Alice und das Jabberwocky-Rätsel oder Der „Unsinn“ hat Methode
„Wenn ich ein Wort benutze“, sagte Humpty-Dumpty in eher höhnischem Tonfall, „so
bedeutet es genau das, was ich an Bedeutung auswähle, nicht mehr und nicht
weniger.“
„Die Frage ist“, sagte Alice, „ob Sie wirklich die Wörter so vielerlei
Verschiedenes bedeuten lassen können.“
„Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer eigentlich die Begriffe bildet –
darauf kommt es an.“
Lewis Carroll: Through the Looking-Glass, and What Alice Found There
„Aber was nun möglich ist, wird im Laufe der Zