreichte. „Salve Theodore!“ schrieb Mörike, „Negotio publico distentus amicum, ut meo loco te excipiat, mitto carissimum.“

Dieser Freund war Wilhelm Hartlaub, dem die erste Auflage der Gedichte gewidmet ist und der jetzt von seiner Dorfpfarre bei dem Dichter auf Besuch war. „Sie kommen zur glücklichen Stunde“, sagte dieser, als wir durch die Straßen schritten; „der Eduard hat gerade etwas fertig, was von überwältigender Schönheit ist.“ – Die Dichtung, welche er meinte, war die Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“.

In der einfach aber nett eingerichteten Wohnung, freilich mehrere Treppen hoch, wurde ich von Frau und Schwester empfangen. Mörike selbst war noch nicht da; aber während ich mich an einem Glase jungen Weins, noch aus dem Garten zu Mergentheim, nach der heißen Fahrt erquickte, trat auch er herein. Er war damals erst 5l Jahre alt; in seinen Zügen aber war etwas Erschlafftes, um nicht zu sagen Verfallenes, das bei seinem lichtblonden Haar nur um so mehr hervortrat; zugleich ein fast kindlich zarter Ausdruck, als sei das Innerste dieses Mannes von dem Treiben der Welt noch unberührt geblieben.

Er fasste mich an beiden Händen und betrachtete mich mit großer Herzlichkeit. „Gelt, Alte!“ sagte er dann zu seiner Frau, „so habe wir ihn uns ungefähr vorgestellt. Als ich eben da herauf gegangen bin, da hab' ich mir die Stufe angesehen und gedacht, ob wohl der Storm da herüber gestiegen ist?“

Bei den Gesprächen, in die wir bald vertieft waren, offenbarte sich überall der ihm inwohnende Drang, sich Alles, auch das Abstrakteste, gegenständlich auszuprägen; die Monaden des Leibnitz erschienen ihm wie Froschlaich; von den kleinen Naturbildern des ihm befreundeten Dichters Karl Mayer sagte er: „Er kann nichts passieren lassen, ohne es auf diese Art gespießt zu haben.“ – Über dem Sofa zwischen den Lichtbildern von mir und meiner Frau, die wir als Erwiderung der Silhouetten gesandt hatten, hing eine in Öl gemalte Mondscheinlandschaft; Mörike meinte, es stecke ein Gedicht darin. „Eine Nachtuhr!“ sagte er und zeigte auf einen Felsblock im Vordergrunde des Bildes, über den, vom Mond beleuchtet, ein rieselndes Wasser tropfenweise herabfiel. Aber so viel ich weiß, ist dies schon keimende Gedicht nicht zur Entfaltung gediehen. Wir kamen auf Heine zu sprechen. „Er ist ein Dichter ganz und gar“, sagte Mörike; „aber nit eine Viertelstund' könnt' ich mit ihm leben wegen der Lüge seines ganzen Wesens.“ Dagegen fühlte er sich zu Geibel und Heyse, dessen eben erschienene „L'Arrabiata“ er „eine ganz einzige Perle“ nannte, hingezogen und wünschte sich nur Jugend und Gesundheit, um ihnen recht feurig entgegenkommen zu können; auch von unserer persönlichen Begegnung wünschte er, dass sie in eine frühere Zeit seines Lebens gefallen sei.

Von mir, der ich damals erst im Beginn meiner Prosa-Dichtung stand, hatte Mörike kurz zuvor die kleine Idylle: „Im Sonnenschein“ zugesandt erhalten. „Als ich das gelesen“, sagte er, „da habe ich gleich gesehen, das ist so mit einem feinen Pinsel ausgeführt; das musst du Satz für Satz lesen. – Wisse Sie was!“ fuhr er dann fort; „drei Stellen daraus möchte ich auf Porzellan gemalt haben.“ – Er hatte eben nicht Unrecht mit dieser freundlichen Kritik. Dann aber meinte er wieder: „Sie habe das an sich, so leise zu überraschen: >Es war eine andere Zeit!<„

Ich hatte ihm erzählt, dass mein Vater, ein Müllersohn vom Dorfe, von seiner Jugend her eine Liebhaberei für Vögel habe und noch jetzt mit Behagen dem Treiben der Stare um die ausgehängten Brutkästen zuschaue. Als wir später bei der Besichtigung der Wohnräume in das Zimmer kamen, wo sein erst einige Monate altes Töchterlein in einer Wiege schlief, sagte er mir, dass er diese Liebhaberei meines Vaters teile, und zeigte auf zwei Rotkehlchen, die im Bauer vor dem Fenster standen: „Richtige Gold– und Silberfäde ziehe sie heraus; sie singe so leise, sie wollen das Kind nit wecke.“

In meiner. Heimat, wo das Plattdeutsche der Volkssprache sich schärfer von der Schriftsprache scheidet, ist man nicht gewöhnt, einen derartigen Anflug von Dialekt in der Unterhaltung zu hören; auch Mörike's Gedichte, hatte ich sie nun laut oder leise gelesen, waren mir stets nur in meiner eigenen Sprache dagewesen. Nun hörte ich den Dichter selber in behaglichster Weise sich in der Sprache seiner schwäbischen Heimat ergehen, insbesondere beim Mittagstische im Gespräch mit seinem Jugendfreunde Hartlaub. Als ich ihm meine Gedanken darüber kund tat, legte er zutraulich die Hand auf meinen Arm und sagte lächelnd: „Wisse Sie was? Ich möcht's doch nit misse.“ – Noch ein Anderes hatte mich stutzen gemacht, ohne dass ich gleicherweise einen traulichen Bescheid darauf bekommen hätte. Es war dies das Tischgebet, das Mörike kurz vor Beginn der Mahlzeit sprach. Ich musste schweigend darüber nachsinnen, ob das ein Rest des früheren Pfarrlebens sei, oder vielleicht nur einer allgemein schwäbischen Haussitte angehöre; eine solche formulierte Kundgebung wollte mir zu dem Dichter Mörike nicht passen, wenngleich in seinen Gedichten sich nichts findet, das dem Glauben an eine persönliche, dem Herzensdrange des Menschen erreichbare Gottheit widerspräche. Die Verse aber:

 

Aus Finsternissen hell in mir aufzückt ein Freudenschein:

 

Sollt ich mit Gott nicht können sein,

So wie ich möchte, Mein und Dein?

Was hielte mich, daß ich's nicht heute werde?

 

 Ein süßes Schrecken geht durch mein Gebein!

Mich wundert, daß es mir ein Wunder sollte sein,

Gott selbst zu eigen haben auf der Erde!

 

sind erst in der Ausgabe von 1867 veröffentlicht.

Als das Gespräch sich auf das poetische Schaffen überhaupt wandte, meinte Mörike, es müsse nur so viel sein, dass man eine Spur von sich zurücklasse; die Hauptsache aber sei das Leben selbst, das man darüber nicht vergessen dürfe. Er sagte dies fast so, als wolle er damit den jüngeren Genossen warnen. Und dass es nicht ein bloß hingeworfenes Wort gewesen, beurkunden seine Gedichte, in denen der Inhalt eines reichen, wenn auch noch so stillen Lebens wie von selber ausgeprägt ist.

Am Nachmittag wurde mir zu Ehren auf nordische Weise der Teetisch hergerichtet; Mörike meinte, o, sie kennten das hier auch. Dann schleppte er mir selbst aus seinem Studierstübchen seinen großen Lehnstuhl herbei, und als ich mich hineingesetzt hatte, begann er seinen „Mozart“ vorzulesen. Die noch jugendliche Frau des Dichters ging indessen, wie ein freundlicher Hausgeist, ab und zu; die wirtschaftliche Sorge für die Gäste hatte sie genötigt, sich dem pantomimisch kundgegebenen Wunsche ihres Mannes, sich mit in unseren Kreis zu setzen, mit dem liebenswürdigsten Ausdruck des Bedauerns zu entziehen.– Mörike las, wie mir damals schien, vortrefflich; jeder Anflug von Dialekt war dabei verschwunden. Auch hier aber hatte ich Gelegenheit zu bemerken, welch hohe Stellung der Dichter bei seinen Jugendgenossen einnahm, und wie sie überall nur das Schönste und Beste von ihm erwarteten. Schon 1823 schreibt Bauer in den erwähnten Briefen an ihn: „Aber dies ist mir lieb, daß nur dann dein ganzes wunderbares Selbst vor mir steht, wenn sich die gemeinen Gedanken wie müde Arbeiter schlafen legen, und die Wünschelrute meines Herzens sich zitternd nach den verborgenen Urmetallen hinabsenkt. Die Poesie des Lebens hat sich mir in dir verkörpert, und Alles, was noch gut an mir ist, sehe ich als ein Geschenk von dir an“; und an einer anderen Stelle: „Du bist mir schon so heilig, wie ein Verstorbener.“ – Der jetzt gegenwärtige Hartlaub folgte der Vorlesung mit einer verehrenden Begeisterung, die er augenscheinlich kaum zurückzuhalten vermochte. Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: „Aber, i bitt Sie, ist das nun zum aushalte!“ Ich selbst freilich war von dieser Meister–Dichtung, in der mir nur eine Partie, die mit den Wasserspielen, weder damals noch später hat lebendig werden wollen, nicht weniger freudig ergriffen. Dass außer einzelnen Gedichten, wie „Erinna an Sappho“ oder „Besuch in der Kartause“, diesem Werke kein weiteres mehr von ähnlicher Bedeutung folgen sollte, ahnten wir damals nicht.

Nach beendeter Vorlesung wandte das Gespräch sich auf den „Maler Nolten“, dessen erste Auflage vergriffen war. Der Verleger beabsichtigte eine neue; aber Mörike wollte den unveränderten Abdruck nicht gestatten; er hatte schon damals eine Umarbeitung desselben begonnen, welche er trotz der ihm noch vergönnten zwei Dezennien nicht vollenden sollte. Es wolle ihm nicht gelingen, bekannte er; er habe sogar das Buch schon einmal vor Ungeduld an die Wand geworfen. – Als wir Anderen ihm dann zuredeten, er möge sich doch lieber neuen Schöpfungen zuwenden, meinte er, es werde doch kein Maler, dem Gelegenheit gegeben sei, ein Bild zu wiederholen, mit Bewusstsein dieselben Verzeichnungen wieder hineinmalen. – Und so ist er denn fortgefahren, Zeit und Kräfte an dem ihm fremd gewordenen Werke zu erschöpfen.

Durch die Erwähnung Kerner's, den aufzusuchen mir leider, trotz Mörike's dringender Empfehlung, der einmal festgestellte Reiseplan verwehrte, gerieten wir in das nicht nur in Schwaben leicht aufzuritzende Reich der Geister. Mörike, der die Sache ernst nahm, behielt sich vor, mir bei besserer Gelegenheit brieflich desfallsige Mitteilungen aus seinem eigenen Leben zu machen. Aber bekanntlich war er kein zu starker Briefschreiber; erst viele Jahre nachher durch einen meiner Söhne, der ihn als Tübinger Student mehrfach in seinem derzeitigen Wohnorte Nürtingen besuchte, habe ich etwas von diesen Vorgängen erfahren, welche nach dessen Aussage Mörike ihm mit einer die Nachtruhe gefährdenden Meisterschaft erzählt hatte.

Eine Reihe derselben steht in unmittelbarer Beziehung zu Kerner's seltsamem Buche „Die Seherin von Prevorst“. Nachdem nämlich der Dichter nicht lange zuvor mit Mutter und Schwester von seinem Pfarrhause zu Cleversulzbach Besitz genommen, geht er eines Sommernachmittags in sein Weinbergshäuschen hinauf, um dort, wie es komme, ein bisschen zu lesen oder zu schlafen. Zufällig hat er unter seinen Büchern die erwähnte „Seherin“ gegriffen und liest darin – die Geschichte steht S. 274 – was einem Pfarrer H. zu C. und dessen Nachfolger S. im Pfarrhause mit einem spukenden Amtsvorgänger Namens R–sch begegnet ist. Eben am Eindämmern, fahrt es ihm durch den Kopf: „Ganz dieselben Wahrnehmungen hast du ja auch gemacht!“ Die Anfangsbuchstaben des Pfarrers und seines nächsten Nachfolgers passen ebenfalls; nur der Name des Spukenden ist ihm nicht bekannt. Eiligst begibt er sich auf sein Studierzimmer und schlägt im Kirchenregister nach; und da steht es! „Rabausch“ hatte der Pfarrer geheißen, der hier vor längerer Zeit gelebt und über den noch allerlei finstere Erzählungen im Schwange gingen. – Von der Zeit an hätten er und seine Hausgenossen die Äußerungen des Geistes mit Aufmerksamkeit beobachtet.

Diese Hinneigung des Dichters zu einer von der Wirklichkeit getrennten, geheimnisvoll in sich abgeschlossenen Welt ist ein bezeichnender Zug seines Wesens, das überall dahin drängt, sich von der in flutender Bewegung tosenden Welt des Tages zurückzuziehen.

Bei einem Abendspaziergange durch die Stadt wurde mir die Steinfigur des Hutzelmännleins gezeigt, welche oben an der Ecke eines Hauses hukte; weiterhin trat Mörike in einen Laden und kaufte mir ein paar weiße Kreidestifte, deren ich mich, wie er zu tun pflege, zum bequemen Niederschreiben poetischer Produktionen auf eine Schiefertafel bedienen möchte.

Am anderen Vormittage kramte unser Gastfreund allerlei, besonders handschriftliche Raritäten aus: so, trotz seiner Abneigung gegen dessen Persönlichkeit, ein sehr durchkorrigiertes Gedicht von Heine; mehrere von Hölderlin, darunter eines aus der Zeit seines Irrsinns, aber auch ein Konzept des schönen Gedichtes „An Heidelberg“; endlich kam ein Blatt mit allerhand kolorierten Zeichnungen. So viel ich mich entsinne, sollte es von einem alten Zeichenlehrer aus dem vorigen Jahrhundert stammen; Mörike, der eine mir entfallene Klassenbenennung für diese Art von Künstlern gebrauchte, hatte selbstverständlich den Mann nicht gekannt; aber während er auf die verschiedenen altfränkischen Dinge aufmerksam machte, mit denen der Bogen bedeckt war, begann er, leise und behaglich redend, mit dramatischer Lebendigkeit die Figur des alten Herrn in immer deutlicheren Zügen vor uns hinzustellen, so dass ich es zuletzt mit Augen vor mir sah, wie das fettige Zöpflein sich auf dem blanken Rockaufschlage hin und wider rieb.Nach einem Gemälde von Orplid, das nach Hauer's Angabe in Mörike's Besitz sein sollte, erkundigte ich mich vergebens; es schien nicht mehr vorhanden. Dagegen sah ich eine Zeichnung, welche den Dichter in seiner früheren Jugend als einen besonders schönen Knaben zeigte. Das lithographierte Bild von Weiß, so viel mir bekannt, das einzige aus den kräftigeren Mannesjahren des Dichters, schien mir nicht ganz ähnlich; auch Mörike selbst meinte das.

Gegen Mittag kamen meine Eltern, mit denen ich am Nachmittag nach Heilbronn und dann anderen Tags den Neckar hinab nach Heidelberg zurückfahren sollte. – Die nordischen Leute schienen Mörike zu gefallen; als wir mit ihm und seiner Schwester einen Spaziergang durch die Stadt und die umliegenden Anlagen machten, fasste Mörike mitten aus der Unterhaltung heraus mich unter den Arm und raunte mir zu: „Aber en passant, Sie habe recht liebe, liebe Eltern!“ Und noch mehrmals kam er darauf zurück: „Ich komme noch nit aus mei Staunen und mei Freud; Sie habe wirklich prächtige Eltern!“

Noch sehe ich ihn mit meinem Vater, den alten Poeten und den alten Advokaten, in aufmerksamer Betrachtung vor der Schiller–Statue stehen; Beide die Hüte in den Nacken gerückt; der Eine mit einem Regenschirm, der Andere mit seinem spanischen Rohr unter dem Arm. Plötzlich wendet Mörike sich zu mir und sagt mit großer Herzlichkeit: „Wisse Sie was? Ihr Herr Vater hat so was von einem alte Schweizer!“ Dies Kompliment, wofür er es ansehen musste, da ihm die Schweizer nur als ideale Gestalten aus Schiller's Tell bekannt waren, konnte mein Vater unmöglich annehmen. „Ach wat“, rief er lachend in unserem Plattdeutsch, „ick bün man en Westermöhlner Burjung!“ Möglich, dass das nun wieder Mörike nicht verstanden hat. – Auch meine Mutter zu charakterisieren schien dieser ein freundliches Bedürfnis zu empfinden; sie habe „so etwas Klares, Leuchtendes, Liebe Erweckendes“, meinte er.

Aber der Tag verging. Beim Abschiede empfing ich als Gastgeschenk von Frau Gretchen aus der Garderobe des Haustöchterchens ein Paar gestrickte Schühchen für meine gleichaltrige kleine Tochter, von Mörike für meine Frau eine Art schelmischen Schönheitsdiploms, ein zierlich, jedoch verkehrt auf Glanzkarton gedrucktes Gedicht, wodurch die Adressatin genötigt wird, damit vor den Spiegel hinzutreten:

 

„Und was kein Schmeichler ungestraft gewagt,

Ihr eigen Bild hat es ihr nun gesagt.“

 

Er habe, bemerkte Mörike, das Blatt für Agnes Schebest machen lassen, pflege es aber auch wohl an andere würdige Personen zu verabreichen. – In seine Sammlung ist übrigens dies Gedicht nicht aufgenommen. (Anm. Storms: „Es findet sich vollständig abgedruckt in Westermanns „Illustrirten Deutschen Monatsheften“, dritte Folge, Bd. VIII, S. 64.“)

Dann verließen wir Stuttgart, und ich habe Mörike nicht wiedergesehen; auch geschrieben hat er mir, außer einem Gruß auf seinem „Mozart“, nur noch einmal, da mich ein großes Leid betroffen hatte. Grüße und kleine Sendungen sind noch einzeln hin und wider gegangen, bis dann der Tod auch dem ein Ende machte.

 

Quellen

LL 4, S. 470-487; Kommentar S. 958-977. Ediert nach den Handschriften in der SHLB.

Nach dem Tode Eduard Mörikes im Jahre 1875 schrieb Storm nach Aufzeichnungen, die er unmittelbar nach seinem Besuch im August 1855 bei der Familie des verehrten Dichters „im Eisenbahnwagen von Stuttgart nach Heidelberg“ niedergeschrieben hatte. Der Essay wurde in Westermanns Monatsheften 41.1876/77 veröffentlicht.

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Heiligenstadt*

Da sind wir denn! Die erste Wegstrecke hieher war überaus schön, Wälder, Berge und Täler; dazwischen reiche Getreidefelder; dann wurden die Höhenzüge kahler, bis endlich dunkle bewaldete Berge sich vor uns lagerten; im Grunde lag eine Stadt mit alten Kirchtürmen. Heiligenstadt! sagte der Kutscher. Mir schossen die Tränen etwas in die Augen. So fuhren wir denn nach dreistündiger Fahrt den abschüssigen Weg hinunter in die Stadt. Hilf Himmel welch eine Stadt! Lehmhütten und Baracken, Häuser wie sie bei uns nicht für Geld aufzuweisen wären. Man begreift nicht, dass darin die lustigen Heiligenstädter, wie sie überall heißen, existieren können. Nur sehr einzelne gute Häuser liegen dazwischen, das Beste ist unser Wirtshaus, offenbar ein altes Palais. Dass H. eine Residenz des Churfürsten (geistlichen) von Mainz gewesen, sieht man nur an den 2 oder 3 alten großen Kirchen und dem alten Residenzschloss, dem jetzigen Gerichtsgebäude. Von der Lustigkeit der Leute kriegten wir gestern Abend noch einen Beweis. Eine große Schützengilde zog mit Musik und Lärm im Dukeln durch die Straßen; sie feierten schon den 3t Tag, und heute geht’s Tanzen wieder los. Wir befinden uns offenbar in Seldwyla; ich denke die Heiligenstädter florieren auch bis in die Dreißig und dann sind sie fertig. Schlecht geschlafen hab ich; unter uns wurde noch eine Stunde lang – übrigens vortrefflich – Klavier gespielt; jeden Augenblick blies eine Post, es scheint hier lebhafter Verkehr zu sein und zum Überfluss leitet der Nachtwächter seinen Gesang auch durch einen Hornstoß ein. – Es scheint hier übrigens etwas wohlfeiler als in Potsdam zu sein, die Butter kostet 63 Sgr. p. P.. Aber – es wird eine Eisenbahn projektiert, und dann hört es auf. Das Ganze hier macht mir trotz der Ärmlichkeit keinen üblen Eindruck; die Berge gucken überall in die Stadt; es Muss sich im Sommer hier angenehm im Freien, und Winters recht heimlich in den Stuben leben lassen. Sehr schönes Wasser ist hier.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 20. 8.1856. In: Br. Constanze Storm, S. 84.

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Göttinger Gleichen*

Seit Anfang dieses Monats leben wir übrigens wieder etwas geselliger. Die Schlüter und ihre Schwester Pauline, die noch eine Zeitlang hier bleibt, wirklich ein paar Prachtexemplare von Frauenzimmern, sind zu Constanzens Jubel zurückgekehrt, und nach den Vorgängen des Sommers sind wir uns jetzt so nahe gerückt, dass sich ein höchst behaglicher Verkehr herausstellt. Wir fühlen, glaub ich, gegenseitig, dass wir so recht für einander passen. Vorgestern (Dienstag) fuhren wir in Schlüters Wagen; d. h. wir beiden Ehepaare und Pauline, nach den ½ Meile von hier liegenden Göttinger Gleichen. In einem Pachthof zu Fuße des Berges, wo wir gegen 2 Uhr ankamen wurde ausgespannt; auf den einen Schimmel ein Damensattel gelegt, die Schlüter, die Bergsteigen nicht vertragen kann, stieg zu Ross, und so ging's in der wundervollen goldenen Herbstsonne den Berg hinauf nach der zweiten Ruine; die erstere liegt unweit davon auf einem gegenüberstehenden Gipfel des ganz mit Buchen bewaldeten Berges. Ich weiß nicht, dass ich schon jemals von der zauberhaften Schönheit eines Erdenfleckchens so innerlichst berührt worden wäre. Zu den Füßen ein hügliges Wäldermeer, jetzt in der buntesten Herbstfärbung, am Horizont im Sonnenduft, wie er auch nur um diese Zeit des Jahres sichtbar, die Gebirgskette des Harzes, des Meißners und andre, für mich wenigstens, namenlose Berge, einer davon mit der Ruine des Hansteins. Nur nach zwei Seiten sieht man zwischen den Baumwipfeln hindurch die roten Dächer von Dorfschaften; durch ein mitgenommenes Fernrohr sahen wir weithin ein Forsthaus in reizender Einsamkeit liegen. Wenn man nach der andern Seite auf die Wälder schaut, so mag's noch ebenso aussehen, als damals, da die alten Herren von ihren Adlernestern hier ins Thal hinabsahen. – Ich musste lebhaft Achim von Arnims gedenken, der zum Teil mit so derber Wirklichkeit das Leben in und zwischen diesen beiden Burgen in seinem wunderbaren Schauspiel „Die Gleichen“ wiederauferweckt hat; drüben auf Altengleichen lebte der verarmte Zweig der Grafenfamilie, die Gräfin Gisela mit ihren wüsten Söhnen, die ihren reichen Vettern hier auf Neugleichen heimlich in die Jagd gingen; dort zwischen den Buchen unten war vielleicht der Schleichweg, auf dem die alte zwischenträgerische Wirtschafterin von Neugleichen zwischen den beiden Burgen hin und wieder ging. Wo aber war der Burghof, der plätschernde Brunnen? Nur ein paar nackte Mauern mit Fensteröffnungen, und einer Stelle, wo vielleicht einst der Herd gewesen, stehen noch. Kaum kann man sich denken, dass auf diesem engen Raum ein so geräumiges Burgleben gewaltet habe, wie es der Dichter vor uns aufrollt. Ich hätte gern unsern alten Propst hier gehabt, mit dem wir vor Jahren das Stück lasen. Ohne Zweifel stand Arnim, vielleicht um 1819, dort, wo ich stand, und fühlte wie ich diesen Zauber auf sich wirken, doch so, dass er bei ihm zu einer großen tiefsinnigen Dichtung sich gestaltete. „Allen guten Frühlingsgeistern der alten Schlösser Plesse, Hanstein und der beiden Gleichen bei Göttingen, den kühlen Quellen, dem frischen Morgenthau, dem schimmernden Grün und dem beseligenden Hauche der Bergluft zugeeignet in der heißen Mitte des Berges und des Jahres. Berlin, d. 8 Juli 1819.“ so lautet die Widmung des Stücks. Jetzt war es Herbst, und das passte zu meiner Stimmung auch viel besser; denn Alles, was mir hier lebendig wurde, gehörte der Vergangenheit. Ich setzte mich auf einen alten Mauerüberrest und sah nach der Seite von Göttingen durch die Wälder in's Tal; hier und dort lag ein freundliches Dorf in der warmen Sonnenbeleuchtung. Eins, vielleicht das nächste ist Gelliehausen — und ich suche mir zwischen den größeren Häusern das Amthaus heraus, wo nun vor 80 Jahren Bürger in der schönsten Zeit seines Lebens und Dichtens seine für alle Zeiten, so lang es deutsche Poesie geben wird, unsterbliche Lenore ersann; von hier aus ging mit unter Tag für Tag, der Bote nach Göttingen und brachte die neuen Strophen an Boie und die übrigen Freunde, Voß, Hölty, Großvater Esmarch8 und wie sie alle hießen. War mir's doch fast, als müssten meine Augen dort unten zwischen den gelben Stoppelfeldern noch eine andre, zärtliche Gestalt suchen. Trug denn die Luft nicht mehr den Namen Molly-Adonide? Ach, diese unruhvollen Herzen waren längst zur Ruh, die Namen der Dörfer und Berge waren noch dieselben, aber ihre Namen waren unter den Menschen, die jetzt dort wohnten längst verschollen. Die gute Frau im Pachthofe glaubte nur zu erinnern, dass einmal jemand zu ihrem Mann von einem Dichter Bürger, der dort gelebt, gesprochen habe.

Wir lagen eine ganze Zeit lang oben unter den alten Burgtrümmern. Inmittelst führte der Kutscher Stephan den Schimmel zwischen den Bäumen den Berg hinab, und es sah ganz prächtig aus, wie das Tier, das mit seiner Herrin auf dem Rücken so fromm gewesen war, jetzt mit Bäumen und Kapriolen hinuntergeführt wurde. Es langte außer uns noch eine Familie an, wir machten aber nicht Bekanntschaft, obgleich Schlüters Pudel, der weise Cartouche, sie mit dem kleinen Mädchen, das ihre Zwieback mit ihm teilte, bald vermittelt hätte. – Unter der Burg hat der Wirth aus Gelliehausen ein ungeheures Sommerdach, auf rohen Fichtenstämmen ruhend und daneben einen Felsenkeller aufgeschlagen; und es soll ihm diesen Sommer an Studenten und ändern Gästen nicht gefehlt haben. Heut aber war er zufällig nicht dort; sondern in Göttingen, um zur Gelliehauser Kirchweih einzukaufen, die in den nächsten Tagen vor sich gehen sollte. Denn jetzt ist die Zeit der Kirchweihen; es kommt nun eine nach der andern.

Zum Beschluss genossen wir unten im Pachthof Kaffee und Butterbrot, und kauften uns aus dem immensen Apfelreichtum zusammen einen Korb voll, Calvils, Perinetts, Goldreinetten, Borstoffer etc. durcheinander, und um 7 Uhr waren wir wieder bei unsern vier kleinen Mäusen, von denen die beiden kleinsten schon im schönsten Schlafe lagen.

 

Quellen

Theodor Storm an Ernst Esmarch, Brief vom 15.10.1857. In: Br. Esmarch, S. 60-62.

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Theistungen*

Also Theistungen! – Nachdem wir auf des Seilers Petri kleinem Einspänner ⅔ des Wegs bis an den sog. Rothenberg gefahren, stiegen wir aus und erklommen in der nicht unerheblichen Hitze den Berg, von wo wir das ganze Untereichsfeld zu unsren Füßen liegen sahen, in Entfernung von etwa ½ Meile das Dorf Berlingerode, ¼ Mle dahinter das Dorf Theistungen mit dem sog. Ober- und dem Unterhof. Der erstere gehört – wenn ich nicht irre unsern Westernhagens – der andre, wovon der Besitzer die Ländreien hat kaufen müssen, einem weitläuftigen Vetter, einem ältern Herrn, dem ich auch meinen Besuch machte, und dessen sehr nette schon ältre Tochter ich auf dem Oberhof sah. Unterwegs teilte Westernhagen mir allerlei über die Verhältnisse im Hause mit. Seit 16 Jahren lebt dort bei ihnen eine Tochter des bekannten Schriftstellers Tromlitz, der eigentlich Major v. Witzleben hieß und sich nach seinem Gute Tromlitz nannte. Sie ist vor 16 J. bei Lebzeiten der Mutter der alten Kammerherrin v W., die eine seltne Frau gewesen sein soll, auf Besuch gekommen, und dann so hängen geblieben; erst in letzter Zeit gibt sie ein mäßiges Kostgeld. Die Gastfreundschaft scheint auf Th. in alter Zeit unbegrenzt gewesen zu sein; und, wie ich selbst gesehen, geht noch immer ein tüchtiger Strom von Gästen durch. Der alte Kammerherr v. W. hat einmal einen jungen sechzehnjährigen Fähnrich, einen Herrn v. Hiffel zu sich eingeladen. Der ist dann auch gekommen, und 24 Jahre bei ihm geblieben; dann hat er die Tochter der Gänsehirtin geheiratet, und sich im Dorfe angesiedelt. Ein Sohn von ihm, ein Herr von Hiffel, ist jetzt der Schneider des Dorfs; ich bin an seinem kleinen Häuschen vorübergegangen. Die Wirtschaft auf Thstg. wird von den beiden Schwestern geführt, von denen Du die Eine ja gesehen hast. Außerdem war gegenwärtig dort zum Besuch ein altes Frl. v. Kliuchtnitz, eine Freundin der verstorbenen Mutter; so eine von den alten feinen Menschen, voll Milde und innerster Vornehmigkeit; und dann ein prächtiges junges Menschenkind, Marie v. Westernhagen. So ganz und unbedingt hat mir noch selten ein Mädchen gefallen. Sie hat ein so ernstes einfaches und bescheidenes Wesen, und dabei ist sie klug und voll Wärme und Begeisterung, die aber nicht so laut wird, wie bei einer gewissen guten Freundin; ein wenig traurig und, wie W. meint, verschlossen. Gegen mich war sie das nicht; wie ich denn – in bescheidenem Sinne – wohl glaube, trotz meiner roten Nase (siehe den letzten Brief) eine Eroberung an ihr, wie an den Alten, gemacht zu haben. Sie ist die jüngste von 11 Kindern; ihre 5 Brüder sind bis auf einen, Militärs, der ältste schon Artillerie-Major. Ihr Vater starb, als sie 1½, ihre Mutter, als sie 9 Jahr alt war; dann kam sie in eine Pension, wo sie gern gewesen, dann zu einem der Geschwister; und jetzt will sie, wie sie recht traurig sagte, „zu andern Leuten“. Eine Stelle hat sie übrigens noch nicht. Eine gewisse Bitterkeit des Waisenkinds ist allerdings in ihr. Sie hatte ein Gedicht von B. Paoli, „Vertraue dich dem Licht der Sterne“, der am Ende jeder Strophe aufs Leidenschaftlichste ausgesprochene Gegensatz ist dann immer der, dass man den Menschen in Freud u Leid nicht vertrauen solle. Sie meinte, dass sie in mancher Stunde in diesem Gedicht so rechte Genugtuung gefunden. Ich suchte ihr zu beweisen dass eine solche feindselige Stimmung vielleicht in ihrer Entstehung nicht aber auf die Dauer gerechtfertigt sei und daher weder im Leben noch im Gedicht festgehalten werden dürfe, und fügte hinzu, es habe doch am Ende Jeder mehr Liebe als Leid von den Menschen erfahren. Sie schwieg einen Augenblick, legte sich an den Stuhl zurück, und sagte dann – wobei ihr die innere Erregung bis an die Augen stieg – halb trotzig und halb wie zu sich selbst: „Ich – habe nicht mehr Liebe erfahren“. – – Als wir in solcher Weise miteinander sprachen, kam ihr Onkel und sagte: „Du nimm Dich in Acht, das ist ein Poet, der macht Dir was weiß.“ Sie sagte so einfach wie möglich: „Das wird Herr Storm nicht tun.“ und College W. hatte das Terrain für seine Witze verloren. Außer diesen war noch die Familie des Ökonomiekommissars Tollberg da, die aber Abends wegfuhren.

Das Wohngebäude ist ziemlich alt und geräumig, mit altvätrischen Möbeln und einer wirklichen Athmosphäre einer von den Großeltern überkommenen Gastfreundschaft. Die erste und gewohnliche Wohnstube par terre hat einen Erker, worin es sich zu behaglich sitzt; daran schließt sich ein kleinres und zwei größere Zimmer. Wir wurden äußerst freundlich empfangen, und waren sogleich heimisch; bei mir trug der Duft aus der alten Potpourrivase nicht wenig dazu bei; doch auch das herzliche liebevolle Benehmen zwischen dem Bruder und den Schwestern. Die alte Dame, die noch ganz voll von ihrer verstorbnen Freundin ist, sagte zu mir, das sei noch der Segen der verstorbenen Mutter, der auf den Kindern ruhe; denn was Eines der sechs Geschwister wolle, damit seien die Andern zufrieden; sie pflege immer zu sagen, sie hätten sich in die guten Eigenschaften der Mutter geteilt, ein jeder besitze eine andre davon. – College W. gewinnt sehr in dieser Umgebung.

Etwa drei Minuten davon liegt ein sehr großer Garten der rings – umgeben und auf ⅔ der Größe, so durchschnitten ist von oben dichten schattigen Buchengängen, die der Großvater einmal in teuerer Zeit, um den Armen Beschäftigung zu geben, hat pflanzen lassen. Das ⅓ ist ein Obstgarten mit Rasengrund; das größere ⅔ Stück ist voll der schönsten Gemüse, Kirschbäume, Stachelbeerbüsche, und Buchsrabatten mit allerlei schönen, aber einfachen Blumen; auch in den Ecken mitunter gefälligere Partien, und eine kleine Blumenterrasse; dies Alles gepflanzt von der einen Schwester. Ein köstlicher Garten, bei aller Anspruchslosigkeit; man fühlt, dass darin schon – wie denn auch der Fall ist – Vater und Großvater gelebt und sich behaglich gefühlt haben. Wir gingen den Abend noch ein Stündchen hinein, dann las ich vor sehr aufmerksamen Zuhörerinnen „Im Sonnenschein“ und „Im Saal“. Ich fühlte es ordentlich, wie die alte Dame mich immer mehr in ihr Herz schloss. Leider erlitt das einen kleinen Stoß, als Tags darauf im Gespräch bei Tisch es sich offenbarte, dass ich – nach ihrer Ansicht – kein guter Christ sei „Hm“, sagte die alte Dame, und tupfte mit den Fingern auf das Tischtuch, „es tut mir ordentlich leid.“ Trotz dessen musste ich ihr doch noch die Titel von allen meinen Büchern aufschreiben. E. hörte, als ich vorlas, mit allen Haaren, u. erregte dadurch förmliches Aufsehen. – Am andern Morgen in dem feuchtfrischen Garten, in der Krone eines gesegneten Kirschbaums war’s wirklich köstlich. Was Ernst gegessen, ist gar nicht zu sagen. Ich hatte wieder einmal so ein rechtes volles Sommergefühl. Nachmittags kam der neue Pächter, Amtmann Illing mit Braut u Schwiegermutter, letztere beide auf Logierbesuch, und W.s Bruder, der Rittmeister a. D. mit Frau und Schwiegermutter (verwitweten Präsident. von Vangerov) Sie kamen eben von Halberstadt, wo sie Winters leben, und gingen nach Berlingerode, auf ein Gut der Schwiegermutter, zum Sommeraufenthalt.

Der Rittmeister ist ein aparter Kerl, ein rechter Klüterer; die ganze Oberetage, wo wir schliefen, hat er mit alten meist sehr schlechten Ölbildern bevölkert; aber auch mit zwei selbst gemachten lebensgroßen Bildern von sich selber, einmal zu Pferde, martialisch einhauend. An allen Wänden stehen die seltsamsten, in Roccocoart grob geschnitzten Möbeln, weiß, rot, blau, goldig und silbern und Gott weiß wie, lackiert und angestrichen. Die hat der Rittmeister alle selbst gemacht oder zusammengesetzt. Da steht z. B. an der einen Wand ein ungeheures Sopha, das, wie der College W. sagt und wie es auch den Anschein hat, aus den Trümmern eines alten Kirchenportals zusammen gesetzt ist; in der Rücklehne befinden sich ein Paar Engel so groß wie jährige Kinder. Es ist so kolossal, dass man die Beine nicht den Grund kriegen kann, wenn man sich darauf setzt. Unser Ernst grauelte sich so vor all diesen Dingen, dass er nicht allein zu Bett gehen mochte. Abends gegen 8 Uhr schieden wir, ungern fort gelassen; und mit der dringenden Einladung bald wieder zu kommen.

Den E. wollte die Marie durchaus 8 Tage da behalten; ich wollte ihn aber doch nicht missen. Wir fuhren fast den ganzen Weg nach Haus und kamen gegen 11 U. an. Das erste Wort, was E. am andern Morgen beim Erwachen sprach, war: „Ich wollt’, wir wären noch auf Theistungen.“ W. ließ es sich übrigens nicht nehmen, den Wagen zu spendieren. – Otto hatte zu gesagt, und blieb dann aus seiner gewöhnlichen Wunderlichkeit fort.

So, mein geliebte Frau, das wär der Reisebericht.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 21.7.1858. In: Br. Constanze Storm, S. 11-14.

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Weihnachtsvorbereitungen*

Hermann Schnee und ich haben auch schon ein Kunstwerk für die Jungens in Angriff genommen. Eine plastische Darstellung der Scene, wie Hänsel und Gretel im Walde verirrt, an das Pfefferkuchenhäuschen der Hexe kommen. Auf einem großen Brett soll von allerlei Heidekraut, Nadelholz und was sonst im Winter grün ist, ein natürlicher Wald gepflanzt werden; das Häusel von wirklichem Pfefferkuchen mit klaren Bonbonfenstern, die Hexe aus Ton modelliert mit roter Hakennase, fliegenden weißen Haaren (aus Hede) unter einer roten Kapuze, Augen von Perlen, ein Scheusal, das Einem wirklich im Traum vorkommen kann – sind schon aus Hermann’s kunstfertiger Hand hervorgegangen Ihr fehlt nur noch die bunte Kattunjacke und der Besenstiel, den sie in der Hand halten soll. Hansel und Gretel die eben bei ihr anlangen, werden durch kleine Gliederpuppen dargestellt und von Luise geliefert und angezogen. Auf dem Dache des Kuchenhauses sonnt sich ein Kater mit zurückgesträubten Ohren, hinter den Kindern steht ein Reh, ein anderes läuft daneben auf dem grünen moosbedeckten Boden, hinter der Hexe schnüffeln zwei Schweine, weiter hinten läuft ein Hase zwischen den Bäumen, während oben aus einem Felsen zwischen Moos und Kräutern ein Fuchs sitzt. Die kleinen Tiere, die ich für einen Sgr. á Stück in einem Spielladen gekauft, sind wirklich überraschend schön, in der Art, wie Hans seine Menagerietiere, aber ganz klein, ganz rauh und natürlich in der Farbe. Nur die Vögel, die auf dem Dach und eine Eule, die auf einem alten Eichbaum sitzen soll, fehlen uns noch. Hermann ist sogar so kühn, dass er die Landschaft durch wirklich rinnendes Wasser beleben will. Ich meinte, wir könnten lieber Silbersand nehmen, aber er sagte: „nein, das plätschert nicht“. Das Kunstwerk soll seinen Platz auf der im Fond der Stube (Constanzen’s früherer Wohnstube) stehenden Kommode finden. Gegenüber am Fenster soll ein kleiner Weihnachtsbaum brennen; dahinter im Fenster wollen wir den Spiegel aus unserer Wohnstube befestigen, damit die Herrlichkeit sich selber auch beschauen könne. Um acht kommen Hermann und Louise uns abzuholen, wir wollen einen Gang durch die Weihnachtsausstellung machen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. […] Später. Unser großes Weihnachtskunstwerk rückt auch allmählich weiter. Vorgestern Abend modellierte Hermann voll seligen Eifers den großen Felsen aus Ton und Moos. Gestern Nachmittag war Hermann mit Hans und Ernst, alle wohl vermummt nach Sanssouci zu seinem Onkel, Hofgärtner Selle, um allerlei wintergrünes Gebüsch zu dem Walde zu holen. Heute Abend wird das Pfefferkuchenhaus gemacht. Der alte Schnee neckt seinen Jungen, wenn er dann Abends nach Hause kommt „Na, was habt Ihr beiden Spielhänse denn heut wieder zusammengepüttert“. Über diesen Ausdruck wird dann Hermann für mein Teil sehr empfindlich, bis dann der Alte gesteht, dass er früher für ihn und Louise noch mehr gepüttert habe. Constanze wird heute Abend weißen und braunen Kuchen anrühren, ich werde vergolden und Netze schneiden, Hermann baut Kuchenhäuser. So sind wir denn eifrig beschäftigt, uns in das so ziemlich graue Leben für einen Abend ein kleines Paradies hineinzubauen, worin nichts sein soll, als der Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen und seiner kleinen Herrlichkeit, als lächelnde Kindergesichter und stille friedliche Gedanken.

 

Quellen

Theodor Storm an seine Eltern, 14. und 20.12.1855. In: Br. Heimat, S. 71-74.

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Geselligkeit*

Seit Anfang dieses Monats leben wir übrigens wieder etwas geselliger. Die Schlüter und ihre Schwester Pauline, die noch eine Zeitlang hier bleibt, wirklich ein paar Prachtexemplare von Frauenzimmern, sind zu Constanzens Jubel zurückgekehrt, und nach den Vorgängen des Sommers sind wir uns jetzt so nahe gerückt, dass sich ein höchst behaglicher Verkehr herausstellt. Wir fühlen, glaub ich, gegenseitig, dass wir so recht für einander passen. Vorgestern (Dienstag) fuhren wir in Schlüters Wagen; d. h. wir beiden Ehepaare u. Pauline, nach den 1½ Meile von hier liegenden Göttinger Gleichen. In einem Pachthof zu Fuße des Berges, wo wir gegen 2 U. ankamen wurde ausgespannt; auf den einen Schimmel ein Damensattel gelegt, die Schlüter, die Bergsteigen nicht vertragen kann, stieg zu Ross, und so ging's in der wundervollen goldenen Herbstsonne den Berg hinauf nach der zweiten Ruine; die erstere liegt unweit davon auf einem gegenüberstehenden Gipfel des ganz mit Buchen bewaldeten Berges. Ich weiß nicht, dass ich schon jemals von der zauberhaften Schönheit eines Erdenfleckchens so innerlichst berührt worden wäre. Zu den Füßen ein hügliges Wäldermeer, jetzt in der buntesten Herbstfärbung, am Horizont im Sonnenduft, wie er auch nur um diese Zeit des Jahres sichtbar, die Gebirgskette des Harzes, des Meißners und andre, für mich wenigstens, namenlose Berge, einer davon mit der Ruine des Hansteins. Nur nach zwei Seiten sieht man zwischen den Baumwipfeln hindurch die roten Dächer von Dorfschaften; durch ein mitgenommenes Fernrohr sahen wir weithin ein Forsthaus in reizender Einsamkeit liegen. Wenn man nach der andern Seite auf die Wälder schaut, so mag's noch ebenso aussehen, als damals, da die alten Herren von ihren Adlernestern hier ins Thal hinabsahen. – Ich musste lebhaft Achim von Arnims gedenken, der zum Teil mit so derber Wirklichkeit das Leben in und zwischen diesen beiden Burgen in seinem wunderbaren Schauspiel „Die Gleichen“ wiederauferweckt hat; drüben auf Altengleichen lebte der verarmte Zweig der Grafenfamilie, die Gräfin Gisela mit ihren wüsten Söhnen, die ihren reichen Vettern hier auf Neugleichen heimlich in die Jagd gingen; dort zwischen den Buchen unten war vielleicht der Schleichweg, auf dem die alte zwischenträgerische Wirtschafterin von Neugleichen zwischen den beiden Burgen hin und wieder ging. Wo aber war der Burghof, der plätschernde Brunnen? Nur ein paar nackte Mauern mit Fensteröffnungen, und einer Stelle, wo vielleicht einst der Herd gewesen, stehen noch. Kaum kann man sich denken, dass auf diesem engen Raum ein so geräumiges Burgleben gewaltet habe, wie es der Dichter vor uns aufrollt. Ich hätte gern unsern alten Propst hier gehabt, mit dem wir vor Jahren das Stück lasen. Ohne Zweifel stand Arnim, vielleicht um 1819, dort, wo ich stand, und fühlte wie ich diesen Zauber auf sich wirken, doch so, daß er bei ihm zu einer großen tiefsinnigen Dichtung sich gestaltete. „Allen guten Frühlingsgeistern der alten Schlösser Plesse, Hanstein und der beiden Gleichen bei Göttingen, den kühlen Quellen, dem frischen Morgenthau, dem schimmernden Grün und dem beseligenden Hauche der Bergluft zugeeignet in der heißen Mitte des Berges und des Jahres. Berlin, d. 8 Juli 1819.“ so lautet die Widmung des Stücks. Jetzt war es Herbst, und das passte zu meiner Stimmung auch viel besser; denn Alles, was mir hier lebendig wurde, gehörte der Vergangenheit. Ich setzte mich auf einen alten Mauerüberrest und sah nach der Seite von Göttingen durch die Wälder in's Tal; hier und dort lag ein freundliches Dorf in der warmen Sonnenbeleuchtung. Eins, vielleicht das nächste ist Gelliehausen — und ich suche mir zwischen den größeren Häusern das Amthaus heraus, wo nun vor 80 Jahren Bürger in der schönsten Zeit seines Lebens und Dichtens seine für alle Zeiten, so lang es deutsche Poesie geben wird, unsterbliche Lenore ersann; von hier aus ging mit unter Tag für Tag, der Bote nach Göttingen und brachte die neuen Strophen an Boie und die übrigen Freunde, Voß, Hölty, Großvater Esmarch und wie sie alle hießen. War mir's doch fast, als müssten meine Augen dort unten zwischen den gelben Stoppelfeldern noch eine andre, zärtliche Gestalt suchen. Trug denn die Luft nicht mehr den Namen Molly-Adonide? Ach, diese unruhvollen Herzen waren längst zur Ruh, die Namen der Dörfer und Berge waren noch dieselben, aber ihre Namen waren unter den Menschen, die jetzt dort wohnten längst verschollen. Die gute Frau im Pachthofe glaubte nur zu erinnern, dass einmal jemand zu ihrem Mann von einem Dichter Bürger, der dort gelebt, gesprochen habe.

Wir lagen eine ganze Zeit lang oben unter den alten Burgtrümmern. Inmittelst führte der Kutscher Stephan den Schimmel zwischen den Bäumen den Berg hinab, und es sah ganz prächtig aus, wie das Tier, das mit seiner Herrin auf dem Rücken so fromm gewesen war, jetzt mit Bäumen und Kapriolen hinuntergeführt wurde. Es langte außer uns noch eine Familie an, wir machten aber nicht Bekanntschaft, obgleich Schlüters Pudel, der weise Cartouche, sie mit dem kleinen Mädchen, das ihre Zwieback mit ihm teilte, bald vermittelt hätte. – Unter der Burg hat der Wirth aus Gelliehausen ein ungeheures Sommerdach, auf rohen Fichtenstämmen ruhend und daneben einen Felsenkeller aufgeschlagen; und es soll ihm diesen Sommer an Studenten und ändern Gästen nicht gefehlt haben. Heut aber war er zufällig nicht dort; sondern in Göttingen, um zur Gelliehauser Kirchweih einzukaufen, die in den nächsten Tagen vor sich gehen sollte. Denn jetzt ist die Zeit der Kirchweihen; es kommt nun eine nach der andern.

Zum Beschluss genossen wir unten im Pachthof Kaffee und Butterbrot, und kauften uns aus dem immensen Apfelreichtum zusammen einen Korb voll, Calvils, Perinetts, Goldreinetten, Borstoffer etc durcheinander, und um 7 Uhr waren wir wieder bei unsern vier kleinen Mäusen, von denen die beiden kleinsten schon im schönsten Schlafe lagen.

 

Quellen

Theodor Storm an Lucie Storm und Elsabe Esmarch, Brief vom 15.10.1857. In: Br. Esmarch, S. 60-62.

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In Todesgefahr*

Gestern ist unsere kleine Lisbeth einer Todesgefahr entronnen. Wir hatten, wie schon öfter, da wir das einzige Mädchen nicht nach Tisch entbehren können, die vier Kinder zu Otto hinabgehen lassen, um dann später nachzukommen. Als wir um 5 Uhr nachkommen, lag Lisbeth nackt in Josefs Bett und unterhielt sich mit Onkel Otto. Sie war, als Hans sich eben von ihr gekehrt, einige Schritte links von der Brücke in’s Wasser gefallen. Der von dem vielen Regen sehr stark fließende Strom, hatte sie kopfüber, kopfunter mit sich fortgerissen. Hans schrie, da sah es Frau Rottmann, die aber, statt hineinzuspringen, rief erst Petersen, der bei den Mistbeeten arbeitete. Zwanzig Schritte unterhalb der Stelle, wo sie hineingefallen, auf dem über dem Wasser befindlichen Stege, saßen Ernst und Karl. Ernst – so erzählte es mir der kleine Losche unter strömenden Tränen – griff zu und erfasste sie an den Kleidern, konnte sie aber nicht halten, so dass sie unter den Steg noch einige Schritte fort trieb; dann sprang Petersen in’s Wasser und holte Lisbeth heraus. „Es sei garnichts mehr von ihr zu sehen gewesen“, sagt Petersen. Das erste, was sie gesagt, nachdem sie sich vom Schrecken besonnen, sei gewesen „ach, mein neues Keid“ (Kleid). Ihr hättet die Verzweiflung und Angst der drei Brüder sehen sollen. Ernst konnte sich nicht darüber fassen, dass er sie wieder hatte loslassen müssen. Hans, der immer bereite, war hingestürzt, um ihr trockene Kleider zu holen. Losche weinte immerzu. „Das Wasser trudelte ihr immer über den Kopf“, sagte Ernst, „ich musste sie loslassen, sonst wäre sie ja gestickt.“ Vielleicht ist es doch ein Glück, dass er sie dort einige Augenblicke aufgehalten hat.

Übrigens hat ihr garnichts danach gefehlt, sie zeigte mir gestern Abend noch die Stelle, wo sie hineingefallen war, und eben hat sie auf ihr ausdrückliches Verlangen ganz allein für einen Sechser Zwieback geholt.

Constanze ist noch heute ganz kaputt, sie kann es sich nicht verzeihen, dass sie die Kinder allein hat gehen lassen. –.

 

Quellen

Theodor Storm an seine Eltern, Brief vom 3.9.1858, S. 116f.

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Schilderung unsres Winterlebens

Also jetzt zur Schilderung unsres Winterlebens. In der Mittel- und an Constanzens dran grenzenden Schlafstube haben wir die Fußböden streichen lassen; die heizen wir denn nun und das ist unsere Welt. Darin sitzen Hans und ich, zu arbeiten, Constanze zu flicken, Ernst, Karl und Lite, zu malen und zu schnitzeln, darin schläft das Piepchen, tänzelt mit ihr, wenn sie wach ist, das Kindermädchen Ottilie. Dahinein kommen jeden Nachmittag noch wenigstens drei Nachbarskinder, zwei Mädchen und ein Junge von unserm Nachbar, Bäcker Herold; gute, wohlerzogeue Kinder, mitunter auch zwei andere kleine hungrige Mädchen, Töchter eines Conducteur’s Burchhardt, die, Pietsch und ich, diesen Sommer, weil sie immer da waren und durch alle Ritzen quollen, „die Ritzenqueller“ tauften; darin – in diesem unserm Weltgebäude nämlich – setzt sich auf Tisch und Stühlen, diese ganze Kinderbande und spielt unter lebhaften Geschrei „Tod und Leben“, ein Kartenspiel, das Wussow den Jungens gezeigt hat, dem ich aber, da die Kinder schließlich, wenn sie ihre Schularbeiten gemacht, an nichts Anderes dachten, durch Verbrennung der Karten gestern ein plötzliches Ziel gesetzt habe. Seitdem sagt Losche alle paar Stunden, selbst gestern im halben Einschlafen noch, mit der zartesten Stimme zu mir: ,,Papa, tut es Dir nicht leid um die schönen Karten? Mir geht es auch so, wenn ich böse werd, da schmeiß ich Alles hin und nachher da tut es mir leid!“ Und der Junge hatte wirklich Recht. – Darin – in dieser betäubenden kleinen Welt, habe ich in den letzten beiden Monaten eine Novelle geschrieben, die wohl um ⅓ länger als ,,Immensee“ ist, was ich in meiner künftigen Biographie nicht zu vergessen bitte.

Jetzt, nachdem das Produktionsfieber vorüber, bin ich aber auch ziemlich zusammengeklappt, denn es ist nicht zu vergessen, dass ich täglich 6-7 Stunden Amtsarbeiten dabei besorgt habe. Die Kinder frugen mich zuletzt fast täglich „Papa, bist Du denn noch nicht fertig?“ Denn natürlich war ich während der zwei Monate, während ich diesen jahrelang umhergetragenen Stoff zu Papier brachte, weder für sie, noch für einen andern Menschen auf der Welt. Nur eine Portion Tiere und andere fabelhafte Geschöpfe musste ich freilich täglich für sie anfertigen, die dann von Ernst und Hans auf eine gräuliche Art angetuscht wurden. Als ich vor einigen Tagen die Reinschrift korrigierte und mich einen Augenblick über einen Ausdruck bedachte, fragte Losche: „Papa, Du dichtest wohl?“ „Nein.“ „Aber Du denkst ja doch mit’m Kopf so in der Luft herum.“ ­

Vor 8 Tagen hab’ ich meine Arbeit „Im Schloß“ an die „Gartenlaube“ geschickt.

 

Quellen

Theodor Storm an seine Eltern, 6.12.1861. In: Br. Heimat, S. 168f.

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Eine Parenthese

„Wo ist mein Schlüsselbund?“ fragt Constanze. „Der Herr hat es gehabt,“ sagt das Mädchen. „Ich hab dem Herrn Butter holen müssen.“ – „So?“ sagt Constanze, sehr gedehnt, ,,also Butter hast Du heute morgen gegessen und auch wohl Zucker?“ Beides ist nämlich seit einem Vierteljahr nur zum Nachmittagstee gestattet. – Ich aber nahm das Häppchen aus dem Schrank und sagte triumphierend: „Ist was davon gegessen?“ Nein! Dann aber musste ich gestehen, dass ich heute Morgen eine so große Lust zu süßem Tee und Butterbrod gehabt, dass ich indes, nachdem die Butter schon requiriert, dies Gelüste dennoch glücklich bezwungen. –

So kämpft im Kleinen wie im Großen Jeder fortwährend heimlich mit dem Teufel; und Heil dem, in dem der Teufel, d·h. das sinnliche Begehren noch recht frisch und lebendig ist, wie er mit ihm fertig wird, ist seine Sache. Ich möchte nicht, dass der Teufel sobald in mir stürbe.

 

Quellen

Theodor Storm an seine Eltern, 6.12.1861. In: Br. Heimat, S. 168f.

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Der Amtschirurgus – Heimkehr

Allerlei Seltsames war in der alten Stadt. In der alten, sage ich; denn seit der große Brand ihre Treppengiebel verzehrt und die Eisenbahn den Arm nach ihr ausgestreckt hat, ist sie jünger geworden, als sie es in meiner Jugend war.

Damals, wenn Unwetter in der Luft drohte, ließen wir uns das nicht, wie anderwärts, durch ein Wetterglas prophezeien, auch nicht durch einen Laubfrosch, der die Leiter in seinem Glase hinabkletterte, sondern durch einen alten Amtschirurgus der die Treppen der drei Rathausböden hinaufstieg und dann aus der obersten Giebelluke über die Stadt hinausprophezeite. Zwar betrafen seine Worte nicht zunächst das Wetter; vielmehr pflegte er sich dann als Kronprinzen von Preußen zu proklamieren und hinterher allerlei Verwünschungen über die höchsten Würdenträger der Stadt herabzurufen; aber wir Eingeborenen wussten Bescheid, ein Sturm aus Nordwest war gewiss im Anzuge. Oft habe ich aus dem engen Steinhofe eines Nachbarhauses hinaufgeschaut, wenn das breite rubinrote Gesicht mit dem weißgepuderten Haarschopf droben aus dem Rathausgiebel hinausfuhr, und mit Wonne die ungeheuren Aufrichtigkeiten eingesogen, die der aufgeregte Redner mit beiden Armen aus der Bodenluke hervorarbeitete. Es war dies allerdings nicht das geeignetste Mittel, um in einem jungen Herzen den Respekt vor den Autoritäten des Staatskalenders groß zu ziehen, und ich habe später oft darüber nachdenken müssen, was der Mann nicht alles in mir zerstört haben mag. – Ob im Grunde genommen nicht der Amtschirurgus klarer sah als die Leute unten in der Stadt, die ihn für einen Narren hielten? – Nur so viel ist gewiss; auch wir Gesunden sehen die Dinge nicht, wie sie sind; uns selber unbewusst webt unser Inneres eine Hülle um sie her, und erst in dieser Scheingestalt erträgt es unser Auge, sie zu sehen, unsere Hand, sie zu berühren.

Ich glaube nicht, dass unser Amtschirurgus der Kronprinz von Preußen war; aber er war vielleicht ein Prinz jenes weit entlegenen, aber viel größeren und schöneren Reiches, in welchem Aschenbrödel einst den Thron bestieg. Bestimmtes über seine Herkunft kann ich nicht berichten; denn er war lange vor meiner Geburt aus der Fremde eingewandert. Seit seine Denkweise von der der anderen guten Bürger in so Anstoß erregender Weise abzuweichen begonnen hatte, und, wie es hieß, sogar die Kehle eines hohen Beamten unter seinem Schermesser in Gefahr geraten war, hauste er, ich weiß nicht in Folge welches Abkommens, auf den wüsten Böden des Rathauses, die er weder Sommers noch Winters verließ. – Dennoch konnte man sein Leben kein ungeselliges nennen; nur etwas seltsam mochte, wenigstens dem oberflächlichen Beobachter, die Gesellschaft erscheinen, die er bei sich sah. Da er nämlich auf menschlichen Besuch nicht eingerichtet war, so hatte er dafür desto traulichere Beziehungen mit den großen Ratten der benachbarten Brauerei angeknüpft; und er stand sich dabei um nichts schlechter.

Die meisten Leute in der Stadt kannten von dem Amtschirurgus nur noch die Stimme, wie sie an düsteren Novembertagen in der Luft über ihren Köpfen laut wurde; mich aber hatte schon lange die Neugierde geplagt, dies geheimnisvolle Leben einmal in unmittelbarer Nähe zu betrachten; auch wusste ich von meiner dicken Freundin der Ratskeller–Wirtin, dass der Amtschirurgus, wenn die Geister des Sturmes ihn nicht beunruhigten, ein gar wohlanständiger alter Herr sei. Und so schlich ich denn an einem sonnigen schulfreien Nachmittage die engen Wendelstiegen hinauf, bis ich endlich durch die Bodentür in den untersten der weiten unbenutzten Räume eintrat. Es war totenstill, von dem Wirtschaftsleben drunten im Keller drang kein Laut herauf; überall jene bekannte Bodendämmerung; nur hie und da durch die kleinen Dachfenster fiel ein Lichtstrahl mit emsig tanzenden Sonnenstäubchen. Dort hinten in der dunklen Ecke sah ich eine Stiege, die durch einen Ausschnitt in der Decke zu einem weiteren Boden führte, der, wie ich wusste, noch nicht der letzte war. Eine seltsame Beklommenheit befiel mich, und ich wollte schon ganz leise meinen Rückzug nehmen; da hörte ich hinter mir eine Tür aufklinken, und als ich mich umwandte, stand eine aufrechte breitschultrige Gestalt vor mir, und ein stattliches Burgundergesicht mit vollem weißen Haarschopf schaute aus kleinen zugeschnürten Augen gelassen auf mich herab. „Nun, mein Söhnchen“, – er sprach es aber: Sehnchen– „was hast denn du zu bestellen?“ Diese Worte wurden mit einer auffallend zarten Tenorstimme an mich gerichtet, und ich wollte eben wohlgemut eine Antwort geben, als zum Unglück mein Blick in die offene Tür einer Kammer fiel, und ich drinnen eine ganze Reihe halb geöffneter spiegelblanker Schermesser an dem Balken hängen sah. Aber schon legte sich beschwichtigend eine große Hand gar sanft auf meinen Kopf: „Warte nur, mein Sehnchen; wir sollen wohl meine Haustierchen einmal zu Gaste laden!“

Ich blickte auf, vermochte aber nur durch ein stummes Nicken mein Einverständnis zu erkennen zu geben; der Mann sah mir so altertümlich vornehm aus, und es war plötzlich, ich weiß nicht wie, in meinem Knabenhirne fertig, dass der Amtschirurgus, wenn auch kein Prinz, so doch wenigstens ein in Ungnade gefallener Kammerherr sein müsse. Der blaue Kleidrock mit dem aufrechtstehenden Kragen und den blanken Knöpfen, zwischen dessen Schößen der goldene Schlüssel nicht übel gepasst hätte, mochte ein Wesentliches zu dieser Vorstellung beitragen. Freilich, en grande tenue habe ich ihn auch später nie gesehen; seine hellgrauen Pantalons waren über den Knöcheln zugebunden, und seine Füße steckten immer in großen Lederpantoffeln, wenn er, die Hände auf dem Rücken, in seinem öden Reiche promenierte.

Damals war übrigens zu langen Betrachtungen keine Zeit gelassen; denn der Amtschirurgus begann jetzt in scharfem Tempo den Marsch des alten Dessauer zu pfeifen. Unter dieser Musik stieg er die Treppe zu dem zweiten Boden hinan, und während ich ihn so immer weiter bis unter das Dach hinaufpfeifen hörte, wurden über mir alle Böden nach und nach lebendig, überall hörte ich es rascheln und an dem Holzwerk herunterhuschen, kleine Kalkstückchen fielen mir vor die Füße, und hie und da zwischen Pfannen und Sparren fuhr ein grauer Rattenkopf hervor und lugte wie suchend mit den blutschwarzen Augen umher, während an der anderen Seite der kahle Schwanz herabhing. Meine Gegenwart schien hier keinen Zwang zu tun; denn bald begann es dicht neben mir immer emsiger auf den Fußboden herabzuplumpen, bis endlich ein ganzer Haufen von glatten grauen Pelzen durch einander wimmelte Und jetzt verbreitete sich auch der eigentümliche Dunst, den die Ratte an sich hat, so dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

 Mittlerweile hatte der Amtschirurgus seinen Marsch vollendet und war mit einer Brotschnitte in der Hand herangetreten. Einen Augenblick wurde es ruhig, und die sämtlichen Köpfchen hoben sich empor; sobald aber der erste Brocken zwischen sie fiel, fuhr Alles wieder quieksend und beißend in einen Haufen zusammen. Nur eine Ratte mit lichtgrauem Fell, es mochte eine junge sein, war nicht unter dem Wirrsal; sie hob sich auf den Hinterfüßchen, ließ ließ die Vorderpfötchen hängen und sah erwartungsvoll zu ihrem Meister auf. Alsbald auch begann dieser eine neue musikalische Figur zu pfeifen; die Ratte huschte über den Fußboden und saß im Nu in derselben zuwartenden Stellung auf der Lehne einer zerbrochenen Holzbank; und der Amtschirurgus trat dicht an sie heran. – Sie kannten sich wohl, das fremde unheimliche Tier und der einsame alte Mann; sie blickten sich traulich in die Augen, als hätten sie in deren Tiefe den kleinen Punkt gefunden, der unterschiedslos für alle Kreatur aus dem Urquell des Lebens springt. Und jetzt nahm der Alte ein Krüstchen Brot zwischen seine Lippen, und sein Lieblingstier lief an ihm herauf, erfasste es mit den zierlichen Pfötchen und saß gleich darauf wieder auf der zerbrochenen Bank, behaglich knuspernd und dann und wann einen Blick auf seinen großen menschlichen Freund werfend, der lächelnd daneben stand.

Ehe ich fortging, führte der Amtschirurgus mich noch in seine Kammer, wo die blanken Schermesser mich nun nicht mehr erschreckten. – Es war nur ein Bretterverschlag, den man von dem großen Boden abgeteilt hatte; darin stand ein Stuhl, ein Tisch und ein Bett; das war Alles. Ein Ofen war nicht darin; und wenn im Januar die „hanebüchene“ Kälte bei uns einzog, so musste der Amtschirurgus auch den Tag über im Bette bleiben, und er lag dann, wie mir die Ratskellerwirtin später erzählte, so tief darin vergraben, dass nur die bläuliche Burgundernase und die kleinen Augen über der rotkarierten Bettdecke hervorsahen. – Allein es war auch dann so übel nicht in seiner Kammer; denn die Wände waren ganz mit jenen hübschen Bilderbogen bedeckt, wie wir Älteren sie in unserer Kinderzeit für einen Schilling uns beim Krämer holen konnten. Derzeit, vor der Erfindung des Steindrucks, war noch jeder Bilderbogen ein illuminierter Kupferstich und zum mindesten ein halbes Kunstwerk, und der Amtschirurgus wusste wohl, was er tat, als er mit dieser Tapete seine Bretterwand bekleiden ließ. Da sah man außer dem Affen- und dem Ritterspiel jenen berühmten Bilderbogen von der verkehrten Welt, wo die Bauern von den Ochsen auf die Weide getrieben werden, und der Schulmeister von den Schuljungen die Rute bekommt; da war ferner ein Bogen mit kleinen Landschaften in runden Schildern, hier eine Heuernte, über der so lustig die gelbe Sommersonne schien, dort ein Vogelherd mit dem alten Vogelsteller im tiefen grünen Walde; lauter trauliche Orte für den Amtschirurgus; denn ich zweifle nicht, dass er sich dieselben Bilder ausgesucht hatte, für welche einst in seiner Knabenzeit seine ersparten Dreier zum Krämer gewandert waren. Und so, während draußen auf den wüsten Böden die Bretter im Froste krachten, während das Trinkwasser vor seinem Bett gefror, und durch die bereiften Dachfenster das kalte Dämmerlicht des Winters in seine Kammer fiel, führte er seine Augen an den Wänden spazieren und wandelte vergnügt in seinem Kindheitsgarten, wo er einst gewandelt, da er noch nicht der Kronprinz von Preußen und der Wetterprophet unserer grauen Stadt gewesen war.

 

Aber es gab noch andere Unterhaltungen für den alten Herrn. – Unter seinem ersten Bodenraum befand sich der große Rathaussaal, in welchem nicht nur unsere heimischen Komödianten zuweilen ihr Gerüste aufschlugen, sondern wo auch wir Primaner alljährlich um Michaelis von einem hohen Katheder herab mehr oder minder selbstverfertigte Reden hielten. Von allem diesen bekam der Alte seinen stillen Anteil. Denn wenn unten – und das geschah unfehlbar jedesmal – die Begeisterung die Luft allzusehr erhitzt hatte, dann wurde in der Bretterdecke des Saales eine Luke ausgehoben, und alsbald vom Rande der Öffnung glänzte das rote Gesicht des Amtschirurgus teilnehmend zu uns herab.

Es war immer ein großer Tag, diese „Redefeierlichkeit“. Wir konnten damals noch nicht am eignen Tische frühstücken und in Hamburg zu Mittag essen; Alles blieb deshalb hübsch zu Hause, und was wir dort hatten, das würzten wir uns und machten es schmackhaft und kosteten es aus bis auf den letzten Tropfen. – An jenem Tage standen die Häuser der Honoratioren wie der kleineren Bürgersleute leer; der Rattenfänger von Hameln hätte sie nicht leerer fegen können. Frauen und Töchter in Flor und Seide saßen dicht gereiht vor dem weißen Katheder mit der grünsamtenen goldbefranzten Bordüre; den Männern blieben nur die hintersten Bänke, oder sie standen an der Wand unter den großen Bildern vom jüngsten Gericht und vom Urteil Salomonis. Wer hätte auch zu Hause bleiben können, wenn wir Primaner uns nicht zu vornehm hielten, die gedruckten Einladungen in eigener Person von Haus zu Haus zu tragen! Freilich war auch diese Pflicht, besonders für die älteren Schüler, nicht ohne allen Reiz; denn die „Stellen“, welche nach einem Maßstabe von Wein und Kuchen in „fette“ und „magere“ zerfielen, wurden von dem Primus Classis streng nach der Anciennität verteilt. Die Einladungen selbst enthielten nur unsere Namen und die Thematen unserer Vorträge; aber dessen ungeachtet waren es keine öden Listen, wovon es heutzutage an allen Ecken wimmelt; unser alter Rektor – möge der allverehrte Greis noch lange seiner fruchtbringenden Muße genießen! wusste durch eine feine Abtönung auch diesen Dingen einen munteren Anstrich zu geben. Denn während der Erste nur „redete“, suchte der Zweite schon „auszuführen“, der Dritte „vertiefte sich in“, der Vierte „verbreitete sich über“; und so arbeitete Jeder in seinem eigenen Charakter. Was blieb endlich mir übrig, der ich schon damals in einigen Versen gesündigt hatte? Ich, selbstverständlich: „besang“. „Mattathias, der Befreier der Juden“, so hieß meine Dichtung, welche der Rektor mir ohne Korrektur und mit den lächelnd beigefügten Worten zurück gab, er sei kein Dichter. Ich will nicht leugnen, es überrieselte mich so etwas von einer exklusiven Lebensstellung, und ich mag in jenem Augenblick meinen Knabenkopf wohl um einige Linien höher getragen haben. – Freilich, unser Schultisch war derzeit nur mit geistiger Hausmannskost besetzt: wir kannten noch nicht den bunten Krautsalat, der – „Friss Vogel oder stirb!“ – den heutigen armen Jungen aufgetischt wird. Ich habe niemals Kaviar essen können, und – Gott sei Dank! – ich habe ihn auch niemals im Namen der „Gleichmäßigkeit der Bildung“ essen müssen; diese schöne Lehre beglückte noch nicht unsere Jugend; der Fundamentalsat aller Ökonomie: „Was kostet es dir, und was bringt es dir ein?“ fand damals, freilich harmlos und unbewusst, auch für die Schule noch seine Anwendung. – Leider muss ich bekennen, dass auch die deutsche Poesie als Luxusartikel betrachtet und lediglich dem Privatgeschmack anheimgegeben war; und dieser Geschmack war äußerst unerheblich. Unseren Schiller kannten wir wohl; aber Uhland hielt ich noch als Primaner für einen mittelalterlichen Minnesänger, und von den Romantikern hatte ich noch nichts gesehen als Ludwig Tieck's Porträt auf dem Umschlage eines Schreibbuches. – Nichtsdestoweniger dichtete ich den „Mattathias“.

Und endlich kam der große Tag. Während draußen vor der Kirche die Buden zum Michaelis–Jahrmarkte aufgeschlagen wurden, war oben in unserem Rathaussaale die Redefeierlichkeit schon in vollem Schwunge. Die an den Fenstern entlang postierte Liebhaberkapelle hatte schon einige Pausen mit entsprechenden Walzern und Ecossaisen ausgefüllt; nun aber begann ein feierlicher Marsch, und mir klopfte das Herz; denn ich hatte ihn bestellt, als Ouvertüre zum Matathias. Dort stand auch mein würdiger Freund, der Doktor, derzeit Primaner und Mitglied des „Dilettantenvereins“, und noch hübscher, als er redete, blies er die Klarinette; heute aber leistete er das Außerordentliche. Da plötzlich, noch ein heroischer Akkord, und oben auf dem Katheder stand ich in dem lautlosen Saale, die erwartungsvolle Menge unter mir. Wie durch einen Schleier sah ich noch die Dilettanten ihre Klarinettenschnäbel mit den Taschentüchern putzen; ein Blick nach oben zeigte mir am Rande der Deckenöffnung das leuchtende Gesicht des Amtschirurgus, der wie ein umgekehrter Sixtinischer Engelskopf zur Erde statt zum Himmel blickte; dann:

- „O Söhne Juda's, rächt der Väter Schmach!“

– – Zum Unglück für den Leser ist das Gedicht verloren gegangen, und mein Gedächtnis vermag dem Schaden nicht mehr abzuhelfen; doch kann ich versichern, daß es ohne Anstoß zu Ende gebracht wurde. Und das war keine Kleinigkeit; denn unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergissmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren. Ich kannte solche Klippen nur zu wohl; war es mir doch in meiner vorjährigen Rede „über den Untergang der Staaten“ begegnet, daß ich in denselben Augen eine ganze Weile, alle Feierlichkeit vergessend, hängen blieb, wodurch denn eine allen übrigen Zuhörern unbegreifliche Kunstpause entstanden war. Diesmal aber, und das von Rechtswegen, half mir der Gott Israels. Denn dort hinten, unter dem Urteile Salomonis, erschien mein Freund, der jüdische Handelsherr aus unserer Nachbarstadt, und nickte mir zu und lächelte mich an; und der Geist meiner heutigen Sendung erfüllte mich wieder, ich sah nicht mehr in die vergissmeinnichtblauen Augen, sondern auf die goldenen Uhrberloques, die an dem behäbigen Leibe des jüdischen Mannes funkelten; und für ihn eigentlich habe ich diese Rede gehhalten.

 

„Dein Stern ging unter, Juda's Stern

Erglänzt in neuer Pracht und brennt

An Deiner Gruft die würd'ge Todesfackel.“

 

Das waren meine letzten Worte für den Mattathias. Als ich das Katheder verlassen und mich nach dem alttestamentarischen Bilde durchgedrängt hatte, nahm der Urenkel desselben schweigend und mit sanftem Druck meinen Arm in den seinen, und wir stiegen mit einander die schmale Wendeltreppe hinab bis unten in den Ratskeller und tranken dort in altem Madeira auf das Gedächtnis des unsterblichen Mattathias und auf die Gesundheit seines jungen sterblichen Dichters. Dann, da die Redefeierlichkeit für den Vormittag beendet war, gingen wir auf den Markt hinaus und setzten uns im Lindenschatten vor einem Hause auf den Beischlag. Uns gegenüber im Sonnenschein wurde eine Bude nach der anderen aufgeschlagen; aber der sonst so eifrige Handelsmann, obgleich er noch nicht einmal sein herkömmliches Tuchgeschäft mit meinem Vater gemacht hatte, wandte kein Auge auf dieses werktätige Treiben. Von meiner Rede ausgehend hatte er mich, wie er es liebte, in allerlei religiös-moralisches Gespräch verwickelt: „Was soll's!“ rief er mit den scharfen Akzenten seines Volkes, „ich sage bloß: Tue Recht und scheue Niemand!“– Bald darauf schien er indessen durch den jetzt vom nahen Kirchturm tönenden Schlag der Viertelsglocke an die Kostbarkeit der Zeit erinnert zu werden; denn, als wolle er alle grauen Theorien von sich schütteln, stand er plötzlich auf und klopfte mich zärtlich auf die Schulter. „Komm nun!“ sagte er schmunzelnd; „woll'n wir gehen, und woll'n noch betrügen ein bisschen den Alten!“

Aber das war nur dein Scherz, mein alter Freund; ich kann nicht anders, als es dir in dein Grab nachsagen, worin du nun seit lange auf dem kleinen Judenkirchhof der Nachbarstadt ruhst, dass du meinem Vater gewiss gutes niederländisches Tuch zu den christlichsten Preisen verkauft hast. Wer weiß, ob nicht die Freundlichkeit, die du dem Knaben einst erwiesest, den Keim jener Zuneigung gelegt hat, die ich deinem Volke stets bewahrte, und die mir auch der schmutzigste Schacherjude nicht hat stören können. Habe ich doch aus jener Sympathie heraus noch vor wenigen Jahren die nachstehenden Verse gedichtet, welche freilich von meinem Freunde Alexander, da ich sie ihm noch warm aus dem Herzen vortrug, mit der kurzen Kritik: „Auch eine Auffassung!“ ganz und für immer abgefertigt sind:

 

Crurifixus

Am Kreuz hing sein gequält' Gebeine, Mit Blut besudelt und geschmäht; Dann hat die stets jungfräulich reine Natur das Schreckensbild verweht.

Doch, die sich seine Jünger nannten, Die formten es in Erz und Stein, Und stellten's in des Tempels Düster Und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug' ein Schauder, Ragt es herein in unsre Zeit; Verewigend den alten Frevel, Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

– – – – – – – – – – – –

 

Aber ich kann so nicht weiter schreiben. Durch das offene Fenster weht der Primelduft aus dem Garten, und draußen unter dem sprießenden Syringenbaum steht plötzlich meine Muse, die ich so lange nicht mehr sah. Sie legt den schönen ewig jugendlichen Kopf zurück und sieht mich an; schimmernd liegt die Frühlingssonne auf ihrem goldig blonden Haar. Soll ich noch einmal deine träumerischen Wege wandeln? – Aber, wenn du mich zur Höhe führst, und nun dein Fuß von der festen Erde auf die rosigen Wolken hinaustritt? – Zwar meine Seele hat noch ihre Flügel; aber manche der rauschenden Schwungfedern sind schon gebrochen, und mächtiger als sonst fühl' ich die Erde mich zu sich niederziehen. – Doch, wer könnte diesen Augen widerstehen? So gehen wir denn! Streich' mit deiner Götterhand das graue Haar von meinen Schläfen und dann sage mir: wie war es doch?

 – – Ich war wieder in der kleinen Küstenstadt, in der ich einst die Tage meiner Jugend lebte. Weit dahinter lag jene Zeit, unabsehbar weit; denn es gibt Gräber, über die hinweg der Blick in die Vergangenheit unmöglich wird. Dennoch hatte es mich dahin zurückgezogen; in allen Jahren, die ich in der Fremde lebte, war immer wieder das Brausen des heimatlichen Meeres an mein inneres Ohr gedrungen, und oft war ich von Sehnsucht ergriffen worden, wie nach dem Wiegenliede, womit einst die Mutter das Tosen der Welt von ihrem Kinde fern gehalten hatte. – Nun hörte ich es wieder, das Wiegenlied des Meeres; am Tage wanderte ich hinaus an seine Küste und ließ die Wellen zu meinen Füßen rauschen, des Nachts klang es hinüber in die schlafende Stadt, nur unterbrochen von dem tönenden Flug der Wandervögel, die in großen Zügen unsichtbar unter den Sternen dahinrauschten. Wie oft stand ich jetzt im Dunkel meines Gartens, blickte hinauf zu der lichten Sternenhöhe und ließ mein Ohr von diesen Akkorden des Schöpfungsliedes erfüllen!

Ich entsinne mich eines Spätherbstnachmittages; so ungestört war ich seit meiner Heimkehr nicht durch die Stadt gewandert; denn der erste Novembersturm hatte die Gassen leer gefegt. Ich sah mir die Häuser an und gedachte ihrer einstigen Bewohner. Hier auf der Bank unter den Linden, von deren Zweigen jetzt die letzten Blätter wehten, saß einst der lustige Herbergsvater, der uns Schülern stets das griechische „Heureka“ zum Gruß entgegenrief. – Heureka– Gefunden! – ob man wohl das Wort auf seinen Sarg geschrieben hat?

Und drüben jenes Giebelfenster mit den zertrümmerten Scheiben; – die Donner des Frühlingsungewitters sind längst verhallt, die ich in lauer düfteschwerer Nacht dort über meinem Haupte rollen hörte; aber wo ist sie geblieben, die ich so fest in meinen Armen hielt? – Ich habe das blasse Gesichtchen nie vergessen können, wie es beim Schein der Blitze aus dem Dunkel auftauchte und wieder darin verschwand. – Hu! Wie kommen und gehen die Menschen! Immer ein neuer Schub, und wieder: Fertig! – Rastlos kehrt und kehrt der unsichtbare Besen und kann kein Ende finden. Woher kommt all' das immer wieder, und wohin geht der grause Kehricht? – Ach, auch die zertretenen Rosen liegen dazwischen.

Ich will zum Kirchhofe gehen; es stillt die Unruhe, in den Blättern dieses grünen Stammbuches zu lesen. Auf dem Wege dahin sieht hie und da ein übrig gebliebener Treppengiebel vertraut auf mich herab. Ob droben in der Tertia der nun abgesetzten „Gelehrtenschule“ das halbzerschnittene Pult noch steht, vor dem ich einst „Üb' immer Treu' und Redlichkeit“ so weltvertrauend deklamierte? Mir ahnte damals noch nicht, dass die Redlichkeit nur soweit geübt werden dürfe, als sie nicht verboten ist. Jetzt weiß ich es und begreife nur nicht, warum man die Kinder Dinge lernen lässt, die ihnen später so gefährlich werden können.

Äußerst schmucklos waren jene alten Räume; höchstens, dass hie und da eine aus Strafgeldern zusammengesparte Landkarte an der Wand hing. Wir kannten weder die Schöne griechischer Götterbilder, noch andererseits jenes cäsarische Wesen, in dem Bilde des jemaligen Herrschers der aufstrebenden Jugend ein drohendes Symbol der Gewalt entgegen zu halten. Aber jenseits der schmalen Straße in dem Hofe der damaligen Propstei stand derzeit ein mächtiger Kastanienbaum, dessen Zweige zu den Fenstern der Tertia und der danebenliegenden Sekunda hinüberreichten. Wie oft, wenn es draußen Frühling war, flogen meine Gedanken über den Nepos, oder später über den Ovid hinweg und schwärmten drüben mit den Bienen um die weißen rotgesprenkelten Blütenkerzen, die aus den jungen lichtgrünen Blättern emporgestiegen waren.

Aber weiter, – weiter! Hier noch den kurzen Baumgang hinab, und schon sehe ich die Totenkränze an den Kreuzen wehen und die weißen Bänder flattern. Die Ulmen an der Seite des Kirchhofes ächzen und schlagen ihre nackten Zweige an einander, wie der Sturm ihnen die letzten Blätter abreißt und sie weithin über die Gräber wirft. Wie wüst dort im Nordwest das Meer am Horizonte aufsteigt! Ich lese die Inschriften der Leichensteine: „Du warst, wirst sein, wirst nie vergehen, nie Todesraub.“

Überall dies unheimliche Wehren gegen die Vernichtung; nur hier der alte aufrechte Stein trägt einen anderen Spruch:

 

Hed Liden hier geleden,

Het Striden hier gestreden,

Ick was het Leven möd;

Ick zegg Adies min Vrienden,

Gy zelt mi niet mer vinden;

               ______

 Das Übrige bedeckt die Erde.

 

Es ist sehr einsam hier; – doch nein, da stehe ich ja an deinem Grabe, alter ehrlicher Georg, candidatus der Gottesgelahrtheit. Wie lange ist es her, dass wir unter den blühenden Apfelbäumen deines elterlichen Gartens auf dem widerspenstigen Esel Schule reiten wollten! Mir ist, als sei das nur ein Kapitel aus einer sonnigen Idylle, die ich in schöner Jugendzeit gelesen. Etwas später war es – wir waren schon Studenten – da wir am lauen Frühlingsabend über den Hamburger Wall schlenderten. Als in der Dämmerung die Frösche aus dem Graben ihre Stimme erhuben, legtest du die Hand auf meinen Arm und sagtest andächtig: „Horch nur, wie lieblich doch die Nachtigallen girren!“ Freilich, du warst ein Sohn unserer Küste, und selten und nur zu flüchtigem Besuche kehrt Philomele bei uns ein; denn sie weiß es wohl, dass ihre Liebesklage von dem Brausen der großen Naturorgel verschlungen wird, die Boreas hier so meisterlich zu spielen weiß. Aber, dass dir auch der Frosch, der Sänger unserer Marschen, plötzlich fremd geworden war, das musste mich billig Wunder nehmen, und ich komme nachträglich auf den Verdacht, dass du die seltsamen Worte nur gesprochen hast, damit ich jenen Abend nicht vergäße, an dem sonst nichts war, als Frieden in der Natur und in unseren jungen Herzen. –Das Pfeifen ganz anderer Vögel war es, die dir bei Idstedt dein letztes Schlummerlied gesungen haben, und mit Andacht lese ich auf deinem Grabe den Spruch aus dem Evangelium Johannis, den, wie ich anderswo berichtet habe, auch der alte Landschullehrer auf seines Knaben Grabstein hauen ließ: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässet für seine Freunde.“ Für seine Freunde; möge das dein Los gewesen sein!

Und hier stolpere ich über den Hügel unseres Amtschirurgus; der Nordwest, der jetzt den Sand von seinem Grabe bläst, beunruhigt ihn nicht mehr. Ich war ihm noch begegnet nach meiner Heimkehr; aber schon damals hatte er seine großen Räume verlassen und begnügte sich mit einem Winkel in dem städtischen Krankenhause. Seine Seltsamkeiten hatten abgeblüht, und er war nur noch ein müde abgebrauchter Mensch, gleich allen Übrigen, die dort der Ewigkeit entgegenträumen. Hier auf der Bank am Kirchhofssteige saß er und wärmte seine Glieder in der Frühlingssonne. Als ich ihn begrüßte, stand er auf, und ich sah, wie das Alter seine hohe Gestalt gebeugt hatte. „Und was ist aus Ihren trefflichen Ratzen geworden?“ So fragte ich, nachdem die üblichen Reden eines ersten Wiedersehens zwischen uns gewechselt waren. Ich hatte eine unverharschte Wunde berührt; aus seinen kleinen Augen blickte er wehmütig auf mich herab, indem er mit seinem Stock im Sande scharrte: „Sie wissen ja; die große Brauerei nebenan; – vergiftet! alle vergiftet!“ Und er schlich von dannen mit einem Seufzer über die schöne alte Zeit; denn wie Freund Mörike sagt:

„Doch besser dünkt ja Allen, was vergangen ist.“

Aber wo bist denn du, Ludwig? Ich lebe noch, und schon finde ich dein Grab nicht mehr. Wir waren gute Kameraden; hab' ich doch einst, da wir auf dem Lübecker Gymnasium unserer Schulbildung die letzte Politur gehen ließen. meine goldene Uhr zum Pfandverleiher getragen, damit in der Rolle des dottore Bartolo die Maskerade im Schauspielhause besuchen konntest! Mit dem Bambusrohr und der Pillenschachtel stapftest du wacker im Saale umher; und als der spanische Grande dich wegen der Donna Ines konsultierte, die zart und schmächtig an seinem Arme hing, da versichertest du mit großer Innigkeit, dass die Dame nur an den Würmern leide; was dir seltsamer Weise mehr Entrüstung als Dank von dem Gemahl der hohen Patientin eintrug. – Auch eine Maskerade war es, die wir Beide wenige Jahre später in unserer grauen Küstenstadt veranstalteten. Dein Name stand neben dem meinigen auf dem Einladungsbogen; aber als der Abend des Festes herangekommen war und die Masken sich durch einander drängten, die du mit mir berufen, da hattest du dich so tief vermummt, dass dich Niemand zwischen ihnen zu finden vermochte; und auch später bist du niemals wieder zum Vorschein gekommen. – –

Aber es wird schon dämmerig; mir ist, als höre ich zwischen dem Brüllen des Sturmes das gewichtige Wort des alten Jobst Sackmann, das bei jeder Wiederkehr immer dröhnender ins Gehör fällt: „Wo is he bleven? – Wo is he bleven? – Mortuus est!“

Ich will nach Hause gehen. Die eiserne Kirchhofstür fällt klirrend hinter mir ins Schloss; die lange Straße, die nach meiner Wohnung führt, ist noch so öde wie zuvor. Aber dort sehe ich eine weibliche Gestalt mit dem Winde kämpfen; und wie wir uns einander nähern, bemerke ich mit Verwunderung, dass sie einen maigrünen Sonnenschirm in der Hand hält. Unter einem lila Seidenhütchen mit Blumen hängen lange braune Locken auf die Schultern herab. Und jetzt erkenne ich sie! In meiner Erinnerung taucht ein Erkerfenster auf mit Reseda und Geranienstöcken, hinter denen ein junges Mädchen an einer Stickerei zu sitzen pflegte. Wie tief zogen wir Primaner unsere Mützen, um einen Aufschlag dieser Augen, ein Erröten dieses frischen Antlitzes zu erhaschen! – Auch jetzt ziehe ich den Hut. Ein ältliches maskenartiges Gesicht verzieht sich zu einem verbindlichen Lächeln, und mit altjüngferlichem Knix geht die Gestalt an mir vorüber.

 

O meine Muse, war das der Weg, den du mich führen wolltest? Die sommerlichen Heiden, deren heilige Einsamkeit ich sonst an deiner Hand durchstreifte, bis durch den braunen Abendduft die Sterne schienen, sind sie denn alle, alle abgeblüht?

Es ist ein melancholisches Lied, das Lied von der Heimkehr.

 

Quellen

LL 4, S. 159-174; Kommentar S. 665-678.

Nach der Rückkehr Storms aus dem preußischen Exil in seine schleswig-holsteinische Heimat war der Poet in eine Schaffenskrise geraten; das hatte mehrere Ursachen. Zum einen forderte der berufliche Neuanfang nach dem Sieg preußischer und österreichischer Truppen über Dänemark in Husum Storms ganze Arbeitskraft, zum anderen stürzte ihn der Tod seiner ersten Frau Constanze am 20. Mai 1865 in eine ernste Lebenskrise, die er erst allmählich nach seiner Vermählung mit der Jugendfreundin Dorothea Jansen überwinden konnte.

Im Frühjahr 1870 begann er mit der Arbeit an den „Zerstreuten Kapiteln“ und experimentierte mit einer neuen Schreibweise, in der er realistische und humoristische Elemente miteinander verband und autobiographische in fiktionale Texte übergehen ließ. Anders als in seinen bisherigen Novellen bildeten in dem Projekt der „Zerrstreuten Kapitel“ die Stadt Husum und ihre Umgebung die einzige Klammer. Neben kulturhistorischen Skizzen verband Storm auch den Gedichtzyklus der „Neuen Fiedellieder“ und die beiden Novellen „Eine Halligfahrt“ und „Draußen im Heidedorf“, die keinen inneren Zusammenhang mit den übrigen „Zerstreuten Kapiteln“ aufweisen.

Als erster Text für das geplante Buch „Aus der grauen Stadt am Meer“ entstand im Frühjahr 1870 die Erzählung „Der Amtschirurgus – Heimkehr“

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Lena Wies

Aber an deinem niedrigen Häuschen kann ich nicht so vorübergehen, du liebreiche Freundin meiner Jugend, die du wie Scheherezade einen unerschöpflichen Born der Erzählung in dir trugst. – Ich will eine Gänsefeder nehmen; die weiße Fahne soll nicht gestutzt werden, und das gesellige vogelartige Gezwitscher, das sie, ihres Ursprungs eingedenk, beim Schreiben hören lässt, soll mich an vergangene Zeit gemahnen, während ich dies zu deinem Gedächtnis niederschreibe.

Noch stehen die steinernen Bänke vor dem Hause, noch die gemalten Schwarzbrode, das Zeichen des Betriebes, auf dem einen Fensterladen; und, wenn man die Haustür mit den dicken grünen Glasscheiben aufstößt, so schellt die Glocke, und hinten im Backhause lässt „Perle“ seine Stimme erschallen; denn – der Hund ist tot; es lebe der Hund; der Hund stirbt nicht! – Aber es ist nicht mehr der „Perle“ meiner Jugend.

Wie manchen Herbst– und Winterabend bin ich nach diesem kleinen Hause gegangen. – Gegangen? – Nein, gelaufen, gerannt! – Es gab damals in unserer Stadt noch keine Straßenbeleuchtung; aber desto mehr Gespenster; „es übte vor“, es „jankte“ draußen im „Austrom“, im Schlosse wurde Nachts eine kleine braune Frau gesehen. Und das Alles wurde mit jedem Abend bei mir lebendig, und meine kleine Handlaterne warf zweifelhafte Lichter auf die unbewohnte Plankenstrecke, die in jener Straße zu passieren war. Hatte ich glücklich das Haus erreicht, so stürzte ich fast die Tür ein; die Glocke läutete, hinten im Backhause riß Perle an der Kette und erhob ein wütendes Gebell.

Atemlos stand ich vor dem kleinen hitzigen Gesellen, der nun freudewinselnd an mir aufstrebte. Kräftig dufteten die frischen Roggenbrode, welche reihenweise auf den Wandgestellen lagen; und nebenan in der offenen Kammer stand die alte Mutter Wies am Backtroge, mit dem Ansäuern des Teiges für den morgenden Tag beschäftigt. Im Backhause selbst drängte sich eine Schar von Nachbarskindern, welche, mit irdenen Schüsseln in der Hand, auf die Austeilung der Abendmilch warteten; denn auch eine Milchwirtschaft wurde hier mit vier oder fünf schweren Marschkühen betrieben.

„Lena noch nicht fardig?“ fragte ich auf Plattdeutsch; und die alte Frau hielt im Kneten inne, und ihre noch immer schönen Augen blickten mit großmütterlicher Zärtlichkeit auf mich.

Nein, Lena und Vater Wies waren noch im Stall beim Melken.

Schnell war meine Handleuchte ausgeblasen und auf den Tisch gestellt; dann ging's über den dunklen Steinhof und in den alten niedrigen Stall hinein, durch den übrigens im Sommer der Weg zu einem seltsam stillen Garten voll roter Zentifolien und kleiner süßer Stachelbeeren führte. – Wie ein kleiner Privilegierter dünkte ich mich den armen Nachbarskindern gegenüber, die beim Schein des dünnen Talglichts ruhig auf ihrem Platze bleiben mussten, bis sie ihr herkömmliches Quantum Milch zugemessen erhalten hatten.

Unter dem Boden des Stalles hing eine Hornleuchte; aber es war kein Licht, sondern nur eine Art leuchtenden Dunstes, den sie in einem engen Kreise um sich her verbreitete. Und doch, für welch' trauliche kleine Welt war sie der Mittelpunkt!

Aus dem Dunkel, wo die Kühe an ihren Raufen wiederkäueten, klang es mir leibhaftig wie der alte Volksreim entgegen:

 

„Stripp, strapp, stroll

Is de Ammer nich bald voll?“

 

Ich rief ihn denn auch lustig in das Dunkel hinein, und:

„Geduld überwindet Schweinebraten!“ kam sogleich von dort her die heitere Stimme meiner Freundin Lena an mich zurück, und unter einer anderen Kuh heraus scholl als Begleitung im Grundbass das behagliche Lachen von Vater Johann Wies.

Lena regierte mich mit scherzenden Worten, ja bloß mit ihren klugen Augen sicher genug; und so warf ich mich geduldig neben der Tür auf einen Haufen Heu, während seitwärts auf der Hühnerleiter der Hahn mit seinen Hennen im Traume kakelte und von den Kühen her der Strich des Melkens eintönig hervorklang, nur mitunter durch einen Zuruf unterbrochen, wenn die Bläß oder die Schwarze etwa nicht ordnungsmäßig Stand hielten.

Endlich mit schwerem Eimer und heißem Gesicht, trat Lena in den Leuchtkreis der Laterne, und bot mir freundlich guten Abend. Sie war von kleiner Statur; ihre Gesichtszüge – sie mochte in meiner Knabenzeit etwas über dreißig Jahre zählen – ließen erkennen, dass sie einst ungewöhnlich wohl gebildet gewesen sein müssten; aber die Blattern hatten das Kindergesicht auf das Unbarmherzigste zerrissen, als wenn, nach dem Volkswitz, der Teufel Erbsen darauf gedroschen hätte. Sie selber meinte freilich, am Ende müsse sie noch eitel werden; denn: „So'n Bildhauerarbeid ward nu nahgrad wat Rares!“ – Nur die schönen braunen Augen blickten unversehrt; und sie gehören mit zu den Sternen, die über meiner Kindheit standen, und mitunter in dunklen Stunden glaube ich sie noch jetzt zu sehen, obgleich auch sie erloschen sind.

Während nun Lena den Milchverkauf besorgte, hatte „Vader“ den Kühen ihr letztes Futter vorgeworfen, „Moder“ in ihrem Troge den Teig zusammengeballt und sorgsam zugedeckt; ich selbst war schon vorher in die Wohnstube gewiesen, in jenen engen aber traulichen Raum, in welchem ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört habe. Fast immer, so wenigstens scheint es mir jetzt, blühten hier auf den Fensterbrettern die roten Winter-Levkojen; meine Blicke aber gingen nach dem eisernen Beileger-Ofen, der an der Wand gegenüber zwischen den beiden verhangenen Alkoven–Betten stand und für mich einen Gegenstand der anziehendsten Betrachtung bildete; denn nicht allein, dass sich auf der vordersten Platte, wie nach einem Dürer'schen Holzschnitt, die Verkündigung Mariä dargestellt zeigte, dass er an den Seiten und oben an beiden Ecken mit blankpolierten Messingknöpfen geziert war, welche ich, aller Warnung unerachtet, nicht unterlassen konnte vielfach abzuschrauben und mir fast eben so oft auf die Füße zu werfen; er strömte auch, was nicht jeder Ofen von sich sagen kann, einen leckeren Duft aus, welcher, mit dem der Levkojen vermischt, noch jetzt in meiner Erinnerung diesen Raum erfüllt, und war überdies allezeit von einer sanften Hausmusik umgeben. Das Erstere hatte seinen Grund in einer Schüssel, je nachdem mit Waffeln Pfeffernüssen oder Bratäpfeln gefüllt, die unfehlbar unter dem blanken Messingstülp auf der Ofenplatte warm gehalten wurden; und da von der dem Backhause nahen Küche aus geheizt wurde, so mangelte es von dort her nie am Gesange der Heimchen, der gesellig in das Zimmer hineinklang.

Ich muss hier, obgleich es einen nicht zu beseitigenden Vorwurf für ihn enthält, bekennen, dass mein alter Freund Johann Wies, ich weiß nicht weshalb, ein unerbittlicher Verfolger dieser musikalischen Tierchen war. Oft, wenn er mit seinem ehrwürdigen Gesicht unter der blauen Zipfelmütze, mit den friedlich gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl saß, habe ich ihn darauf ansehen müssen, wie doch der gute alte Mann so grausamer Dinge fähig sein könne.

Aber jetzt dachte Johann Wies an keine Heimchenjagd: unter dem Schutze der Dunkelheit sangen sie sicher in ihrem warmen Backhause; und während ich ihnen unter der alten Wanduhr zuhörte, die bescheiden dazu den Takt schlug, war auch schon Lena hereingetreten, von der Arbeit gesäubert, in frischer weißer Mütze mit schmalgefälteltem Strich, und setzte Teegeschirr und Abendbrot auf den mit Wachstuch überzogenen Tisch, der dicht unter Mariä Verkündigung und den blanken Messingknöpfen seine Stelle hatte; bald kamen auch die beiden Alten, und nahmen je zu einer Seite des Ofens ihren Platz. Mutter Wies, die vom Lande war, trug ihr graues Haar unter ein Käppchen zurückgestrichen, wie man es früher bei unseren Bäuerinnen sah; ihre fleißigen Hände waren, wovon an unserer Küste das Alter selten verschont bleibt, mit Gichtknoten besetzt und zitterten, wenn sie die lasse an den Mund führte; gleichwohl, sobald wir unsere Mahlzeit beendigt hatten, holte sie ihr Spinnrad aus der Ecke, und dem Tagewerk folgte nun noch das Werk des Abends. – Dann wurde der duftende Teller aus seinem Versteck unter dem Messingstülp hervorgezogen, und Johann Wies lehnte sich behaglich in seinen Lehnstuhl zurück. Auch ich saß oder vielmehr ritt auf einem solchen; denn es war eine von jenen nun verschwundenen Raritäten, die dem Sitzenden die eine Ecke entgegenstrecken; und zwar war er, mir unvergesslich, mit einem bunten Flickenpolster ausgestattet.

 Und dann – ja, dann erzählte Lena Wies; und wie erzählte sie! – Plattdeutsch, in gedämpftem Ton, mit einer andachtsvollen Feierlichkeit; und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten Nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonstwie aufgelesene Geschichte sein, Alles erhielt in ihrem Munde sein eigentümliches Gepräge und stieg, wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig vor den Hörern auf. Oftmals griff die alte Mutter in ihr Rad und ließ es stille stehen, oder nickte aus seiner Ecke Johann Wies behaglich blinzelnd herüber; und dazu tickte die Uhr und sangen aus der Ofenwand die Heimchen; mitunter an Herbstabenden – und dann war es am allerschönsten – rauschten auch noch von fern die Lindenbäume, die drüben jenseit der Gasse hinter einer Gartenplanke standen; – wie weit dahinter lag dann die ganze Alltagswelt! In den Pausen wurden zwar auch die Pfeffernüsse und die Bratäpfel keineswegs verschmäht; aber lange hielt ich doch nicht Ruhe, und Lena war eben so unerschöpflich, als ich unersättlich war; sie legte wieder die Hände in einander und, den Kopf ein wenig übergebeugt, begann sie eine neue Geschichte, wobei sie langsam die Daumen um einander bewegte. – Später, als ich selbst dergleichen Dinge ersann und niederschrieb, sandte ich ihr wohl das eine oder andere Buch; und sie hat dann lächelnd geäußert, das hätte ich von ihr gelernt.

Aber nicht nur die Kunst des Erzählens, auch die Achtung vor ernster bürgerlicher Sitte lernte ich in diesem guten Hause. – Ein kleiner Vorfall ist mir unvergesslich geblieben. Die Tochter aus einer angesehenen Familie hatte sich mit einem Cavalier verlobt, dessen Aufführung man nicht das beste Zeugnis geben wollte; die kleine Stadt war voll davon, in und außer den Häusern wurde in Ernst und Spott darüber geredet, und auch an unserem Teetisch kam das Gespräch darauf. Da, in knabenhafter Unbedachtsamkeit und da es mich drängte, doch auch mein Teil dazu zu geben, entfuhr mir ein wenig sauberes Wort, das ich, Gott weiß wie, von der Gasse aufgelesen hatte. – Augenblicklich stockte die bisher lebhafte Unterhaltung, Lena sah auf den Tisch und fegte ein paar Pfeffernusskrumen mit der Hand zusammen, und erst nach einer längeren Pause blickte sie wieder auf und sprach, als sei nichts vorgefallen, von anderen Dingen. Ich glaube kaum, dass ich jemals so beschämt gewesen bin, und noch später als erwachsenen Mann überkam mich, wenn ich daran dachte, das unbequeme Gefühl einer empfangenen und wohlverdienten Züchtigung.

Dergleichen Zurechtweisungen beeinträchtigten indessen weder meine Zuneigung noch das sichere Gefühl, der Liebling des Hauses zu sein; war doch die zweite sehr geliebte Tochter, welche derzeit in einer fernen Großstadt in guten Verhältnissen verheiratet war, die treue und langjährige Pflegerin meiner Kinderzeit gewesen. Viel zu früh erschien jedesmal der Kutscher meiner Eltern, um mich nach Hause zu holen, oder schlug es, als ich später meinen Weg allein finden musste, von der alten Wanduhr zehn. Ich weiß noch wohl, wie ich in der letzten Viertelstunde mit Lena kämpfte, ob nicht noch Zeit sei für wenigstens eine ganz kleine Geschichte, und wie es dann plötzlich in der Uhr einen Ruck tat und die Warnung vor dem Stundenschlage alle meine Hoffnungen zunichte machte. Dann aber galt es nach Hause zu kommen; und das „Vorüben“ und das „Janken“ drüben in der Au, Alles konnte mir unterwegs begegnen; dazu waren die Lichter in den Häusern schon ausgetan, denn die Straße wurde meist von sogenannten kleinen Leuten bewohnt, welche, wenn der Tagelohn verdient war, früh zur Ruhe gingen. So legte ich mich denn aufs Betteln, und ließ nicht nach, bis Lena die Kommodenschublade aufgezogen und ihr Umschlagetuch herausgenommen hatte. – Wenigstens bis an das Ende der bösen Plankenstrecke musste sie mich begleiten; aber auch dann noch ließ ich sie nicht los; zum Mindesten musste sie stehen bleiben und hinter mir her, und zwar recht laut, ein paar Mal „gute Nacht“ rufen, bis ich spornstreichs, mein flimmerndes Laternchen in der Hand, um die nächste Straßenecke schwenkte; denn von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Hause meiner Eltern. – Alles dies hat viele Jahre so gedauert; und frisch und erquickend ist mir die Erinnerung an jene Menschen geblieben, denen ich so viele glückliche Stunden meiner Jugend verdanke. Allmählich aber ging die Zeit dahin; ich verließ unsere Stadt, um die Studien für meinen künftigen Beruf zu beginnen; sie blieben in ihrem Häuschen und trieben es in alter Weise fort.

Dann eines Tages kam der Tod, nahm Vater Wies aus seinem Lehnstuhl und legte ihn in ein noch bequemeres Ruhebett; und als ich nach Jahren heimgekehrt war und schon mein eigenes Haus begründet hatte, ergriff er auch die arbeitsame Hand der alten Mutter, zog sie von ihrem Backtroge und ihrem Spinnrade fort und hieß uns, sie auf dem schönen grünen Kirchhof zur Ruhe legen, wo von der See her die kühlen Lüfte über die Gräber wehen. –

Lena war nun allein; aber sie nahm eine junge Verwandte ins Haus und setzte mit deren Hülfe den elterlichen Betrieb fort. Oftmals in der schönsten Sommerzeit, wenn hinten in ihrem Gärtchen die Zentifolien blühten, kamen aus der großen Stadt die Schwester oder deren Kinder auf Besuch; dann wurde es lebendig in dem niedrigen Häuschen; Kammern und Herzen, Alles voll Sonnenschein. – Aber auch diese jüngere Schwester sollte sie überleben. Als ich auf die Todesnachricht zu ihr ging, fand ich sie eben beschäftigt, aus Schubfächern und Kästchen ihre Barschaft zusammenzusuchen; es sollte heute noch Alles an ihren Schwager abgesandt werden, damit – so sagte sie – die Überlebenden außer der Trauer nicht etwa noch mit der kleinen Not des Lebens zu kämpfen hätten.

Dann kam die Zeit, dass die Dänenherrschaft mich aus dem Lande trieb, und ich sah meine Freundin nur, wenn ich, in oft mehrjährigen Zwischenräumen, zum Besuch bei meinen Eltern einkehrte. Voll gesunden Zornes hoffte sie fest auf den endlichen Sieg der deutschen Sache. Dies und die Kränkungen, die sie dort von dem Übermut der feindlichen Nation erdulden musste, gaben uns jetzt den Stoff zur Unterhaltung. Als endlich bei uns die deutsche Schmach ihr Ende erreicht und ich in meiner Vaterstadt wieder einen Platz gefunden hatte, traf ich Lena Wies noch rüstig an Körper und Geist, und mit der vollen Freude der Genugtuung trat sie bei unserem Wiedersehen mir entgegen. Sie hatte es gut in ihren alten Tagen; ihre Pflegetochter hatte geheiratet, und die jungen Leute, die nun die Wirtschaft übernahmen, hegten und verehrten sie wie eine Mutter. Und wieder saß ich jetzt behaglich an ihrem Teetisch, die roten Levkojen dufteten von den Fensterbrettern noch wie sonst, sogar der leckere Kuchenteller fehlte nicht unter dem blankpolierten Messingstülp; nur dass statt des alten Ehepaares jetzt ein junges da war und statt des aufhorchenden Knaben ein schon dem Alter entgegengehender Mann. Aber die Sitte, die geistige Luft des Hauses war dieselbe geblieben, und Lena's braune Augen blickten noch so klar und klug wie immer. Sie hatte noch die Freude, aus den beiden Töchtern ihrer Schwester zwei wohlangesehene Predigerfrauen und aus ihrem einzigen Neffen einen der angeseheneren Ärzte jener großen Stadt werden zu sehen. Wiederholt und dringend wurde sie zu diesem eingeladen; aber sie meinte, sie passe nicht dahin, die Kinder könnten zu ihr kommen. Und so geschah es auch.

Der Ausgang des Lebens sollte ihr nicht leicht werden. Eine jener Krankheiten ergriff sie, die sich an den Menschen anhaften wie ein fressendes Tier, das er nicht abschütteln, noch ausreißen kann, sondern Jahre lang mit sich umhertragen muss, bis er ihm endlich erlegen ist. In ihrem letzten Lebensjahre war ich als einer der dazu erforderlichen Zeugen bei der Niederschrift ihres Testaments zugegen. Sie hatte sich zu dieser feierlichen Handlung aufs Sorgfältigste kleiden lassen, und empfing uns ernst und ruhig; ihr Antlitz schaute noch unverstellt aus der weißen Haube mit dem lila Seidenband; nur ihre Gestalt war jetzt zusammengesunken. Vorher nahm sie mich in eine Nebenkammer und sprach über ihren bevorstehenden Tod und die jetzt vorzunehmenden Verfügungen; nicht ihrer Leiden, sondern nur mit Dank der Liebe gedenkend, die sie während derselben von den Ihrigen empfangen hatte; nur eine Besorgnis äußerte sie dabei: sie fürchte, ihr sonst noch kräftiger Körper möge sie noch lange auf das Ende warten lassen.

Und lange hat es gedauert. Ihr wurde keine Qual, kein Entsetzen jener furchtbaren Krankheit erspart; aber sie blieb bis zu Ende aus dieselbe, die sie in gesunden Tagen gewesen war, ruhig in sich selbst, fürsorglich für Andere. „Lena Wies stirbt wie ein Held!“ pflegte ihr Arzt von ihr zu sagen. – Um das Hauswesen der jungen Verwandten nicht gar zu sehr mit ihrem Leid zu stören, begehrte sie in der letzten Zeit wiederholt, in eine kleine nach dem Hofe hinaus liegende Kammer gebracht zu werden. Aber freilich, für „Tante“, so lange sie noch da war, durfte nichts zu gut sein; und so blieb sie denn bei ihren Blumen, vorn in der freundlichen Stube, wo die Erinnerung aller guten Stunden ihres Lebens bei ihr war.

Mitunter während ihrer Krankheit empfing sie auch den Besuch des Ortsgeistlichen; aber Lena Wies hatte über Leben und Tod ihre eigenen Gedanken, und es lag nicht in ihrer Art, was sich durch lange Jahre in ihr aufgebaut hatte, auf Zureden eines Dritten in einer Stunde wieder abzutragen. Still und aufmerksam folgte sie den Auseinandersetzungen des Seelsorgers; dann, mit ihrem klugen Lächeln zu ihm aufschauend, legte sie sanft die Hand auf seinen Arm: „Hm, Herr Propst! Se kriegen mi nich!“ – Und er, in seinem Sinne, mag dann wohl gedacht haben: „Wehre dich nur! Die Barmherzigkeit Gottes wird dich doch zu finden wissen.“ – –

Als ich zum letzten Mal in ihre Stube trat, erschrak ich bei ihrem Anblick; denn ihr Gesicht war ganz entstellt. Meine Bewegung entging ihr nicht; aber selbst dem Tode suchte sie mit ihrer guten Laune zu begegnen. „Ja kick man mal! Wo seh ick ut!“ rief sie, scheinbar mit der alten Munterkeit, mir entgegen. – Als ich mich kaum gesetzt hatte, entstand ein Lärmen draußen vor den Fenstern. „Da hebb't se all wedder de arme Jung to'm Besten!“ sagte sie; und krank und sterbend, wie sie war, ging sie aus der Stube und hinaus auf die Gasse. – Es war ein blödsinniger Knabe aus der Nachbarschaft, der sich vergebens gegen ein Rudel übermütiger Jungen zu wehren suchte. Bald aber hörte ich draußen vor der Haustür die gelassene Stimme meiner Freundin, und sah durch's Fenster, wie still und beschämt die Ruhestörer aus einander schlichen.

„Se hebben noch immer so väl Respekt vör Tante“, sagte, nicht ohne einen gewissen Stolz, die junge Frau, die neben mir am Fenster stand. – –

Das war das letzte Mal, dass ich Lena Wies gesehen habe. Noch einige, schwerste Leidenswochen folgten; dann hat auch sie das trauliche Häuschen mit dem engen Kirchhofsgrab vertauscht, in dem sie jetzt bei ihren Eltern ruht.

–– Mitunter an stillen Sommervormittagen besuche ich die alten Freunde meiner Jugend und lese die Inschrift auf ihrem Grabkreuze. Auch hier singen dann die Grillen; aber es sind nicht die Heimchen des häuslichen Herdes, und Geschichten werden bei ihrem Gesange nicht erzählt.

 

Quellen

LL 4, S. 175-185; Kommentar S. 679-685.

Der Text entstand im Zusammenhang mit Storm ersten Arbeiten für die „Zerstreute Kapitel“ Im Jahre 1870, wurde dann aber aus dem Komplex herausgelöst und 1873 in der Zeitschrift „Deutsche Jugend“ veröffentlicht.

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Ferien*

So sind denn morgen schon 14 Tage der Ferien glücklich durchgebracht; und das Gespenst der im Rücken gelassenen Kreisrichterei steht schon wieder in nicht zu großer Ferne vor mir. Wie fremd meinem innern Wesen der Beruf ist, in den ich) bei dem Mangel irgend einer anderen entschiedenen Befähigung durch die Verhältnisse hineingerathen bin, fühle ich erst, wenn er mir eine Zeit lang fern gerückt gewesen ist. Ich empfinde ein förmliches körperliches Grauen davor. Soll ich mich aber zu neuer Amtsthätigkeit stärken, so muß ich baldmöglich wieder bei Dir sein; denn mein Gemüth kommt nicht eher zur Ruhe. Ich habe, seit ich die Briefe an Dich wegschickte, ein paar mal die halbe Nacht in unsinnigen Selbstquälereien hingebracht.

Dass ich mich körperlich dabei nicht wohl befinde, und dass mir Alles grau ist, was mit Dir mich gefreut und mir wohl getan haben würde, das weißt Du wohl, da Du mich kennst. Körperliche Trennung ist mir für den Augenblick wie Tod; mir ist mitunter als würde ich Dich niemals mehr erreichen können; als sei Alles, das Leben und die Liebe, dem Zufall preisgegeben.1 Stolle meint freilich zwischen Eheleuten existiere nur noch Freundschaft, keine Liebe mehr; aber was ist es denn, dass meine Gedanken unaufhaltsam um Dich sind in Sorge und Sehnsucht, dass mich keine Freude freut, die Du nicht mit erlebst! Wenn auch Du mich nur ein wenig so vermisstest, dann würde ich auch wohl Briefe von Dir erhalten, die mir das brächten, wonach mein Herz dürstet, und was ich nimmer finde, wenn ich das Siegel gebrochen habe. Das Gefühl des Erstickens befällt mich, wenn meiner Empfindung aus Deinem von Stunde zu Stunde ersehnten und endlich angelangten Briefe nichts entgegenkommt. Bei jedem Briefe hoffe ich immer, es werde sein, als legtest Du die Arme um meinen Hals und ruhtest einen Augenblick bei mir aus im stillen Einverständnis; und wenn ich dann nach langem Harren ein paar dürftige beiläufig hingeworfene Zeilen erhalte; wenn ich fühle, dass Du nur den Abfall einer Stunde für mich hast, während ich mein ganzes Leben auf Dich beziehe, dann falle ich in eine Raserei, wovon meine letzten Briefe Zeugnis geben.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 28.7.1859; in: Br. Constanze Storm, S. 142f.

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Besuch in Altona*

Meine süße Frau, ich halts doch mit dem Schreiben nicht bis Glückstadt aus, zumal ich wegen Dinorah1 erst Dienstag dahin reise, und dann Donnerstag nach Husum.

Hier leb ich als gernst gesehner Gast höchst angenehm; übrigens lösen wir uns fast ganz in Musik auf; wenn Herrmann, Ludwig und Carl Abends nach Haus kommen, dann gehts los unaufhaltsam bis tief in die Nacht und Friedrike, die vortrefflich begleitet ist unermüdlich, und wenn Herrmann mit seiner wunderbar zugleich klangvollen und zarten Bassstimme, und seinem ruhigen vornehmen Vortrag „O Isis und Osiris“ singt, da hört wirklich Verschiednes auf. Nach Mitternacht geht zwar das elterliche Ehepaar zu Bett, lässt aber alle Türen auf, um noch ein Stündchen zuzuhören.

Indessen griff mich diese Wirtschaft zu sehr an; und gestern macht ich ein Punktum und ging bald nach 10 zu Bett. So werd ich auch heut und morgen tun. Am Abend meiner Ankunft (10 ½ U.) fuhr ich gleich zu Scherffs, wo ich auch erwartet wurde; und bin noch alle Abende da gewesen, auch erst zweimal nach Hamburg gelaufen; zu Koopmann werde ich wohl morgen kommen, die Hilmers ist nicht hier und mit Speckter scheint dies auch der Fall zu sein, da er auf meinen Brief4 nicht geantwortet.

Freitag war Friedrikes Geburtstag, zu dessen Feier Bertha u. Therese anhero gelangten. Meine alte Flamme6 sah wirklich recht hübsch und interessant aus, und war auch nett und liebenswürdig gegen mich, obgleich ein Etwas in mir in ihr die fromme selbstgerechte alte Jungfer heraus fühlte. Himmel, wenn das meine Frau geworden wäre! Ich muß nun noch einmal zu ihnen, B. krakehlte mich gestern deshalb brieflich an. Seltsam und vielleicht natürlich, von Dir scheint sie mit mir auch dies Mal nicht reden zu wollen. –

So eben kommt ein allerliebster Speckterscher Junge und bringt mir aus Hamburg einen liebenswürdigen Brief seines Vaters. Er hatte meinen Brief zu spät erhalten; ich werde nun Dienstag Vormittag zu ihm gehn. Er habe ein Ölbild zu Bulemanns Haus gemalt, schreibt er mir, das er mir zeigen wolle. Die Rattenwirtschaft von Speckters Hand muss nicht übel sein, wenn nur die für das Kind erforderliche Grazie nicht fehlt.

Heut Vormittag wollen wir in das Glashaus des Hamburger botanischen Gartens gehen, um die victoria regia blühen zu sehen. Das Wetter scheint wenigstens trocken zu werden. Sonst ist es unter diesen liebenswürdigen Menschen auch im Hause angenehm; es ist mir schon ein Vergnügen durch diese Suite hoher heller Zimmer zu spazieren.

Scherffs wohnen jetzt wundervoll, und doch billiger (750 M.) als vorig Jahr. Drei große Wohnzimmer Front, und daran das Übrige.

Für Hans hab ich gestern beim Elfenbeinschnitzer einen Federhalter (zu 2 M. – 2

M. 8 s) bestellt, einen Eichbaumast, woran ein Eichhörnchen

hinaufklettert; vielleicht geb ich es Großmama, um es für den Weihnachtstisch auf

zu sparen; und nehm ihm jetzt Münchner Bilder10 mit.

 

Quellen

Theodor Storm an Constanze Storm, Brief vom 28.8.1860; in: Br. Constanze Storm, S. 145f.

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Von Kindern und Katzen, und wie sie Nine begruben

Mit Katzen ist es in früherer Zeit in unserem Hause sehr „begängig“ gewesen. Noch vor meiner Hochzeit wurde mir von einem alten Hofbesitzer ein kleines kaninchenblaues Kätzchen ins Haus gebracht; er nahm es sorgsam aus seinem zusammengeknüpften Schnupftuch, setzte es vor mir auf den Tisch und sagte: „Da bring ich was zur Aussteuer!“

Diese Katze, welche einen weißen Kragen und vier weiße Pfötchen hatte, hieß die „Manschettenmieße“. Während ihrer Kindheit hatte ich sie oft, wenn ich arbeitete, vorn in meinem Schlafrock sitzen, so dass nur der kleine hübsche Kopf hervorguckte. Höchst aufmerksam folgten ihre Augen meiner schreibenden Feder, die bei dem melodischen Spinnerlied des Kätzchens gar munter hin und wider glitt. Oftmals, als wolle sie meinen gar zu großen Eifer zügeln, streckte sie auch wohl das Pfötchen aus und hielt die Feder an, was mich dann stets bedenklich machte, und wodurch mancher Gedankenstrich in meine nachher gedruckten Schriften gekommen ist.

Die Manschettenmieße selber ist, wie ich fürchte, durch diesen Verkehr etwas gar zu gebildet geworden; denn da sie endlich groß und dann auch Mutter manches allerliebsten kaninchengrauen Kätzchens geworden war, verlangte sie, gleich den feinen Damen, allezeit eine Amme für ihre Kinder; und da die Nachbarskatzen sich nur selten zu diesem Dienst verstehen wollten, so sind fast alle ihre kleinen Ebenbilder elendiglich zu Grunde gegangen. Nur einen kleinen weißen Kater zog sie wirklich groß, welcher wegen seines grimmigen Aussehens „der weiße Bär“ genannt wurde und nachher aber eine Katze war.

Später, da schon zwei kleine Buben lustig durch Haus und Garten tobten, waren drei Katzen in der Wirtschaft: nämlich außer den vorbenannten noch ein Sohn des weißen Bären, genannt „der schwarze Kater“, ein großer ungebärdiger Geselle; vielleicht ein Held, aber jedenfalls ein Scheusal, von dem nicht viel zu sagen, als dass er, besonders in der schönen Frühlingszeit, unter schauderhaftem Geheul gegen alle Nachbarskater zu Felde lag, daß er stets mit einem blutigen Auge und zerfetztem Fell umherlief und außerdem noch seine kleinen Herren biß und kratzte.

Von der Großmutter, der Manschettenmieße, die nachmals ganz berühmt geworden ist, wäre noch vielerlei zu berichten; da sie aber in der Geschichte, die ich hier am Schluss erzählen will, nur ein einzig Mal „Miau“ zu sagen hat, so soll's für eine schicklichere Gelegenheit verspart sein.

Es geschah aber, dass unser mit drei Katzen also stattlich begründetes Heimwesen durch den hereingebrochenen Dänenkrieg gar jämmerlich zu Grunde ging; meine beiden Knaben, und noch ein kleiner dritter, der hinzugekommen war, mussten mit mir und ihrer Mutter in die Fremde wandern, und, so gastlich man uns draußen aufnahm, es war doch in den ersten Jahren eine trübe, katzenlose Zeit.

Zwar hatten wir ein Kindermädchen, welches Anna hieß; ihr gutes rundes Gesicht sah allzeit aus, als wäre sie eben vom Torf–Abladen hergekommen, weshalb die Kinder sie die „schwarze Anna“ nannten; aber eine Katze in unser gemietetes Haus zu nehmen, konnten wir noch immer nicht den Mut gewinnen. Da – drei Jahre waren so vergangen – kam von selber eine zugelaufen, ein weiß und schwarz geflecktes Tierchen, schon wohlerzogen und von anschmiegsamer Gemütsart.

Was ist von diesem Käterchen zu sagen? – Zum mindesten der Pyramidenritt.

Da nämlich den beiden größeren Buben das gewöhnliche zu Bette gehn doch gar zu simpel war, so hatten sie's erfunden, auf der schwarzen Anna zu Bett zu reiten; derart, dass sie dabei auf ihrer Schulter saßen und die kleinen Kinderbeinchen vorn herunterbaumelten. Jetzt aber wurde das um vieles stattlicher; denn eines Abends, da sich die Tür der Schlafkammer öffnete, kam in das Wohnzimmer zum „Gute Nacht“ sagen eine vollständige Pyramide hereingeritten: über dem großen Kopf der schwarzen Anna der kleinere des lachenden Jungen, über diesem dann der noch viel kleinere Kopf des Käterchens, das sich ruhig bei den Vorderpfötchen halten und dabei ein gar behaglich und vernehmbares Spinnen ausgehen ließ. – Dreimal ritt diese Pyramide die Runde in der Stube, und dann zu Bett.

Es war sehr hübsch; aber es wurde der Tod des kleinen Katers. Die guten Stunden, die er nach solchem Ritt zur Belohnung im Federbett bei seinem jungen Freunde zubringen durfte, hatten ihn so verwöhnt, dass er eines scharfen Wintermorgens, da er am Abend ausgeschlossen worden, tot und steifgefroren im Waschhause aufgefunden wurde.

Und wieder kam eine stille, katzenlose Zeit.

Aber, wo fände sich nicht eine Aushülfe! Ich konnte ja vortrefflich Katzen zeichnen; – und ich zeichnete! Freilich nur mit Feder und Dinte; aber sie wurden ausgeschnitten und aus dem Tuschkasten sauber angemalt: Katzen von allen Farben und Arten, sitzende und springende, auf Vieren und auf Zweien gehend, Katzen mit einer Maus im Maule und einem Milchtopf in der Pfote, Katzen mit Kätzchen auf dem Arme und einem bunten Vöglein in der Tatze; den Preis über alle aber gewann ein würdig blickender grauer Kater mit rauem, bärtigem Antlitz. Ihm wurde in einer Kammer, wo die Kinder spielten, aus Bauholz ein eignes Haus mit Wohn– und Staatsgemächern aufgebaut. Viel Zeit und Mühe war darauf verwandt worden; deshalb erhielt es aber auch das Vorrecht, vor dem zerstörenden Eulbesen der Köchin durch strenges Verbot geschützt zu werden. Es hieß „das Hotel zur schwarzen Anna“; und „der alte Herr“, welchen Namen der Graue sich gar bald erworben hatte, hat lange darin gewohnt. Selten nur verließ er seine angenehmen Räume; desto lieber, da es ihm an Dienerschaft nicht fehlte, versammelte er bei sich die Gesellschaft seiner Freunde und Freundinnen. Dann ging es hoch her; wir haben oft durch’s Fenster eingeguckt. Fetter Rahm in Tassenschälchen, Bratwürstchen und gebratene Lerchen wurden immer aufgetragen; den Ehrenplatz zur Rechten des Gastgebers aber hatte allezeit ein allerliebstes weißes Kätzchen mit einem roten Bändchen um den Hals; ob es eine Verwandte oder gar die Tochter desselben gewesen, haben wir nicht erfahren können.

Außer solchen Festen lebte übrigens der alte Herr still für sich weg; nur manchmal liebte er es, aus seinem Hause auf die Spiele der Kinder in der Kammer hinabzublicken, wozu er die bequemste Gelegenheit hatte, da das Hotel „zur schwarzen Anna“ auf einer Fensterbank erbaut war. Dann stieß wohl eins der Kinder das andere an und flüsterte: „Seht, seht! Der alte Herr steht wieder einmal am Fenster!“

Auch seinen Geburtstag sollte er noch erleben. Zu diesem Feste, an welchem alle Kater und Katzen sich zur Gratulation versammeln sollten, bekam ich den Auftrag, sein Brustbild in Lebensgröße zu malen, was dann auch wirklich am Morgen des Festtages, in einen breiten Gold–rahmen gefasst, im Saale des Hotels aufgehangen wurde.

Aber es nimmt Alles einmal ein Ende. – Da wir eines Morgens aufgestanden waren, fanden wir ihn tot in seinem Bette. Ob er bei dem letzten leckeren Mahle sich zu viel getan, ob die ihm zugemessene Lebensdauer abgelaufen war; – so viel steht fest, was wir hier vor uns sahen, war nur noch seine entseelte Hülle.

Also wurde ein Schächtelchen mit schwarzem Papier beklebt und ausgeschlagen, und so ein Sarg daraus gemacht. Der alte Herr wurde hineingelegt und stand zur Parade in dem großen Saale des Hotels, wo von der Wand sein noch in aller Lebensfülle gemaltes Bildnis auf den Sarg herabsah.

Endlich wurde er auf dem Steinhofe – ach, einen Garten hatten wir da draußen nicht! – in das für ihn gegrabene Grab gesenkt und mit einem schweren Steine fest und dauerhaft bedeckt.

– – Aber wer möchte nicht gern wissen, wie die Toten aussehen! – Natürlich wurde der alte Herr nach einem halben Jahre wieder ausgegraben, sehr mit Schimmel überzogen vorgefunden, schaudernd und ganz genau betrachtet, und dann endlich noch einmal und auch zum allerletzten Mal begraben.

Für Kinder und alte Leute, welch ein erlösender Zauber liegt in dem Begraben!

In der Heimat zur Zeit der Manschettenmieße, als die zwei ältesten Knaben ihre ersten Kittel noch nicht ausgetragen hatten, als sie für den großen Garten, der am Hause war, mit eignem „Schmierzeug“ noch versehen waren, – in jener glücklichen Zeit gab es außer Katzen auch noch anderes Getier im Hause. Da war ein kleiner weißer Pudel, welcher „Bube“ hieß, aber leider trotz des Tierarztes schon früh an einer Hunde-Kinderkrankheit sterben musste; dann war da ein weißes Kaninchen, welches „Nine“ hieß, und außerdem noch eine weiße Taube, welche keinen Namen hatte, sonst aber sehr wohl „Federlos“ hätte heißen können.

In dem geräumigen Taubenschlage auf dem Hausboden hatte sie einst mit vielen schönen Gefährten, Hahnenschwänzen und Mohrenköpfen, gewohnt und sich von dort aus lustig mit ihnen über den grünen Gärten in der Luft getummelt; aber eines Nachts war der Marder eingebrochen, und sie allein blieb die Überlebende. Damit sie in dem großen leeren Schlage nicht allzu sehr die Einsamkeit empfinde, wurde das Kaninchen ihr zum Gesellen beigegeben, und da weder dieses von ihren Erbsen, noch sie die Hundeblumen–Blätter des Kaninchens begehrte, so lebten sie wie Geschwister einträchtiglich beisammen. Wenn die Taube von ihren Ausflügen heimkam, klappte Nine allzeit freudig mit den Hinterläufen; denn sie spielten dann Greif oder Haschemännchen mit einander, und da das Kaninchen sehr gut greifen konnte, so geschah es dabei ganz von selber, dass es seiner Freundin einen Mund voll Federn nach dem andern abbiss. – So wurde sie das Täubchen „Federlos“ und konnte nur noch mit den Posen fliegen.

Aber weiter kam es nicht; die Posen sollte sie behalten. Denn da die Knaben eines Morgens in den Schlag hinauf stiegen, flatterte das Täubchen Federlos zwar noch um sie herum; Nine aber lag mit ausgestreckten Vieren tot und platt am Boden.

Eilig stürmten sie die Treppen hinab und verkündeten im Wohnzimmer ihre Trauerkunde, wo ich ahnungslos bei meiner Tasse Tee saß.

Wahrscheinlich hatte Nine sich an Taubenfedern tot gegessen; indessen ich bedachte solches nicht und sagte ohne viele Umstände: „Da habt Ihr's wohl verhungern lassen!“

Ob das Gewissen der Beiden dennoch nicht ganz rein gewesen? – Aber – hilf Himmel! wie huben auf dieses Wort die kleinen Kerle an zu schreien! Kein Trost, kein Zuspruch half, die Tränen liefen ihnen stromweis über die Backen.

Da trat mein Freund, der Doktor – der als Primaner einst so schön die Klarinette spielte – in die Tür. „Hallo! Jungens, was ist da los?“

Die Augen wandten sich zu dem Sprecher, und einen Augenblick lang stockte das Geheul. „Doktor“, rief der Eine im wehmütigsten Klagelaut, „unser Nine ist tot!“

„Und wir haben es verhungern lassen!“ schrie der Andere. – Dann heulten sie Beide wieder mit vereinten Kräften.

„Jungens!“ rief der Doktor. „Euer Nine wird nicht mehr lebendig! Aber, wisst Ihr denn das nicht? Wenn es tot ist, so müsst Ihr es begraben!“

Begraben! – Das Zauberwort war gesprochen. Das Geschrei verstummte, die Tränen wurden abgewischt, ein wahres Sonnenleuchten verklärte die Gesichter der beiden Kinder. – Schon waren sie aus dem Zimmer und die Bodentreppe hinauf; und nicht lange, so kamen sie fröhlichen Angesichts mit dem Leichnam ihres Nine angezogen; der Eine hatte es an den Ohren, der Andere an den Hinterläufen. So zogen wir mitsammen in den Garten hinaus.

Als wir auf dem großen Steige waren, begegnete uns die Manschettenmieße. „Miau!“ sagte sie, indem sie stehen blieb und uns ansah.

Der Zug hielt; und die Kinder sahen sie wieder an. „Mite“, sagte der Kleine, noch einmal in seinen Klageton verfallend, „unser Nine ist tot!“

Dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung und Mite machte einen Buckel und sprang mit, um dem Begräbnis beizuwohnen.

Der Doktor hatte schon den Spaten in der Hand, und an der Geißblattlaube unter überhängenden Ulmenzweigen wurde nach reiflicher Erwägung die Stätte auserwählt. Da wurde ich von der Magd ins Haus zurückgerufen und überließ dem Doktor allein die Leitung unserer Trauerfeierlichkeit.

Drinnen im Hause erwarteten mich ganz andere Dinge. Da war ein Mann, der hatte einen bösen Schuldner, von dem er weder Kapital noch Zinsen erhalten konnte, und wir sprachen wohl eine halbe Stunde mit einander, auf welche Weise ihm zu beidem zu verhelfen sei.

Als ich dann wieder in den Garten hinauskam, war der Doktor nicht mehr da; auch der Körper des verstorbenen Nine war verschwunden, und der Spaten lehnte an der Planke. Die beiden kleinen Totengräber aber – die natürlich ihr Schmierzeug anhatten – lagen neben der Geißblattlaube auf den Knien und hatten einen kleinen seltsam glänzenden Erdhügel zwischen sich, auf dem sie Beide eifrig mit ihren rotkarierten Taschentüchern rieben.

„Was macht Ihr da?“ fragte ich, indem ich zu ihnen trat; denn diese Sache war mir völlig unverständlich.

Da guckte der Kleine auf. „Papa!“ sagte er, und sein Gesicht leuchtete so fröhlich wie droben kaum die liebe Himmelssonne, – „wir polieren Nine sein Grab mit Spucke!“

– – Und also endete dies vergnügliche Begräbnis.

 

Quellen

LL 4, S. 225-231; Kommentar S. 721-724.

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Constanze ist nicht mehr

Constanze ist nicht mehr; nachdem sie am 4. des Monats eine Tochter geboren, ist sie am 20. des Monats früh gegen 6 Uhr morgens nach schwerem Kampf, zuletzt aber sanft, ihre Hand in der meinen, entschlafen; ein Opfer unsrer Heimkehr; denn sie ist am Kindbettfieber gestorben, das hier epidemisch zu werden scheint. Am letzten Nachmittag ließ ich die vier ältsten Kinder heraufkommen und bat sie, ihnen die Hand zu geben; sie tat es schwach und schweigend; nur als Ernst hereinkam und mit bebender und daher wohl ziemlich lauter Stimme sagte: „Guten Abend, Mutter!“, sagte sie vernehmlich: „Guten Abend“ oder, wie er meint: „Gute Nacht, mein Kind, ich sterbe!“ Nachher hat sie nicht viel mehr gesagt; der Körper kämpfte wohl nur mechanisch seinen Kampf zu Ende. Ihr Todesstöhnen war hart und dauerte lange, zuletzt aber wurde es sanft wie Bienengetön; dann plötzlich, ich kann nur sagen in vernichtender Schönheit, ging eine wunderbare Verklärung über ihr Gesicht; ein sanfter blauer Glanz wandelte flüchtig durch das gebrochene Auge, und dann war Friede, und ich hatte sie verloren. Bei ihrem Sterben war auch Hans, unsre alte Freundin Käthe Feddersen, die die letzte Nacht mit mir wachte, und ihr treuer brüderlicher Arzt, unser junger Physikus, der, wie mir scheint, fast ebenso gebrochen ist, wie ich selbst. Den Tag darauf ist sie, auch von Freundeshänden, in einen Notsarg gelegt; ihren armen Kopf nahm ich in meinen Arm; so hatten wir es uns in gesunden Tagen versprochen. Heute ist sie in den großen Sarg gelegt; der geliebte Leib verwest schnell; übermorgen früh 3 Uhr wollen wir sie in unsre Gruft bringen; wenn dann die neugierige Stadt erwacht, so habe ich schon all mein Glück begraben.

So muss ich denn nun weiter leben ohne sie; muss – denn vor mir – wie es in jenem Gedichte heißt – liegt Arbeit, Arbeit, Arbeit!

Und nun die Bitte, es Menzels, Krigars, Rose Stein (mit der Bitte, es der Schwester v. Clärchen Goßler mitzuteilen), der Dengel und Löwe bekannt zu machen; ich kann diese fürchterlichen Briefe nicht hundertfach schreiben.

Herzzerreißend ist das Geschrei meiner kleinen Lucie, das zwischen dem Spielen noch immer wiederkehrt: „Ich habe keine Mutter mehr, ich habe keine Mutter mehr; und ich hatte sie doch so lieb! Sie kann nicht mehr sehen, ihre Augen sind ganz zu.“

Ich will diesen Brief schließen. Gern hielt ich Eure treuen Hände in den meinen; das geht ja denn nicht. Gedenkt meiner in dieser schweren Zeit. Sie wird auch wohl nicht leichter werden; denn ich habe das Herz verloren, an dem mein müder Kopf allein die Ruhe finden konnte.

 

Quellen

Theodor Storm an Ludwig Pietsch, Brief vom 20.5.1865: in Br. Pietsch, S. 160f.

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Reise nach Baden-Baden* (September 1865)

Ich kam um 9 Uhr morgens in Minden an, wo ich im Bahnhofshotel abstieg. Ich begab mich dann gleich zum Betriebsinspektor Polko, der in dem großen Bahnhofsgebäude eine wunderschöne Wohnung hat. Zwischen den vorspringenden Ecken des Hauses läuft ein großer Balkon, von dem man in nicht zu weiter Ferne durch die bewaldete Porta Westphalica in das weite Land hinaussieht. Im Hause ist der größte Komfort. Mann und Frau sind sehr verschieden: er der stramme, kluge Geschäftsmann, der am liebsten über öffentliche Dinge spricht, sie ganz in dem Interesse für Musik und Poesie aufgehend. Zwischen beiden ein vierzehnjähriger, netter Junge. Von beiden wurde ich äußerst herzlich aufgenommen. Elise Polko ist vielleicht eine Frau von Constanzes Alter, aber viel verblühter, als Constanze war. Wenn sie recht im Schatten saß – sie verträgt kein helles Licht –, sah ich, wie schön sie einst gewesen sein muß. Ich war viel mit ihr allein. Obgleich sie wegen eines Herz- und leider auch Halsleidens eigentlich nicht singen darf, so sang sie mir doch einige Lieder, auch das Eichendorffsche „Lorelei“ von Schumann, mit einer wahrhaft dämonischen Kraft, so daß ich bei mir selbst dachte, die singst du nicht nieder. Nachher freilich hatte sie dafür zu leiden. Am Sonntagmorgen war ich frühzeitig in der Stadt und besah mir den alten Dom, den Tag verlebte ich dann im Polko‘schen Hause.

Am Montag kam ich um 10½ Uhr abends in Frankfurt am Main bei Tycho Mommsen an und fand die allerherzlichste Aufnahme. Ganz selten prächtige Kinder hat er: drei Knaben und drei Mädchen. Vormittags ging ich ins Städelsche Museum und zu der Danneckerschen Adriane. Nachmittags fuhren wir mit dem ganzen Kindertrubel aufs Jägerhaus. (S. Goethes Faust!)

Und nun lebe ich schon fast acht Tage in dieser paradiesischen Gegend, die ich leider wegen der unerträglichen Sonnenglut nicht so recht genießen kann. Nur selten bin ich mit Pietsch, der seit sieben Wochen bei Turgeniew' ist, auf den Bergen und in den alten Schloßruinen gewesen. In diesen sind die behaglichsten Wirtschaften eingerichtet, so dass man bei einem Glase Wein auf die köstlichen Schwarzwaldberge und die wunderbar mit Gärten, Villen, Schlössern über- und durcheinander gebaute Stadt herabsehen kann. Was soll ich von Turgeniew sagen? Das muss erzählt werden. Turgeniew ist einer der schönsten Männer, die ich jemals sah, eigentlich etwas fremdartig, aber höchst liebenswürdig. Schon am ersten Abend waren wir in der Villa Viardot, die zehn Minuten von der Stadt Hegt. In einem besonderen Gebäude neben der Villa liegt der Musiksaal. Nie habe ich bei einer Frau höchste Genialität und reinstes Menschentum in solcher Herrlichkeit ausgeprägt gefunden wie bei der Viardot. Man möchte gleich vertraut mit ihr sein, wenn die imponierende Größe der Persönlichkeit nicht davon zurückhielte.

Wie alle übrigen, so sprechen auch sie und Turgeniew vollständig geläufig deutsch. Viardot selbst, ein als spanischer und französischer Literaturforscher bedeutender Mann, spricht leider nicht deutsch und ich bekanntlich nicht französisch. Das genierte mich etwas. Turgeniew sagte: „Können Sie nicht wenigstens einige französische Worte murmeln?“ Das versprach ich denn zu versuchen und brachte es auch wirklich fertig, so daß die ändern ausriefen: „Da kommt es ja heraus!“ Aber mehr kam denn auch nicht.

Als wir am ersten Abend in der Villa Viardot ankamen, waren Viardots im Theater, und nur eine Schülerin der Viardot war da, ein Fräulein von Görger. Sie ist jetzt als Primadonna für die Berliner Oper engagiert, will aber durchaus nicht fort, weil sie sich in ihrer leidenschaftlichen Liebe nicht von der Viardot trennen will. Pietsch wird sie aber par ordre du mufti mitnehmen, wenn er zurückkehrt. Wir gingen noch lange bei dem wundervollen Mondschein, der die Berge umher mit wahrem Zauberlichte umgoss, im Garten umher, besahen im Mondschein Turgeniews Schlösschen, das er sich dicht an der Villa Viardot erbauen lässt, und schöpften mit der Hand Wasser aus einer Quelle, auf die er so kindlich stolz ist. Endlich kamen Viardots und es wurde köstlicher Tee getrunken, der mir aber eine schlechte Nacht bereitete. Um Mitternacht gingen wir nach Hause.

Ich bin in dem Kur- und Trinksaale und in den Spielsälen gewesen ‒ ich habe doch eigentlich keine Vorstellung von einer solchen Wirtschaft gehabt. Diese jeunesse dorée, die man überall durch die offenen Fenster mit schönen Frauen der Pariser Demimonde bei kleinen Soupers usw. Geld vertun sieht, dies schwindelnde Genussleben der Geld- und Adelsaristokraten, wie weit liegt das ab von unserem Tagewerke und glücklicherweise auch von den schönen und bedeutenden Menschen, unter denen ich hier lebe.

Gestern (Sonntag) war musikalische Matinee bei der Viardot. Nur Fürstinnen, Prinzessinnen und Freunde des Hauses waren geladen. Vorne saß eine feine, freundliche Frau; das war die Königin von Preußen.

Niemals habe ich eine Persönlichkeit gesehen, die mir als Mensch und Künstler zugleich einen so bedeutenden Eindruck gemacht hat, wie die Viardot; es müsste denn dieser Prachtmensch Turgeniew sein. Er sagt sehr richtig von ihr: „Obgleich ihre allerdings gewaltige Stimme weder an sich schön noch jetzt mehr jung ist, so sind alle anderen Sängerinnen doch nur Singvögel gegen sie. Bei ihr hört man immer das Rauschen von Adlerschwingen.“ Ihre Kompositionen Mörikescher Lieder müsstet Ihr hören. Da hört wirklich alles auf!

Vorgestern vom Diner bis Mitternacht draußen bei Viardots, wohin auch Hiller, der Komponist der Zerstörung Jerusalems, eine Zeitlang kam. Gesang ‒ genialste Musik. Ich sang auch eins von den wunderschönen Liedern der Viardot, während sie begleitete, und sie sagte freundlich nickend: „Bravo, Herr Storm!“

Dann mit der Viardot und der Primadonna noch im Mondschein gewandelt in dieser zauberischen Gegend.

Heute vormittag wieder mit Pietsch in den Bergen, tief unter uns die mächtigen Schwarzwaldtannen, dann ins Flussbad. Die Sonnenglut hier ist gar nicht zu beschreiben, und dabei weht von allen Bergen und Wäldern dieser feine, blaue Septemberduft. Für einen, der noch sein Herz gesund in der Brust trägt, muss es entzückend sein.

 

Quellen

Theodor Storm, Brief an die Familie, Baden-Baden, den 11. September 1865. In: Gertrud Storm 1912/13. Hier Band 1, S. 118-122.

Storm reiste im September 1865 auf Einladung des russischen Dichters Iwan Turgenjew (1818–1883) über Minden und Frankfurt am Main nach Baden-Baden, wo er in dessen Hause wohnte und mit seinem Freund Ludwig Pietsch zusammentraf. Von Baden-Baden aus fuhr er über Heidelberg, Frankfurt am Main und Köln nach Duisburg, wo er seinen Jugendfreund Peter Ohlhues besuchte, der dort als Pastor wirkte. Anschließend ging es weiter nach Arnsberg zu Alexander von Wussow, wo dieser jetzt als Verwaltungsbeamter arbeitete, und schließlich nach Berlin, wo er sich einige Tage bei Ludwig Pietsch aufhielt.

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Beichte*

In mein Leben, wie in meine Poesie teilen sich zwei Frauen; die eine die Mutter meiner Kinder, Constanze, die so lange der Stern meines Lebens war, ist nicht mehr; die andre lebt, nachdem sie fern von mir allein und oft in drückender Abhängigkeit verblüht ist. Beide habe ich geliebt, ja beide liebe ich noch jetzt; welche am meisten, weiß ich nicht; die erschütterndste Leidenschaft hat mir einst die noch Lebende eingeflößt; die leidenschaftlichen Lieder, die Ihr ja oft gelesen, sind der Kranz, den sie noch jetzt in ihrem Haar trägt. Beide sind sie, obwohl sonst mannigfach verschieden, die süßesten mildesten Frauenseelen, die ich im Leben gefunden und von grenzenloser Hingebung an den geliebten Mann. Das wäre noch alles schön und gut; aber die Leidenschaft für die Lebende brach über mich he rein, als die Verstorbene schon mein Weib war. – So kam es.

Während meines Brautstandes kam meine Schwester Cäcilie mit einem etwa 13jährigen Mädchen, einer feinen zarten Blondine, auf mein Zimmer. Sie hatten sich verkleidet und hielten sich eine Zeit lang bei mir auf. Als sie gegangen sagte ich mir betroffen, dass dieses Kind mich liebe, und erinnere mich dessen noch wohl, dass sie schon damals einen eigentümlichen Reiz für mich hatte.

Ich heiratete und jenes Mädchen, damals eben aufgeblüht kam oft in unser Haus. In meiner jungen Ehe fehlte Eins, die Leidenschaft; meine und Constanzens Hände waren mehr aus stillem Gefühl der Sympathie in einander liegen geblieben. Die leidenschaftliche Anbetung des Weibes, die ich zuletzt für sie gehabt, gehört ihrer Entstehung nach einer späteren Zeit an.

Aber bei jenem Kinde, die wie ich glaube mit der Leidenschaft für mich geboren ist, da war jene berauschende Atmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte. Vielleicht mag ich auf sie eine gleiche Wirkung gehabt haben. Gewiss ist, dass ein Verhältnis der erschütterndsten Leidenschaft zwischen uns entstand, das mit seiner Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jahrelang dauerte und viel Leid um sich verbreitete, Constanze und uns.

 

Quellen

Theodor Storm an Hartmuth und Laura Brinkmann, Brief vom 21. April 1866; Br. Brinkmann S. 146.

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Dorothea Jensen*

Mein lieber Freund, ich bin seit Empfang Deines letzten Briefes so sehr mit meinem eignen Leben beschäftigt gewesen, dass Du mir diese verspätete Antwort verzeihen mußt.

Als wir zuletzt zusammen waren, da starrten meine Augen noch immer in den Abgrund, der die edle und geliebte Tote verschlungen hatte. Als dies allmählich anders ward, als ich endlich wieder um mich blickte, da sah ich freilich sie, die ich einst so gewaltsam in mein Leben gerissen hatte, durch die ich die erschütterndste Leidenschaft erfahren und der die Hälfte meiner Poesie gehört. Und es überkam mich wie ein unfassbares Glück, dass in meiner ungeheuren Verarmung und Trostbedürftigkeit sie noch für mich lebte mit ihrer grenzenlosen Treue; und so führe ich sie denn bald in der Stille auf Constanzens Platz, den sie bescheiden und in liebevollster Verehrung für die Tote einnimmt. Sei nur einen einzigen Tag mit ihr zusammen, so wirst Du sagen, was mein prächtiger Bruder Johannes, der ihre Schwester zur Frau hat und sie genau kennt, mir auf meine Anzeige dick unterstrichen schrieb: „Ich will Dir etwas sagen: ich hätte das auch getan.“ Diese Frau ist, wie alle es wissen, die sie kennen, eine Perle, wie Constanze es war; mit ihr hat sie die weibliche Milde, die grenzenlose Hingebung und, wenn die Last nur ein wenig von ihren Schultern genommen wird, die harmlose Heiterkeit gemein; schön freilich ist sie nicht; es gibt ja nichts Verblühteres als eine verblühte Blondine, nur ihre Hand, die ich einst in der Poesie eingeführt, ist noch geblieben.

Auch meine Eltern, die Constanze wie ihr eignes Kind geliebt und die bei diesem raschen Schritt in ihrem Gefühl allerdings was zu überwinden hatten, bekennen, dass es das größte Glück ist, das ich hätte finden können; so hat sich auch bei allen meinen Kindern, den kleinen wie den großen, nicht nur nicht der leiseste Widerspruch erhoben, sondern sie sind glücklich, dass ihre süße und verehrte „Tanto Do“ – so und nicht „Mutter“ wird sie auch künftig heißen – dass die nun unser wird, dass wir unter ihrer milden Fürsorge leben und wieder eine geschlossene Familie bilden sollen; sie wissen, dass diese Frau so zart und ihre Seele so von süßester demütiger Liebe erfüllt ist, dass das Gedächtnis ihrer geliebten Mutter nirgends sicherer bewahrt ist als in ihrem Schütze. Und dies ihr Verhältnis der Liebe und Verehrung zu der Toten, ihre Selbstanklage, wenn sie in sich zu bemerken glaubt, dass auch nur ein Hauch der Eifersucht auf sie ihr Herz getrübt, das ist das Rührendste, was ich fast je erfahren. Sie ist augenblicklich bei ihrer Schwester, und Du kannst es wohl denken, Constanze ist der halbe Inhalt unsrer Briefe; sie selbst bringt mir die holdesten Züge von ihr, kleine Ereignisse zwischen ihnen, die nur zwischen zwei ganz edlen Naturen möglich sind. – Lies noch einmal die „Angelica“; das ist sie, nur war sie nicht so schwach wie diese; denn sie hat ihre Liebe, mit der sie, wie sie meint, geboren ist, die mich damals bei dem 10jährigen Kinde betroffen machte, treu bewahrt, sie hat die Annäherung aller Männer zurückgewiesen, darunter einen, dem nichts fehlte, um jedes Weiberherz zu gewinnen.

Ich verlange nicht, dass Ihr jetzt schon einverstanden seid; es ist Constanzens Recht, dass Ihr Euch sträubt. Für das außer mir will ich noch sagen – und das wird Marie beruhigen – dass sie für Kinder einen ganz besonderen Zauber hat, einen dauerhaften, wie sie es in dem kinderreichen Hause meines Bruders bewahrt hat, und dass sie meine Kinder nicht bloß liebt, weil sie meine, sondern auch, weil sie Constanzens Kinder sind. Hans und Lisbeth stehen in lebhafter Korrespondenz mit ihr.

Ja, wie sie heißt? Sie heißt Dorothee Charlotte Jensen und wird Doris, von den Freunden und Nächsten Do oder Dodo genannt, ist 37 Jahre alt und arm wie eine Kirchenmaus. Wer nähme sie wohl noch an sein Herz, wenn ich's nicht täte!

Aber ich tu es; und bei keinem Schritt meines Lebens bin ich mehr von dem Gefühl der Sicherheit und innern Zufriedenheit erfüllt gewesen. Dass ich's nur gleich gestehe; die ganze törichte Leidenschaft der alten Zeit ist wieder in mir erwacht für diese ganz verblühte Frau. – Komm nur einmal, und Du wirst zufrieden sein; jetzt ist es schrecklich in meinem Hause; dann aber wird es zwar still sein, weil ihr Gedächtnis darin ist; aber es wird wieder dieselbe Luft da sein wie einst.

 

Quellen

Theodor Storm an Ludwig Pietsch, Brief vom 12.5.1866: in Br. Pietsch, S. 174-76.

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Am Rande der öden Mergelgrube

Ein junger Mann, der sich durch Liebschaften und Schulden sein Leben anscheinend unheilbar zerrüttet hat, war seit einigen Tagen verschwunden. Ich ließ alle Trinkgruben u. Brunnen d. Dorfes absuchen, heut ist er in Rantrum tot in einer Trinkgrube gefunden, die Frau ist schwanger. Gestern um 9 kam ich von jener traurigen Fahrt zurück. Es war der Leichnam eines stattlichen jungen Mannes, der am Rande der öden Mergelgrube lag. Von dort fuhren wir nach Rantrum und ich vernahm zuerst s. schwangere junge Frau, die er nicht geliebt, aber geheiratet hatte, um mit Beihülfe ihres Geldes den väterlichen Besitz aufbessern zu können u. dann das bezaubernde in süßester Jugendfrische blühende Kind, die er schon, da sie noch fast ein Kind gewesen, geliebt und um die er sich, mir ganz unzweifelhaft, den Tod gegeben. Sie war wahrscheinlich auf Antrieb seines Vaters von ihrer Mutter (Hebamme) fortgeschickt gewesen, aber nachdem seine Ehe ein Jahr lang gedauert, zurückgekehrt. Nun ist er wieder zu ihr gegangen und hat sich aus diesen wunderbaren Augen Leidenschaft und Tod getrunken. Ein Tag vor seinem Selbstmord ist er nach ihrer Angabe zuletzt bei ihr gewesen, auffallend niedergeschlagen und hat gesagt, er halte das Leben zu Haus nicht aus, es brächte ihn unter die Erde. Dann ist er eines Abends 9 1/2 Uhr im Arbeitszeug in der Dunkelheit fortgegangen, hat zu seinem 10jährigen Bruder ein letztes Wort gesagt, das dieser nicht verstanden und ist geradewegs nach der ¼ Stunde entfernten Grube gegangen, denn die Uhr, die wir aus seiner Tasche zogen, stand auf 3/4 10. Die Frau, die ihn sehr geliebt u. ihm, wenn überhaupt nur milde Vorwürfe gemacht zu haben scheint, hatte ihn des Abends, da sie schon im Bett war, auf die Außendiele treten, dann aber die Stubentür vorbei wieder aus dem Haus gehen hören. Das junge Mädchen schien beim Verhör eigentlich nur von Angst vor irgendeiner kriminellen Verantwortung erfüllt. Sie war in höchster Aufregung, aber von Schmerz um den Toten gewahrte ich nichts – obgleich sein nackter Leichnam eben ins Dorf gefahren wurde. –

Da hast Du das Drama einer Leidenschaft auf dem Lande.

„Ach Gott führ' uns liebreich zu Dir“, – schließt Eichendorff ein Lied, das ich Dir vorsingen werde, und damit will auch ich in Deinem Sinne, mein geliebtes Kind diese Mitteilung schließen.

 

Quellen

Theodor Storm an Dorothea Storm, Brief ohne Datum (Ende März 1866). In: Br. Dorothea Storm, S. 53f.

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Ein Konzert*

 (1)

In die Reihe der populär-wissenschaftlichen Vorträge unserer Gymnasiallehrer trat am letzten Donnerstage ein künstlerischer. Unser Musiklehrer Herr Adolph Möller gab zunächst eine kurzgefasste Übersicht über Beethovens Leben und Charakter und trug dann von dessen Kompositionen die cis moll (Mondschein-)Sonate, das Largo und das Menuett aus der D-dur-Sonate (opus l0) und die Sonate pathétique auf dem dem Gymnasium gehörigen Blüthnerschen Flügel vor. Besonders in den beiden ersten Sonaten zeigte Herr Möller sowohl in technischer Beziehung, als in Rücksicht auf den Vortrag eine den Beethoven'schen Kompositionen nicht oft zu Teil werdende Beherrschung des Stoffes; bei dem kräftigen und elastischen Anschlag des Spielers kamen sowohl die mächtigen als die zarten Partien zu erquicklicher Geltung. Den musikverständigen Zuhörern dürfte es nicht entgangen sein, mit welcher Sicherheit ein allgemeines Verständnis selbst schwieriger Stellen durch den Vortrag vermittelt wurde. So war denn auch in der D-dur-Sonate, wo die Komposition nach dem Andante aus grollender Schwermut sich mit dem Menuett in die ätherreinste Heiterkeit emporschwingt, die anmutige, erlösende Wirkung bei den zahlreich versammelten Zuhörern unverkennbar.

Erwünscht wäre es übrigens gewesen, wenn Herr Möller den im mündlichen Vortrage aufgestellten Satz, dass Beethoven meistens unter der Herrschaft einer Idee komponiert habe, in Betreff der vorgetragenen Stücke zur besondern Ausführung gebracht hätte.

Schließlich sprechen wir die Hoffnung aus, dass uns bald Kompositionen auch unserer übrigen Musikheroen in gleicher Weise vorgeführt werden mögen.

 

(2)

Das Flügelkonzert, welches der Musiklehrer Herr Möller am Freitag der vorletzten Woche in der Aula des Gymnasiums gab (wir hätten gern eine Besprechung jener vorzüglichen musikalischen Leistung gebracht, aber als Laien müssen wir darauf verzichten und uns begnügen zu konstatieren, dass alle Kenner in hohem Grade befriedigt worden sind) – jenes Konzert also hat, wie wir vernehmen, einen Reinertrag von 30 Talern 9 Silber-groschen gebracht.

Der projektierte Kronleuchter freilich, zu dessen Beschaffung Herr Möller in uneigennützigster Weise sein schönes Talent verwertet hat, soll ungefähr auf das Doppelte jener Summe zu stehen kommen; nichtsdestoweniger dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, schon zum nächsten Herbste der Aula diesen neuen Schmuck zugewandt zu sehen, da Herr Möller, um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, bereit ist, gegen Ende des Jahres ein zweites Konzert zu geben, dessen Ertrag die Restsumme decken soll.

 

Quellen

Husumer Wochenblatt vom 18.1. und 10.5.1871. Adolph Möller (1841-1887) war seit 1868 Musiklehre am Husumer Gymnasium und unterstützte Storm bei der Leitung seines Gesangvereins. LL 4, S. 370f.

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Reise nach Salzburg* (Juli-August 1872)

Meine Reise anlangend, so war sie wegen der Hochsommergluth etwas strapazant; auf dem Hinwege war eigentlich meine glücklichste Stunde, als ich Nachmittags in Nürnberg nach all dem anstrengenden Besehen von „Burg“, „Sebalduskirche“, „Moritzkapelle“ etc. in unserm Zimmer im „Rothen Roß“ mich platt auf den Fußboden gestreckt hatte, nur mit meinen beiden Fingerringen bekleidet und mit einem feuchten Handttuch zugedeckt.

Unser Weg machte sich übrigens folgendermaaßen: Von Hamburg aus war Ludwig Scherff mein Reisegenosse; zunächst nach Göttingen, wo wir den Abend, resp. im Weinkeller u. bei Gartenmusik mit Ernst verlebten, den wir am ändern Tage denn auch nach Heiligenstadt mitnahmen – ich vermochte es doch nicht vorbeizufahren. Ludwig u. ich quartirten uns bei Otto ein, dessen Frau u. Kinder derzeit in Husum waren, Ernst, wie schon früher mehrmals, fand Unterkommen bei unsrer alten Hauswirthin. Abends um 11 Uhr, als wir noch in dem Hausflur bei offnen Thüren und vollen Flaschen saßen, ertönte Gesang draußen im Garten; da waren es die Reste meines alten Gesangvereins, die mir ein Ständchen brachten. Das gab denn eine herzliche etwas wehmütige Begrüßung. Noch einen Tag blieben wir, dann reisten Ludwig und ich weiter. Das nächste Nachtquartier war Eisenach, wo wir auf die Wartburg fuhren, das folgende Nürnberg, wo wir einen Tag (Sonntag) über blieben. Ich suchte dort auch Frl. Rammann auf, die in der Nähe des rothen Rosses wohnte und machte mit ihr und ihren Damen einen schönen Abendspaziergang. Die mir von Allen aufgetragenen Grüße an Malvine will ich hiemit an Euch zur Weiterbeförderung übergeben haben. Dann nach München, wo wir mit Paul Heyse sehr heiter im Garten des Kaffee national zu Mittag aßen. Andern Tags fuhr ich allein weiter nach Salzburg, Ludwig blieb in München. Zehn Minuten von Salzburg, das den Eindruck einer italienischen Stadt macht, liegt Leopoldskron, mein Reiseziel. Das Leben dort zu beschreiben, reicht ein Brief nicht aus. Das Schloß ist groß und hell, eine breite Treppe von polirtem Marmor führt in die beiden oberen Etagen. Aus meinem Schlafzimmer (Erste Etage) trat ich durch eine Flügelthür auf das Chor der Schloßkapelle, welche in das untere Stockwerk hinabgeht und von da in den großen Marmorsaal der die Höhe der ersten und zweiten Etagec) und nach beiden Seiten einen breiten Balcon hat, den einen mit der Aussicht auf Garten und Alleeen, den ändern über Garten und See hinweg auf die Kette der Voralpen, Hohenstaufen, Untersberg, Göll, Tännengebirg, steinernes Meer u.s.w., die oft so dicht liegen, als könnte man nach einer Viertelstunde Weges hinaufspaziren und bei jeder Tages- und Wetterveränderung in ändern Lichtern spielen, mitunter bei dicker Luft waren sie ganz fort und nur oben aus den Wolken guckte eine Felsenspitze. Die unbegrenzteste Gastfreundschaft genoß ich in diesem Hause, so daß ich während meines 3 wöchentlichen Aufenthalts nicht nur keine Gelegenheit hatte (für Wäsche z. B. oder dgl.) auch nur einen Groschen auszugeben, sondern auch, beispielsweise, die Frau Dr. Schindler, als sie hörte daß ich auf Gurtenrahmen zu Hause schliefe, die sie dort nicht kennen, mich kurz darauf durch einen solchen in meinem Bett überraschte, den sie heimlich hatte machen lassen.

Im Stall standen außer einem Reitpferd 2 Paar auserlesene Luxuspferde, die nichts zu thun hatten, als uns spazieren zu fahren. Nie bin ich auf einem Wagen so geflogen, wie dort mit den beiden ungarischen Schimmeln. So fuhren wir denn, wenn gut Wetter war fast immer, entweder in die schöne Umgegend, oder doch nach Salzburg hinein, wo der Wagen uns an irgend einem Thor erwartete, während wir die Stadt die sehr merkwürdig ist, die bischöfliche Residenz, die Feste Hohensalzburg, den Petrikirchhof oder die Kirchen besahen, wobei mein Gastfreund Schindler (Julius v. d. Traun des Hausbuchs) ein ausgezeichneter Cicerone war, da er nicht nur über alle diese Dinge eingehende historische Studien gemacht hat, sondern vor ihm auch alle Schlösser sprangen. Nachher gingen wir dann auch wohl in einen Felsen-Biergarten oder in den interessanten Petrikeller zur entsprechenden Erquickung. Größere Ausflüge waren nach Gollingen, Reichenhall, Berchtesgaden und dem Königssee, den wir bei schönstem Wetter befuhren bis zum Hintersee, ein köstlicher Tag; bei dieser Tour war auch Ludwig Scherff, der auf Schindlers Einladung nachkam und noch reichlich 8 Tage mit mir da war. Er wird in Folge dieser Bekanntschaft gegen Neujahr zur weitern Ausbildung seiner Musik nach Wien gehen.

Sehr gut traf es sich, daß Schindler, der nach 10jähriger politischer Carriere bei der letzten Reichsrathswahl durch die ultramontane u. socialdemokratische Partei seinen Sitz im Reichsrath verloren, und nun wieder mehr seiner Poesie lebt, ein großes – äußerst interessantes – episches Gedicht „König Salomo von Ungarn“ vollendet hatte; so hatten wir im Hause eine bestimmte Beschäftigung, wenn Regenwetter war oder wenn wir nicht im Garten zu angeln standen, wobei uns die zahmen Störche, die die kleinen Weißfische bekamen, fast auf die Füße traten, oder wenn wir nicht auf dem See fuhren. Wir nahmen das ganze Gedicht zusammen durch, corrigirten u. strichen, da es zum Druck vorbereitet wurde. Stolle muß es einmal vorlesen; es eignet sich sehr dazu.

Sonn- und Festtags waren stets der Verwalter – es sind jetzt 2 Meier-Höfe bei dem Schloß – und seine reizende Frau, sowie der behagliche Pfarrer vom Moos mit zu Tisch. Man ist dort katholisch; aber wie Paul Heyse mir von seiner Frau sagte, man „macht keinen Gebrauch davon;“ oder wie der Pfarrer von Leopoldskron-Moos von Schindler sagte: „Der Herr Doctor, der kommt in den Himmel; nit um seines Glaubens willen, aber um seines Herzens willen.“ Die Frau Verwalterin, übrigens – da die Mutter, eine Sängerin u. Gesanglehrerin, im Irrenhaus war, von Schindlers als Kind aufgenommen, war zwei Jahre in Danzig Schauspielerin gewesen und hatte dort das „Käthchen von Heilbronn“ u. dgl. gegeben, neben ihr war eine junge Freundin, die wir in gegebener Veranlassung „Irma, das unverliebte Mädchen“ tauften. Sie hieß Irma Kurzweil, ein allerliebstes Mädchen. Dann war eine verheirathete Tochter Schindler's, Frau Jeannette Schaffarck mit einem allerliebsten Mädel von 3 Jahren auf Sommerfrische da. Auch ihr Mann kam und der Sohn Alexander Schindler, „der wenigst tugendhafteste der Familie“, wie sein Vater sagte, ein wilder Bursch, der übrigens hinreißend Zitther spielt. Er u. sein Schwager haben in Wien eine Seidenhandlung en gros. Das war die Tafelrunde in Leopoldskron. Ich lege die Bilder, soweit ich solche besitze zur Ansicht bei.

Auf dem Rückwege, während Ludwig vorab nach München fuhr, verlebte ich in Prien am Chiemsee (es liegt auf halbem Weg von Salzburg) noch einen sehr erquicklichen Tag mit P(aul) Heyse und Familie, die in diesem traulichen Oertchen Sommerfrische hielten. Dann mit Ludwig noch einen Tag über in München; und von da nach Leipzig, wo wir 2 Tage mit Karl zusammen waren. Karl Reinecke traf ich leider nicht zu Haus. Zuletzt, wieder in einem Strich, nach Hamburg, wo ich denn auch unsre Lisbeth wieder antraf.

Das war die große Reise nach Leopoldskron, von der ich durch manche Anschauung der Natur und des Menschenlebens in mein Heim zurückgekehrt bin. Aber – „Ost un West, to Huus is best.“

 

Quellen

Theodor Storm an Ernst Esmarch. Husum, 19.10.1872. In: Br. Esmarch, S. 135-138.

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Was der Tag gibt

1.

188l, 1/10., Heiligenhafen.

Vor meiner Abreise von Hademarschen zu meinem Geburtstage (vom 13-16. September 81) war Heyse bei uns; er ist einer von den wahrhaft liebenswerten Menschen; nach ihrem Scheiden bleibt noch längere Zeit ein Leuchten an den Orten, wo sie gewesen sind. Er ist krank; die Ärzte haben zweijährige Arbeitsruhe verlangt. Um eine Novelle mehr oder weniger sei es ja einerlei; aber ein Werk, in dem er seine Lebensanschauung auszuprägen vorhabe, könne nun nicht geschrieben werden; ihm sei mitunter, als habe er nicht viel mehr auf der Welt zu schaffen. – „Ich habe deinen Etatsrat gelesen;“ sagte er; „aber du bist ja ein Verschwender!“« Er meinte, die Figuren seien so ausgiebig, dass sie einem größeren Werke hätten dienen sollen. Auch meinte er (der Etatsrat) hätte doch nicht das letzte Wort haben sollen. – Wir sprachen über Kugler und seinen frühen Tod; ich sagte: „Es tut mir auch leid, dass er nicht die zweite Periode meiner Novellistik noch erlebte.“ „Ja“, meinte H. lächelnd, „als du in Öl zu malen anfingst.“ Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß anno 52-54 in Berlin unter denen, die sich bei Kugler versammelt, und in unserm „Rütli“ wir uns am fernsten gestanden, und dass nun wir die seien, die zusammengehalten und sich am nächsten stünden. – „Ja, Liebster, das macht, weil wir beide fortgearbeitet haben.“

 

2.

Das ästhetisch oder moralisch Hässliche muss durch den Humor wiedergeboren werden, um in der Kunst verwandt werden zu können; dann entsteht das „Groteske“. (Der Herr Etatsrat)

 

3.

H. Heiberg sagte mir, ein ihm bekannter Prediger habe geäußert, er habe vor, über mich zu schreiben und dabei nachzuweisen, dass die Personen meiner Novellistik ohne eigne Schuld zu Grunde gingen. Wenn das ein Einwand gegen mich sein soll, so beruht derselbe auf einer zu engen Auffassung des Tragischen. Der vergebliche Kampf gegen das, was durch die Schuld oder auch nur die Begrenzung, die Unzulänglichkeit des Ganzen, der Menschheit, von der der (wie man sich ausdrückt) „Held“ ein Teil ist, der sich nicht abzulösen vermag, diesem entgegensteht, und sein oder seines eigentlichen Lebens herbeigeführter Untergang scheint mir das Allertragischste. (Carsten Curator, Renate, Aquis submersus, bei welchem Letzteren ich an keine Schuld des Paares gedacht habe, etc.)

Man könnte untersuchen, ob es ein episch- und ein dramatisch Tragisches zu unterscheiden sei.

 

4.

Das nicht bloß poetische, sondern sich fortwährend vor unsern Augen abspielende wirkliche .Schicksal liegt in der Vererbung,. Hier ist ein großer Stoff zu finden.

Etwa: Der „Held“ erfährt – es muss dies aber in laufender Entwicklung tatsächlicher Szenen geschehen – glück- oder lebenzerstörende Vorgänge aus der Geschichte seines Hauses – etwa veranlasst durch eine Lücke in der Bilderreihe seiner Vorfahren, einen andren durch eine ihm zum Bewusstsein kommende geheimnisvolle Spannung in dem Eheleben seiner Eltern - den einen Vorgang etwa aus dem Munde der sehr alten mit erloschenen Augen an dem großen Herde hukenden Dienerin (Großmutter Feddersens Lena Kock). Später kommt er in Gefahr, durch Jähzorn unheilbares Unheil anzurichten, was glücklich verhindert wird. Aber plötzlich steht es vor seiner Seele: „Jene dunkeln Geschichten deines Geschlechts entsprangen ja derselben Leidenschaft, und du selbst (mit einem Rückblick auf eigne Vergangenheit, besonders und nur noch auf die Knabenzeit) hast sie als Erbteil empfangen!“ Von da ab sucht er angelegentlich die Veranlassung zum Ausbruch dieser Leidenschaft – mehr vermag der Mensch nicht – zu vermeiden, wird aber grade dadurch ihr Opfer.

 

5.

5/10.

Zu „Im Schloß“. Als meine Novelle „Im Schloß“ 18 . . in der „Gartenlaube“ abgedruckt wurde, hatte Keil, der mit dem derzeit noch wenig bekannten Verfasser keine Umstände machte, die Worte der Heldin: „Leider, nein!“ gestrichen und Beliebiges an die Stelle gesetzt. Auf meine Vorhaltung deshalb, erwiderte er, er habe wohl eingesehen, dass diese Worte der Gipfel (oder: die Krone) der Dichtung seien; aber sie seien bei dem Leserkreis der „Gartenlaube“ zu sehr der Missdeutung ausgesetzt. – Nach dem Charakter der Schlossherrin und der ganzen Dichtung kann dies Wort aber nur dahin verstanden werden, dass sie ohne Gedanken an daran zu knüpfende Konsequenzen einen Schmerzensruf ausstößt, dass sie in Entweihung ihres Leibes von einem ungeliebten Mann ein Kind geboren, wobei ihr das wie im Traum vorbeigegangene Glück vor Augen schwebt, die Mutter eines Kindes vom geliebten Mann zu sein. Die Worte entspringen hier aus der Keuschheit eines reifen Weibes.

 

6.

5/10.

Heiligenhafen. Die alte Kirche. Die Bürgerglocke um 10 Uhr Abends. Die Stadt liegt auf dem alten Ufer, daher die hügeligen Straßen, das Pflaster nach den Häusern von der Mittelstraße an aufgetreppt, das Pfarrhaus auf einem alten Ufervorsprung. Die Stadt mit dem abgestumpften Kirchturm am Ufer entlang. Davor nach Norden das lang gestreckte Eiland „der Warder“, dahinter tieferes Fahrwasser, dann Fehmern (beim Herbstmorgenrot (5 1/2 Uhr) bläulich purpurne Färbung im ersteren Wasser, die breitere Fläche wie bleicher Stahl, beim Sturm in letzterem schäumende Wellenköpfe, im Frühling Vogelschrei und Nester auf dem „Warder“. „Schiffergilde“ die vornehmste, aus den angesehensten Familien; der Weg für die Söhne: Schiffsjunge, Kapitän, Reeder; Schifferstuhl in der Kirche für jeden der das Steuermannsexamen (Altona) gemacht und ein eignes Schiff hat. Mit Schonern brachte man Korn (Weizen, auch wohl Rübsen) nach England, Rübsen mehr nach Holland oder Kopenhagen, später von Norwegen (Christiania) bezogenes Holz und nahm dann auch Kohlen von dort zurück, die man an den Ostseeplätzen und hier absetzte; nach Russland gingen sie in Ballast und brachten von dort Hanf, Felle, Leder. […]

 

Hademarschen. August 82.

Im Dunst der Hochsommerglut verschwand der Kranz der fernen Wälder; um uns her das Summen der Insekten klang fast zornig, als wollten sie den Menschen die Augenblicke ihrer kurzen Sommerherrschaft fühlen lassen.

Abends die dunkle Mühle hebt sich gegen die tiefstehende lilafarbne Wolke, die schwarzen Flügel aber tauchen immer wieder in den licht goldnen Horizont, der sich darunter breitet.

[…]

 

25. Oktober. Morgens 8 Uhr.

Sturm während der Nacht und noch immer, Sonnenschein, Wolken ziehen fortwährend aus Südwest. Eine schwarze Krähe kämpft gegen den Sturm, dann dreht sie sich und schießt dahin. Nebel bedeckt einen Teil der Ferne, ein andrer aufgedeckt im Sonnenschein.

 

Ein Mann der aus einem Hause in das andre zieht, weil er in keinem wohnen will, wo sein Sarg stehen wird.

 

1883. 10. März.

Vormittags 10 Uhr, als eben der Zug pfiff, schrieb ich das letzte Wort meiner Winterarbeit: „Schweigen“.

[…]

 

Nach über 40 Jahren habe ich eben wieder Andersen's „Nur ein Geiger« („Kun en Spillemand“) durchgelesen. Es ist eine von den Dichtungen, die unmittelbar aus dem Leben und Wesen des Verfassers herausgewachsen sind. Es ist, als würde es einem in der Dämmerung am Ofenfeuer mit halber Stimme erzählt, auch die Leidenschaft spielt ihre Rolle; aber wir sehen sie nur aufzucken wie eine rote Flamme und gleich einem Traum vorüberfliegen; und Alles wächst schließlich zu einem starken elegischen Gesang zusammen. 6/4. 83.

 

Quellen

Storms Tagebuch wurde am 31. September 1881 in Heiligenhafen begonnen. Der erste Eintrag lautet: „Nicht nur, was der jeweilige Tag gibt, sondern auch, was frühere Tage gaben, und was am gegenwärtigen wieder aufsteht.“ Es folgt ein Hinweis auf den Entstehungsort: „Ich beginne dies Buch im Heiligenhafener Pfarrhaus bei einem Besuche meiner Lisbeth und meines trefflichen Schwiegersohnes.“ Haase, Gustav (1838-1904) war seit 1866 Hauptpastor in Heiligenhafen und in zweiter Ehe mit Storms Tochter Lisbeth verheiratet.

Storm hat in sein Schreibheft zunächst Reflexionen über seine Schreibkunst eingetragen und später begonnen, Themen und Motive für Novellen zu skizzieren, bis das Tagebuch zum Entwurfsheft für Novellen wurde. Auszüge aus LL4, S. 510-533.

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Weimar*

Endlich muss ich doch auch an Dich berichten über diese Reise, die in allem Übrigen mich befriedigt und erfreut hätte – wenn meine Gesundheit ausreichend gewesen wäre. Ich hatte mich nicht umsonst davor gegrauelt, wollte aber doch Elsabe selbst in Weimar einführen, wo ich, da bei Prof. Schmidts sich Hindernisse ergaben, von dem jungen Graf Kalckreuth eingeladen war. In Hamburg war ich, wie Du wissen wirst, um mit Ebbe zusammen zu bleiben und rechtzeitig weiter zu können, bei Hallier's; auf der Rückreise dachte ich zu Euch zu kommen. Dann waren wir die Nacht in Herzberg, und am andern Morgen brach mein altes Übel aus. Am Nachmittag war ich mit dem Göthe-Vorstand bei Hof zu Tafel geladen, ging aber in den Russischen Hof und zu Bett; von der Göthe-Feier genoss ich nur das Diner von 140 Gästen, den Präsidenten Simson an der Spitze, ohne es übrigens zu genießen, und die Pandora-Vorstellung, wenig geeignet für unfrische, wie für dinierte Menschen. Statt zur Plauderstunde der Übrigen, kroch ich ins Bett und ließ andern Tags den Arzt holen. Das Übel war bald gehoben; aber die Schwäche behielt ich als Fundament des später zu Beschaffenden: d. h. Ebbe in Familien einzuführen, Soupers mit zu machen, mit den Lehrern zu konferieren, wovon Ebbe's Klavierlehrer ein Freund von unserm Karl war, dreimal resp. Diners und Souper bei Hofe, einmal dort lesen; dann einmal bei der Erb-Großherzogin, Alles Mögliche besehen, im Göthe-Archiv herum-schnubbern, wo ich in Göthes Briefen an seine Frau hängen blieb von. 1792 (wenn's nicht 1806 war). NB das Originalbild zu den unschönen Nachbildungen von Christianen's in Zeitschriften u. Literaturbüchern abgedrucktem Bilde sah ich im Museum8 und fand es von allergrößtem Zauber.

Um den Fremden nicht krank in's Haus zu kommen, war ich nach 3 Tagen noch eben so lange bei Elsabe in ihrem Logis, und ging dann nach eben so langer Zeit zu Kalckreuth, der vor 1/2 Jahr eine Gräfin Yorck geheiratet hatte; zwei sehr lieben Menschen. Er kannte Hans Speckter, und seine nächsten akademischen Freunde waren der Maler Hans Feddersen, Vetter meines Schwagers, und mein Neffe Richard Stolle, leider im Irrenhaus.

Am 16 dieses Monats erst war ich in Weimar fertig, um meine vorgesetzte Reise abzuarbeiten: einen Tag in Jena beim Universitätscurator Eggeling, des alten Westermann's Schwiegersohn, 3 Tage in Gotha, ebenso lang in Erfurt, 2 Tage in Cassel, überall bei guten Bekannten, überall mit vielen neuen Menschen; erst hier fühle ich in der idyllischen Ruhe der Gärtnerei meines Bruders, dass ich vollkommen fertig bin, und zunächst nach Hause muss, um wieder zu mir selbst zu kommen. Ich fahre von hier direkt nach Pinneberg, wo die Witwe meines im Herbst verstorbenen Freundes Justizraths Lütkens mich auf einige Stunden wünscht. Wir würden jetzt nichts von einander haben; denn ich bin in diesem Augenblick nichts, als brennende Sehnsucht nach Ruhe und meiner eigenen Häuslichkeit in einem übermäßig strapazierten Körper. Ich hoffe, Du und Deine Ida kommt ein paar Tage zu uns, damit wir ein Wort mitsammen reden können; sonst komm ich im Spätsommer zu Euch.

Willst Du mir eine Liebe tun, so schenk mir einmal reinen Wein über Hans Speckter14 ein; ich fürchte für ihn, wenn ich bei der Andauer dieser Zustände mir sein letztes Erscheinen in Hademarschen vor Augen stelle, wodurch er auch mir – ich rechne es ihm selbstverständlich nicht an – Leid u. Sorge gebracht hat.

Bis zum 1sten Juni bin ich wieder in Hademarschen.

 

Quellen

Theodor Storm an Heinrich Schleiden. Heiligenstadt, 27.5.1887. In: Br. Schleiden, S. 64f.

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Wie wird man Schriftsteller von Beruf?

Nicht die Bekleidung eines Amtes, die Ausübung einer Industrie oder <eines> Handwerks macht den Beruf. Beruf ist nur, wozu man berufen ist; aber nicht etwa vom Staate oder durch äußere Lebensumstände, sondern durch das Bedürfnis unseres Innern, es zur wesentlichen Aufgabe unseres Lebens zu machen, und so kann man allerdings zu allem Vorgenannten Beruf haben, aber ebensowohl es ohne Beruf treiben. Weshalb sollte der innere Drang zum Schriftstellertum keinen Beruf abgeben, da er mächtiger fast als irgend ein andrer, und da er die Verkündigung der Schönheit und der Pflicht zum Zweck hat?

Wie ich Schriftsteller, ich muss beschränkend sagen Poet wurde, darüber weiß ich nur dies zu sagen:

Mit l0 oder 12 Jahren, als eine sehr geliebte Schwester mir gestorben war, machte ich meine ersten Verse, in einer Umgebung, wo an dergleichen niemand dachte. Dann war der Stoff zu Ende, und ich machte nun Verse ohne Inhalt, dann mit 18-20 Jahren suchte ich mir Inhalte zu meinen Versen, aber ich fühlte stets, dass das nur ein Flügelprüfen sei. Dann endlich kam das Leben und gab mir hie und da einen Inhalt, bei dem es mich überkam, ihn in poetische Form zu fassen<,> und es formulierte sich oft fast ohne allen Willen, es kam von selbst und wurde von mir festgehalten<.> Das war das Rechte und von da an fühlte ich, ich hatte den Beruf zum Lyriker, ich wusste es sicher.

Nur die Verse aus jener dritten Periode sind publiziert.

 

Quellen

LL 4, S. 469f.; Kommentar S. 957f.

Im Jahre 1887 in Storms „Braunes Taschenbuch eingetragen.

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Sohn Ernst*

Das Hauptereignis in meinem jetzigen Leben ist, dass nach dem Tode des Husumer Rechtsanwalts von Stemann mein trefflicher Sohn Ernst seine Amtsrichtern in Nordschleswig quittiert und am 17. d. M. sein Bureau als Rechtsanwalt und Notar in unserer alten Vaterstadt eröffnet hat. Man scheint ihn dort erwartet zu haben, er ist sogleich beschäftigt worden, und so hoffe ich, fassen wir dort wieder festen Fuß, wo mein Vater über fünfzig Jahre in der Achtung und dem Vertrauen der Menschen in derselben Stellung gewirkt hat und wo das Geschlecht meiner Mutter lange feste Wurzel hatte. Daneben wird im Herbst, wenn die Eisenbahn über Friedrichstadt fertig ist, Husum nur zwei Stunden von hier entfernt sein. Zu diesem Erfreulichen ist der Dir bekannte Tod meines Hans der andre Pol. Als Ernst im Dezember von dort wieder an mein Krankenbett trat, sagte er: „Vater, Dein genialster Sohn ist nun nicht mehr.“ Und darin liegt so viel Wahrheit, dass unter dem Wirrnis seines Lebens so viel an Geist und Interessen lag, daß mein Leben, wenn nicht das Elend des Trunkes ihn gefasst und eine gewisse Wunderlichkeit darüber gelegen hätte, allein durch ihn einen Reichtum, eine oft sich wiederholende Freude würde erhalten haben. Aus allem ist nichts geworden als ein wirres Leben, das er nun in fremden Landen ausschläft. Das ist für seinen Vater schwer zu verwinden; ein unerbittliches Mitleid mit dem Toten faßt mich oft.

 

Quellen

Theodor Storm an Paul Heyse. Husum, 25.5.1887. In: Br. Heyse Band. III, S. 150f.

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Zum 70. Geburtstag*

(1)

Meine verehrten Freunde! Man sagt von jungen Rossen, dass sie knappes Futter haben müssen, wenn sie werden sollen, was sie werden können. Gilt das auch von Menschen, so bin ich in der Kunst der Poesie glücklich daran gewesen. Die Gelehrtenschule meiner Vaterstadt Husum wusste nichts von dieser Kunst. In unserm Hause war zwar ein Schiller, von Göthe nur Hermann und Dorothea und dann, vom Großvater her<,> ein Chodowiecki<–>Band des alten Wandsbecker Boten.

Erst die Hildburghauser Kabinett<–> und Miniaturausgabe brachte uns eine Menge Dichtungen; aber von Poeten, die damals wohl schon meist vergessen waren, freilich Bürgers Lenore und Wielands Oberon waren dazwischen. Von dem aber, was eben lebendig aufgetreten war, von den Romantikern, von Uhland, Eichendorf<f,> Rückert, wurde uns damals nichts gebracht. So kam es, dass ich Uhland, da ich einmal zufällig seinen Namen hörte, ihn stillschweigend zu den mittelalterlichen Minnesängern zählte. Meine letzte poetische Festrede über den Israeliten Mathatias erhielt ich vom Rektor ohne Korrektur zurück: „er sei kein Sänger!“

Mein Vater hatte den glücklichen Gedanken, mich vor der Universität noch 1 l/2 Jahre auf die Lübecker Schule zu schicken, die unter Jacob und Classen in höchster Blüte stand. Hier war höhere Luft, bedeutendere Menschen, und zwei für mich große Ereignisse traten dort in mein Leben: ich lernte Heines Buch der Lieder kennen – die erste wie ein Gebetbuch vergriffene Ausgabe steht noch in meinem Schrank – nie vergess ich den Herbstabend und die Schauer, die mich überzogen, als ein älterer Freund mir mit feierlicher Stimme eines dieser Lieder nach dem andern las. Mag man über Heine sagen, was man will und kann, unbestreitbar wird es immer bleiben: er war das größte lyrische Talent des 19. Jahrhunderts, und kein Dichter wird ihn verleugnen können. Dann aber kam Goethes Faust in meine Hände, und es war mir, als würde ein zweiter Vorhang fortgezogen; dahinter die Welt lag, die für mich, den Jungen des 19. Jahrhunderts, die Poesie barg. Auch Eichendorf lernte ich kennen, dessen Lyrik in die tiefen Gründe führt, welche erst nach Goethe die Romantik gefunden hatte.

Dann kam die Universität und zu den dreien kam noch Einer hinzu; das war Eduard Mörike.

Und so waren die Vier beisammen, die bestimmend auf meine Lyrik eingewirkt haben. Eichendorff und Mörike bin ich so glücklich gewesen, noch persönlich und freundschaftlich gegenüberzutreten.

Ich hatte schon in Husum Verse gemacht; dann in etwas andrer Weise in Lübeck, dann auf der Universität; aber alles war ohne tieferen Inhalt; und meine Freunde Ferdinand Röse in Lübeck und Theodor Mommsen auf der Kieler Universität unterzogen sie einer vernichtenden Kritik; sie dachten freilich nicht daran, dass ich ein spät sich entwickelnder Mensch und daß dies alles doch ein Flügelprüfen war.

Fertig wurde meine Lyrik erst, als mein Leben einen selbstständigen Inhalt gewonnen hatte, und als ich als junger Advokat überall für mich selber einstehen musste. – Als ich aber die beiden schicksalsschweren Lieder zu Immensee geschrieben hatte, von welchen jene kl<eine> Dichtung getragen wird: „Meine Mutter hats gewollt“ und das „Lied des Harfenmädchens“<,> und als dann auch noch das „Oktoberlied“ da war, da freilich wusste ich es und bin nie davon gewichen, obgleich die Welt es noch jetzt kaum weiß: dass ich zu jenen wenigen Lyrikern gehöre, die die neue deutsche Literatur besitzt: zu unserm alten Asmus Claudius, und Goethe, zu Uhland und Eichendorf, Heinrich Heine und Eduard Mörike.

Die Welt wusste es nicht; auch nicht die, die es hätten wissen sollen; und das hat sich weit über ein Menschenleben hingezogen. Als ich die besten meiner Gedichte mit einigen Prosastücken hatte publizieren lassen, begrüßte der Literaturhistoriker Feodor Wehl mich in den „Hamburger Jahreszeiten“ mit den Worten, es sei, leider<,> eine Menge garstiges Unkraut dazwischen, das der junge Poet noch erst ausraufen müsse, und etwa 20 Jahre später wagte es der derzeit einflussreiche Literaturhistoriker Gottschall, der freilich keine Ahnung von dem Wesen der Lyrik hat, in einer Probenummer seines Literaturblatts meinen Gedichten ihren Platz auf dem Nippstisch anzuweisen; es war das bei Gelegenheit einer Diskreditierung meines Hausbuchs aus deutschen Dichtern, der eine preisende Kritik seiner eigenen Anthologie vorausging. Und Deutschland glaubte ihm.

 

(2)

Meine verehrten Freunde und Verwandte!

Der 70ste Geburtstag ist wohl deshalb ein großes Fest, weil es für den Jubilar zugleich ein schmerzliches ist; denn der Volksmund hat recht: 70 Jahr ein Greis! und das Greisentum hat wesentlich mit dem Tod zu rechnen und die Aussicht auf den grünen letzten Hügel will dem Siebenziger nicht mehr verschwinden. Aber da wacht im Herzen der Menschen die Liebe auf; noch einmal wollen sie das Herz des alten Geburtstags–Kindes mit rechter Freude füllen, mit Rosen soll die trübe Perspektive verdeckt werden.

So sind auch Sie alle hieher gekommen, um mir über diesen Lebensabschnitt hinweg zu helfen; und ich sage Ihnen nochmals meinen Dank dafür; die Erinnerung daran wird bei mir bleiben auf der Strecke Weges, die mir noch übrig ist; denn Sie haben mir wahrhaft Freude gebracht.

Meine verehrten Freunde, es sind unter den Grüßen, ich weiß es<,> einige, die dieses Fest als ein bloßes Familienfest ansehen wollen; ich aber kann mich der Erkenntnis nicht entziehen, dass es dem Dichter gilt. So lassen Sie mich ein Wort in dieser Richtung sagen:

In der Landschaft, wo ich geboren wurde, liegt, freilich nur für den, der die Wünschelrute zu handhaben weiß, die Poesie auf Heiden und Mooren, an der Meeresküste und auf den feierlich schweigenden Weidenflächen hinter den Deichen; die Menschen selber dort brauchen die Poesie nicht und graben nicht danach. Ich hatte, als mein Vater mich aus der Prima der alten Husumer Gelehrtenschule auf das Lübecker Gymnasium schickte, keine Ahnung, dass gleichzeitig mit mir Dichter wie Uhland oder Eichendorf auf der Welt seien. In Lübeck aber, wo eine höhere Luft war, traten zwei für mich bedeutende Ereignisse in mein Leben: Ich lernte Goethes Faust, und ich lernte Heines Buch der Lieder kennen; mag man von diesem sagen, was man will oder kann, ein Dichter wird ihn nie verleugnen können. Mir war – ein Jüngerer wird sich von dem Eindruck keine Vorstellung machen können – als sei plötzlich ein Vorhang und noch einer fortgerissen und ich sähe zum ersten Mal in eine Welt, aus der die Poesie mit ihren Sternenaugen auf mich blickte. Dann kam noch Eichendorf und später in den letzten Universitäts<jahren> Eduard Mörike hinzu; und so war ich mit denen bekannt<,> die bestimmend auf meine eigene Kunst einwirkten; ich wurde ihr Schüler, niemals ihr Nachahmer; davor bewahrte mich meine zu selbstständige Natur.

Schon auf der Husumer Schule hatte ich mich in Versen versucht, aber es war eine inhaltslose Spielerei; in Lübeck wurde der Ton ein etwas anderer; aber es war immerhin nur noch ein schülerhaftes Flügelprüfen; auch aus der Universitätszeit ist nur Weniges stehn geblieben.

Erst als ich in meiner Vaterstadt Advokat geworden, als ich absolut für mich selbst verantwortlich geworden war und mein Leben einen festen Inhalt gewonnen hatte, wurde meine Lyrik fertig. Und als ich die schicksalsschweren Lieder, welche die kleine Dichtung „Immensee“ tragen, geschrieben hatte<:> „Meine Mutter hats gewollt“ und das „Lied des Harfenmädchens“, als dann auch noch das „Oktoberlied“ entstanden war, da war mir, auch ich sei jener seltenen reinen und tiefen Lyrik mächtig, die ich nur bei Goethe, Uhland, Eichendorf, Heine und Eduard Mörike gefunden hatte (und bei allen diesen auch nur in einzelnen Gedichten). Und dies Gefühl – ich darf es, dem Lebensende so nahe, wohl aussprechen, denn wehe dem, der nicht im Alter an das glaubt, was er stets für seine beste Lebensarbeit angesehen hat (trotzdem eine junge Gesellschaft in Berlin, die, mit mehr Feuer als Fähigkeit, schon den Literaturzügel in der Hand zu haben meint, mich schon zu den Abgetanen werfen möchte und obschon über ein Menschenalter hinaus kaum Wenige von meiner Lyrik etwas wussten) – dies Gefühl ist jetzt meine feste Überzeugung.

 

(3)

Mir ist, als hätte ich Ihnen seit jenem halbdiktierten Brief vom Krankenbette aus noch nicht wieder geschrieben; aber so soll das neue Jahr doch nicht vorübergehn. Meine Genesung nach dem fünfmonatlichen Lager nahm erst einen recht heiteren Anfang; ich konnte wieder leicht arbeiten und brachte auch etwas fertig; dann aber erschienen allerlei Teufeleien, die mir noch jetzt das Leben so erschweren, dass mir zu freier Arbeit eigentlich nur der Vormittag verbleibt; ich will Sie mit Aufzählung nicht langweilen. Der Geburtstag war ganz schön, wäre es nur nicht der siebenzigste gewesen; am Abende ca. 100 Gäste, das ganze Dorf war voll Trubel, Ehrenpforten, originellste Illumination, die Dorfschulmädchen kamen mit ihren Lehrern und anderthalbhundert Stocklaternen. Paetel, der auch hier war, hatte so etwas in seinem Berlin noch nie gesehen; durch fünf, sechs Ehrenpforten fuhren wir ins Gasthaus zur Mittagstafel; die Kieler Frauen überreichten mir einen wahrhaft fürstlichen Schreibtisch, an dem ich eben schreibe; Bürgermeister und Bürger-Worthalter aus Husum überreichten mir das Ehrenbürgerrecht meiner Vaterstadt; alles ging wie im Rausch vorüber. Ich bin nicht unempfindlich gegen soviel freundliche Anerkennung - auch mein Landsmann Wilhelm Jensen war aus seinem Freiburg i. Br. mit seiner sechzehnjährigen Tochter herübergekommen –, mitunter aber ist mir's nachher gewesen, der siebzigste Geburtstag des „redlichen Tamm“ sei doch ein noch schönerer gewesen; freilich meinen Mittagsschlaf ließ auch ich mir an diesem Tag nicht nehmen, und auch ich „hing in der trautesten Kinder Umarmung“; denn Tochter und Mann waren aus dem Pastorat zu Grube und Sohn und Weib waren aus Husum – mein Ernst, der Jurist, hat seine Amtsrichtern aufgegeben und ist seit Mai Rechtsanwalt und Notar in der alten Vaterstadt -herübergekommen; drei Töchter waren mir im Hause, und Frau Do hat der trefflichen alten Frau Küster Tamm nichts nachgegeben, wenn ihr an dem heißen Tage auch der Pantoffel nicht entflogen ist.

 

Quellen

(1) und (2) LL 4, S. 487-491; Kommentar S. 974-977. Ediert nach den Handschriften in der SHLB.

Notizen, die Storm während der Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag am 14. September 1887 im Gasthaus Thiessen in Hademarschen für eine Ansprache verwendet hat.

(3) Theodor Storm an Gottfried Keller. Husum, 9.12.1887. In: Br. Keller, S. 132f.

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Reise nach Sylt* (August 1887)

(1)

12. August: Sylt, Westerland. Am 9. des Monats von meinen lieben Kindern fort; über Tondern hieher. Stürmische Überfahrt von Hoyer nach Munkmarsch; Lute seekrank.

Von Paetels am Ufer empfangen (Pollacseck zu Pferde) und zu letzterem ins Quartier gebracht, wo auch jetzt noch Präsident Tiedemann ist. Wir plaudern viel zusammen. – Bis jetzt Sturm, der uns die Majestät des Meeres zeigte.

Lucie's Koffer Sonntag in Neumünster expediert, ist nicht angekommen. Heute Lucie's Geburtstag; es ist 6 Uhr morgens; noch immer Sturm und Regen über der melancholischen Dünenlandschaft und Möwenschrei. Eben lassen sich zwei große Silbermöwen vor meinem Fenster nieder und laufen schreiend neben ein ander über die Dünen.

 

(2)

Sonntag machten unsere Hauswirte mit 2 Fräulein Schiff, Schwägerinnen von Julius Rodenberg, netten gebildeten Damen, Jüdinnen von Geburt, jetzt der freireligiösen protestantischen Sekte angehörig, und natürlich Tiedemann, eine Tour nach Wenningstedt, ½ St. zu Wagen. Als Tiedemann und ich oben auf einer Düne saßen, erzählte er mir, indem wir in die Dünenwildnis hinabsahen und der kalte Wind uns ins Gesicht blies, den Stoff zu einer Sylter Novelle, den er sich tags zuvor erdacht hatte. Er ist so vortrefflich, dass ich schon gleich ans Schreiben mochte. Die Skizzierung habe ich schon begonnen.

An Bekannten traf ich außer Harbon's nur eine Husumer Familie, dann Oppenheim's, Heyse's, Hamburger Freunde, Juden, anmutige Menschen. Bekanntschaft machten wir nur mit Staatsrat's Bülow aus Schwerin; die schone blonde Frau Ernestine geb. Brockdorf – der Vater war Amtmann in Neumünster, wo Helene und ich vor vielen Jahren eine angenehme Teestunde verlebten, dann in Segeberg, wo sie bei Malvine Stolle's Hochzeit Brautjungfer war. Prächtige Leute; sie haben 2 Kinder 1 Jungen u. 1 Mädel von etwa 4 und 5 Jahren. Lute geht morgen mit ihnen zur Reunion, wo wir auch vorigen Mittwoch waren. Wir fuhren zusammen von Hoyer hierher.

Mittags.

Lute ist heut beim Dr. Lahusen gewesen, der ihr gleich gesagt hat: Sic haben ein Magengeschwür gehabt. Ihr Bruder hatte recht; und da sind die Narben. Warme Bäder, mehrmaliges Niederlegen ohne Corset, morgens Cacao, später Bouillon, Milch mit Cognac, zum Frühstuck Sardellen od. Caviar etc,- das muss ich armer Vater nun alles besorgen.

Heut Nachmittag fahren wir mit den Fräulein Schiff nach Rantum; das Wetter ist warm und wenig windig. Stundenlang war ich am Strand.

 

(3)

Meine geliebte Frau, noch ein Wort von hier! Ich, da ich am 19 noch in einem Tag von hier (über Hoyer) nach Husum kommen kann, reise Sonnabend diesen Weg u. dann Sonntag nach Haus. Tiedemann fährt bis Jübeck mit mir, Föhr ist also aufgegeben. – Wir essen seit einigen Tagen nach der Karte, was recht gut geht. […]

– Lute lasse ich bei meiner Abreise noch auf 3 Wochen mit Geld 125 M u. Wein u. Conjack (p. Flasche 5 M 40 &) u. Sardellen ausgerüstet hier zurück. Es ist 9 U. Morgens, u. sie ist eben zum Warm-Baden gegangen. Gestern waren wir bis reichlich 11 Uhr in der Reunion; Lute war von Staatsraths Bülow's schon zum Abendessen dort abgeholt. Ich kam mit dem hiesigen Landvogt Hübbe von Keitum, einem Verwandten unsres alten Schleiden, nach. Bülow u. Frau sind die liebenswürdigsten u. feinsten Menschen, die ich fast gesehen habe; dazu, obschon nicht jung mehr, beide schöne Menschen. Sie ist seine zweite Frau nach einer kinderlosen ersten Ehe. Die rücksichtsvolle liebenswürdige Behandlung ihrer franzosischen Bonne gewann schon auf dem Dampfschiff meine Neigung. – Heute Mittag essen wir bei Ernst's Freunden Roth's. Nach Tisch mit Dr. Pollacseck's Fuhrwerk nach Keitum, auf halbem Weg besah ich mir die alte Landvogtei, die in einer demnächstigen hier spielenden Novelle vorkommt, deren Stoff Tiedemann hier neulich vollständig skizzirt erfunden hat und mir, als wir bei Wenningstedt auf der höchsten Düne saßen, erzählte u. übergab.

Luft und Bad und Menschen tun Lute hier sehr wohl. Ich denke, sie wird demnächst ganz nett nach Hause kommen.

Nun grüß die Kinder, mein Do, – dann komm' ich, und wir wollen glücklich mit einander sein. Du schriebst: ,,Ich schone mich für Dich, mein Mann!“ Wie mich das glücklich machte! Ja, schone Dich für mich, meine geliebte Frau!

Dein Mann Lucie laß Euch alle grüßen! Theodor St.

 

(4)

Gestern waren wir in dem großen schonen Dorfe Keitum, wo mich besonders die Sammlungen (,,Das Museum“) des alten verstorbenen Küsters Hansen interessieren, die dessen Witwe uns zeigte. Ich sagte ihr (sie war seine 3te Frau) dass ich damals in Schleswig-Holst. Volkskalender der Kamerad ihres Mannes gewesen sei, worüber die Alte ganz gerührt wurde.

Heute fahren wir zur Vogelkoje; Pollacseck immer zu Pferde nachkommend.

 

(5)

19. August: Am vorigen Sonntag mit Pollacsecks und Tiedemann und Schiff's nach Wennigstedt. Prächtige Dünen. Auf der Spitze einer Düne sitzend erzählt Tiedemann mir die von ihm tagsüber erdachte Novellenskizze. Ich habe sie notiert.

Heut Nachmittag nach der Vogelkoje. Auf dem Weg nach Keitum die alte Landvogtei besichtigt bei Tinnum 1748 erbaut. (Die Bäume im Garten. Die Sonnenuhr. „Una ex hisce morieris“. - Die alte Tinnumburg.)

 

(6)

22. August: Am 19ten Nachmittags auf Sylt Fahrt nach der Vogelkoje mit Frau Elise und den 3 Kindern, Frl. Schiff und dem Gärtner Martens von Lichterfelde bei Berlin. Etwa 2 Meilen von Westerland. In die Dünen hinein über die Heide, mussten 4 oder 5 mal absteigen, um mit dem weitspurigen Wagen nicht den Hals zu brechen. Das Wandern in dem niedrigen Wäldchen. Der Königsfarren. Rückfahrt: eine Seite Meer, an drei Seiten Dünen; über die nach Wenningstedt sieht beim Abendwerden der eine Leuchtturm mit seinem roten Licht.

Am 20. August mit Tiedemann über Hoyer und Jübek; er nach Berlin, ich nach Husum bei Aemil. Netter Abend mit ihm und Ernst und Kasi. Gestern Abend glücklich zu Haus bei Do, Gertrud, Dodo und Ebbe, die noch bis 1. September bleibt.

 

(7)

Zehn Tage war ich auf der Sageninsel Sylt, wo ich auch die alte, von ihren Bewohnern zur Zeit verlassene Landvogtei besuchte; „una ex hisce morieris“, stand auf der Sonnenuhr des Hausgiebels, der sich nach der Gartenseite wendete. Ja, morieris dachte ich; denn es ist Zeit, jetzt daran zu denken. Von meiner Krankheit an – Krankheiten wäre richtiger – hat das Greisenalter bei mir begonnen, und dieses Alter, das die Schaffenskraft verzehrt, vor dem schaudere ich ein wenig.

 

Quellen

(1) Theodor Storm: Braunes Taschenbuch (1887), LL 4, S. 556.

(2) Theodor an Dorothea Storm, Brief vom 16.8.1887. In: Br. Dorothea Storm. S. 87f.

(3) Theodor an Dorothea Storm, Brief vom 17.8.1887. In: Br. Dorothea Storm. S. 88f.

(4) Theodor an Dorothea Storm, Brief vom 18.8.1887. In: Br. Dorothea Storm. S. 89.

(5) Theodor Storm: Braunes Taschenbuch (1887). In: LL 4, S. 557.

(6) Theodor Storm: Braunes Taschenbuch (1887). In: LL 4, S. 557.

(7) Theodor Storm an Wilhelm Jensen, Herbst 1887. In: Jensen 1899/1900, S. 510.

Ferdinand Tönnies, der Storm auf seiner Reise begleitet hatte, schrieb darüber 1917: „Im August 1887 begleitete ich ihn und seine Tochter Lucie nach der Insel Sylt, die Storm zum ersten Male betrat. Er sah zum ersten Mal den großen Strand und das offene Meer – freilich in Sturm und Regenwetter tritt der „blanke Hans“, wie die Friesen sagen, in unsrem Wattenmeer nicht minder gewaltig auf, das er seit seiner Kindheit so gut kannte. Er wohnte in Westerland bei dem damaligen Badedirektor Dr. Pollacsek, dessen Frau, geborene Tiedemann durch Familienbeziehungen ihm bekannt war (eine Schwester, wenn ich nicht irre, Christoph [von] Tiedemanns, des bekannten Politikers und Mitarbeiters Bismarcks). Ich bin mehrfach in seinem kleinen Gemach bei ihm gewesen. Viel Spaß machten ihm meine Erzählungen von dem Eindruck, den sein Kommen in der „gebildeten“ Badegesellschaft gemacht hatte. Ich befand mich am Abend unseres Eintreffens im Hotel „Zum deutschen Kaiser“ (Hast) und war genötigt, die Gespräche zu hören, die an einer langen, wohlbesetzten Abendtafel geführt wurden. Wie üblich, sprach man von neu eingetroffenen Badegästen. „Der Dichter Storm soll auch angekommen sein“, rief eine Dame über den Tisch hinüber. „Ja, ja,“ erwiderte ein Herr recht laut, „der den ‚Quickborn’ geschrieben hat, nicht wahr?“ „Jawohl,“ sagte dann noch ein dritter nachdenklich, und „Sein letzter Ritt“. Der Dichter, dem seine Berühmtheit in diesem Spiegel entgegentrat, lachte über die Vermischungen mit Klaus Groth und Graf Strachwitz herzlich.“ Ferdinand Tönnies: Gedenkblätter. Theodor Storm. Zum 14. September 1917. Berlin 1917, S. 64f.

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Literatur

 

Abkürzungen

SHLB                                          Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel

StA                                              Storm-Archiv, Husum

STSG                                          Schriften der heodor-Storm-Gesellschaft

Theodor Storm, Sämtliche Werke, hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, 4 Bände, Frankfurt am Main 1987/88. (Abgekürzt: LL mit Band- und Seitennummer.)

Eversberg 1995                           Gerd Eversberg (Hrsg.): Storms erste große Liebe. Theodor Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Gedanken. Heide 1995. (Editionen aus dem Storm-Haus 8.)

Eversberg 2006                           Gerd Eversberg: Theodor Storm als Schüler. Mit vier Prosatexten und den Gedichten von 1833 bis 1837 sowie sechs Briefen. Heide 2006.

Eversberg 2016                           Mit Theodor Storm auf Sylt. Erkundungen auf den Spuren des Dichters. Husum 2016.

Eversberg 2017                           Theodor Storm. Künstler – Jurist – Bürger. Weimar 2017.

Jensen 1899/1900                       Wilhelm Jensen: Storm-Erinnerungen. In: Velhagen und Clasings Monatshefte 1899/1900, Bd. II, S. 501–502.

Laage 1987                                 Karl Ernst Laage: Theodor Storms Welt in Bildern. Heide 1987.

Gertrud Storm 1912/13               Gertrud Storm: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. 2 Bände. Berlin 1912/13.

 

Briefe

Br. Christen                            Storm als Erzieher. Seine Briefe an Ada Christen, hrsg. von Oskar Katann. Wien 1948.

Br. Braut                                Theodor Storm – Constanze Esmarch. Briefwechsel, hrsg. von Regina Fasold. 2 Bde, Berlin 2002.

Br. Constanze Storm              Theodor Storm – Constanze Storm. Briefwechsel, hrsg. von Regina Fasold. Berlin 2009.

Br. Brinkmann                        Theodor Storm Hartmuth und Laura Brinkmann. Briefwechsel, hrsg. von August Stahl. Berlin 1986.

Br. Eltern                                Theodor Storm, Briefe in die Heimat (an die Eltern), hrsg. v. Gertrud Storm. Berlin 1907.

Br. Esmarch                            Theodor Storm - Ernst Esmarch. Briefwechsel, hrsg. von Arthur Tilo Alt. Berlin 1979.

Br. Groth                                Theodor Storm – Klaus Groth. Briefwechsel, hrsg. von Boy Hinrichs. Berlin 1990.

Br. Heyse                               Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel, hrsg. von Clifford Albrecht Bernd. 3 Bde. Berlin 1969/70/74.

Br. Keller                                Theodor Storm – Gottfried Keller. Briefwechsel, hrsg. von Karl Ernst Laage. Berlin 1992.

Br. Kuh                                  Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Emil Kuh, veröffentlicht von Paul R. Kuh. In: Westermanns Monatshefte 67 (1889/90).

Br. Mörike                              Theodor Storm – Eduard Mörike. Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel, hrsg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978.

Br. Mommsen                         Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen, hrsg von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966.

Br. Dorothea Storm                Gerhard Ranft: Theodor Storm und Dorothea, geb. Jensen. Ein unveröffentlichter Briefwechsel. In: STSG 28 (1979), S. 34-97.

Br. Schleiden                          Theodor Storm – Heinrich Schleiden. Briefwechsel, hrsg von Peter Goldammer. Berlin 1995.

Br. Turgenjew                        Karl Ernst Laage: Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche und literarische Beziehungen, Einflüsse, Briefe, Bilder. In: STSG 16 (1967).

Briefe I und II                        Theodor Storm. Briefe, hrsg. von Peter Goldammer, 2. Bde. Berlin, 2. Aufl. 1984.

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Zeittafel zu Leben und Werk

 

1817    Hans Theodor Woldsen Storm wird am 14. September in Husum, Markt 9, als Sohn des Rechtsanwalts Johann Casimir Storm (1790–1874) geboren; Mutter: Lucie, geb. Woldsen (1797–1879).

1826    Storm tritt in die Quarta der Husumer Gelehrtenschule ein. Der Vater wirkt als Kommittierter des 3. Schleswiger Deichbandes bei den ersten Küstenschutzmaßnahmen nach der Sturmflut von 1825 mit.

1834    Der Schüler schreibt Gedichte nach antiken und klassischen Vorbildern und orientiert sich an der Wochenblatt-Poesie. Erste Gedichtveröffentlichung Sängers Abendlied im Husumer Wochenblatt vom 27. Juli 1834 sowie der ersten Prosa-Arbeit im „Dithmarser und Eiderstedter Boten“.

1835    Im Herbst Umschulung in die Prima des Katharineums in Lübeck.

1836    In Lübeck Bekanntschaft mit Emanuel Geibel und Freundschaft mit Ferdinand Röse, der ihn für die zeitgenössische Literatur begeistert.

1837    Beginn des Jura-Studiums in Kiel; Storm schreibt ein Märchen und Gedichte für Bertha von Buchan; Verlobung mit der 17-jährigen Emma Kühl von Föhr.

1838    Entlobung; Studium in Berlin, Bildungsreise nach Dresden. Veröffentlichung von Gedichten in den „Neuen Pariser Modeblättern“.

1839    Rückkehr zur Universität Kiel; Freundschaft mit Theodor und Tycho Mommsen.

1840    Veröffentlichung von Gedichten im „Album der Boudoirs“.

1842    Bertha von Buchan weist Storms Heiratsantrag zurück. Juristisches Staatsexamen in Kiel. Beginn der Sammlung von Märchen, Sagen und Reimen aus Schleswig-Holstein. Seit Herbst lebt Theodor Storm wieder in Husum.

1843    Zunächst arbeitet Storm in der väterlichen Kanzlei; Anfang des Jahres eröffnet er eine eigene Rechtsanwaltskanzlei; Gründung eines gemischten Gesangvereins. Veröffentlichungen im „Volksbuch auf das Jahr 1844“ und im „Liederbuch dreier Freunde“. Zusammenstellung einer Sammlung von Spukgeschichten.

1844    Verlobung mit seiner Cousine Constanze Esmarch, Tochter des Bürgermeisters von Segeberg; Braut-Briefwechsel; Teilnahme am Nordfriesenfest in Bredstedt; Storm ist mit den Kindern des Amtmannes Gotsche von Krogh befreundet.

1845    Einzug in das Haus Neustadt 56. Karl Müllenhoff gibt die Sagensammlung mit vielen Beiträgen von Storm zum Druck.

1846    Eheschließung mit Constanze in Segeberg. Weitere Arbeiten für die „Volksbücher für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“.

1847    Liebesverhältnis zu Dorothea Jensen, leidenschaftliche Liebesgedichte, z. B. Rote Rosen; die Erzählung Marthe und ihre Uhr wird im „Volksbuch“ veröffentlicht.

1848    Storm engagiert sich für die nationale Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins und verfasst Berichte für die „Schleswig-Holsteinische Zeitung“, u.a. über das Bauprojekt des Dockkooges vor Husum. Er unterzeichnet eine Petition, die Personalunion mit Dänemark aufzuheben und den dänischen König der Herzogkrone für verlustig zu erklären. Storm ist Mitunterzeichner der Protestadresse gegen die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes. Gedicht: Oktoberlied.

1850    Mitglied des Wahlkomitees, das die Wahl der schleswig-holsteinischen Landesverwaltung in Husum vorbereiten sollte. Schleswig-holsteinische Truppen werden bei Idstedt von den Dänen geschlagen. Gedicht Im Herbste 1850; Beginn des Briefwechsels mit Eduard Mörike. Niederlage der Schleswig-Holsteiner bei Idstedt; Beschießung von Friedrichstadt.

1851    Der Sammelband „Sommergeschichten und Lieder“ erscheint.

1852    Storms Bestallung als Rechtsanwalt wird aufgehoben; er ist nicht bereit, eine Loyalitätserklärung gegenüber der Dänischen Krone abzugeben. Stellungssuche, erste Reise nach Berlin. Mit der Veröffentlichung von Immensee wird Storm im deutschsprachigen Kulturraum als Dichter bekannt. Die erste Sammlung seiner „Gedichte“ erscheint in Kiel (Die Stadt, Abseits).

            Geburt der Söhne Hans (1848), Ernst (1851) und Karl (1853).

1853    Storm bemüht sich in Berlin um eine Stelle im preußischen Justizdienst; schließlich wird er zum Gerichtsassessor (zunächst ohne Gehalt) ernannt; Wohnung in Potsdam. Storm schließt sich dem „Tunnel über der Spree“ an. Bekanntschaft mit Theodor Fontane, Paul Heyse, Franz Kugler, Friedrich Eggers u.a.

1854    Gedicht Für meine Söhne, Novellen Ein grünes Blatt, Im Sonnenschein; Begegnung mit Josef von Eichendorff.

1855    Besuch bei Eduard Mörike in Stuttgart. Geburt der Tochter Lisbeth (1855). Novelle Angelika.

            Storm führt umfangreiche Briefwechsel mit Freunden und Kollegen.

1856    Freundschaft mit dem Immensee-Illustrator Ludwig Pietsch; Ernennung zum Kreisrichter in Heiligenstadt; Übersiedlung nach Thüringen.

1857    Freundschaft mit dem Landrat Alexander von Wussow. Humoristische Erzählung Wenn die Äpfel reif sind.

1858/9 In Heiligenstadt entsteht die Novelle Auf dem Staatshof, in der Storm seine zunehmend kritische gesellschaftspolitische Position darstellt. Gründung eines Gesangvereins in Heiligenstadt. Anthologie „Deutsche Liebeslieder seit Joh. Chr. Günther“.

1860    Geburt der Tochter Lucie; Novelle Späte Rosen.

1861    Novellen Drüben am Markt und Veronica.

1862    Storm schreibt die Weihnachtsballade Knecht Ruprecht; neben den Novellen Auf der Universität und Im Schloss, in denen er seine demokratische Gesinnung veranschaulicht, konzipiert er das Märchen Die Regentrude und eine Reihe von Spukgeschichten (Am Kamin, Bulemanns Haus, Der Spiegel des Cyprianus). Storm schreibt für verschiedene Familienzeitschriften, u.a für die „Gartenlaube“.

1863    Geburt der Tochter Elsabe. Tod des dänischen Königs Friedrich VII. Proklamation des Erbprinzen Friedrich von Augustenburg zum Herzog eines selbständigen Schleswig-Holstein. Storms Gedicht Und haben wir unser Herzoglein …

1864    In Folge des Deutsch-Dänischen Krieges besiegen preußisch-österreichische Truppen Dänemark und besetzen die Herzogtümer Schleswig und Holstein. Storm wird zum Landvogt ernannt; er scheidet aus dem preußischen Staatsdienst aus und kehrt nach Husum zurück.

1864    Im März tritt Storm sein Landvogt-Amt in Husum an.

1865    Nach der Geburt der Tochter Gertrud Tod seiner Frau Constanzes. Gedichtzyklus Tiefe Schatten; Novelle Von Jenseit des Meeres. Reise nach Baden-Baden zu Iwan Turgenjew.

1866    Krieg zwischen Preußen und Österreich. Einmarsch preußischer Truppen in Holstein; Sieg der Preußen über die Österreicher bei Königgrätz. Beide Herzogtümer werden preußisch. Vermählung mit Dorothea Jensen; Umzug in das Haus Wasserreihe 31.

1867    Freundschaft mit Klaus Groth, Novellen In St. Jürgen und Eine Malerarbeit. Freundschaft mit dem Landrat Ludwig Graf zu Reventlow und seiner Frau.

1868    Nach der Annektierung der Herzogtümer und der Aufhebung des Amtes des Landvogts wird Storm preußischer Amtsrichter; die erste Auflage der „Sämtlichen Schriften“ erscheint im Verlag von George Westermann. Geburt der Tochter Friederike.

1870    Deutsch-französischer Krieg. Storm spricht sich gegen den Krieg aus, lehnt Abfassung von „Schutz- und Trutzliedern“ ab, hat „mehr Begeisterung für den Kampf im Staate als für den um seine Grenzen“. Storm stellt aus genauer Kenntnis der deutschen Lyrik das „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie“ zusammen. Freundschaft mit dem Illustrator Hans Speckter.

1871    Storm entwirft die Zerstreute(n) Kapitel und experimentiert mit neuen Erzählmustern.

1872    Novellen Draußen im Heidedorf und Eine Halligfahrt; Reise nach Leopoldskron bei Salzburg zum österreichischen Politiker und Schriftsteller Julius Schindler, der unter dem Namen „Julius von der Traun“ Erzählungen veröffentlichte.

1873    Beginn der Freundschaft und des Briefwechsels mit Wilhelm Petersen.

1874    Ernennung zum Oberamtsrichter; Tod des Vaters; Novellen Beim Vetter Christian und Waldwinkel; Als Auftragsarbeit entsteht Pole Poppenspäler, die einzige eigens für die Jugend geschriebene Erzählung Storms. Verarbeitung der Stiefmutterprobleme in der Novelle Viola tricolor.

1875    Novellen Ein stiller Musikant, Psyche und Im Nachbarhause links; Gedicht Über die Heide und Zyklus Neue Fiedellieder.

1876    Aquis submersus; Meine Erinnerungen an Eduard Mörike; Reise nach Würzburg zu seinem ältesten Sohn Hans; Storm als Mitarbeiter von „Westermanns Monatsheften“.

1877    Zweite Reise nach Würzburg, um Hans durchs medizinische Examen zu bringen; Beginn der Freundschaft und des Briefwechsels mit Gottfried Keller und mit dem Literaturwissenschaftler Erich Schmidt; Storms Novellistik entwickelt sich mit Carsten Curator in Richtung einer kompromisslosen Realistik.

1878    In der Novelle Renate thematisiert Storm gesellschaftliche Veränderungen seiner Zeit im Gewand der Geschichtserzählung (Chroniknovellen).

1879    Ernennung zum Oberrat; Novellen Zur Wald-und Wasserfreude, Im Brauer-Hause, Eekenhof; Tod der Mutter; Storm veröffentlicht abwechselnd in den „Monatsheften“ und der „Deutschen Rundschau“.

1880    Storm wird auf eigenen Wunsch pensioniert und beschließt, mit seiner Familie Husum zu verlassen.

1880    Umzug nach Hademarschen; Neubau einer großzügigen Villa; Novelle Die Söhne des Senators.

1881/2 Mit seinen Erzählungen Der Herr Etatsrat und Hans und Heinz Kirch setzt Storm die Kritik am Bürgertum der Gründerzeit fort und thematisiert den Verfall der Familie. In seiner eigenen Familie häufen sich die Probleme der heranwachsenden Kinder.

1883    Novelle Schweigen; Verleihung des Bayrischen Maximilianordens.

1884    Zur Chronik von Grieshuus; Festbankett in Berlin zu Ehren Storms.

1885    John Riew’, Ein Fest auf Haderslevhuus; Konzeption einer „Deichgeschichte“; Storm beginnt mit ausführlichen Quellenstudien.

1886    Reise nach Weimar zur Jahresversammlung der „Goethe-Gesellschaft“; Bötjer Basch; Storm lässt sich von dem Wasserbauingenieur Christian Eckermann über die Geschichte und die Technik des Deichbaus informieren; Beginn der Niederschrift der Schimmelreiter-Novelle; Eine schwere Krankheit führt zur Unterbrechung der Arbeit; Tod des Sohnes Hans.

1887    Ein Doppelgänger; Ein Bekenntnis; Reise nach Sylt; Sylter Novelle (Fragment); Zur Feier seines 70. Geburtstags wird der Dichter in ganz Deutschland geehrt; Fortsetzung der Arbeiten am Schimmelreiter; Autobiografische Skizzen entstehen.

1888    Vollendung der Novelle Der Schimmelreiter im Februar, dann umfangreiche Korrekturarbeiten; Tod Storms am 4. Juli; Beisetzung am 7. Juli in der Familiengruft auf dem Husumer St. Jürgen-Friedhof.

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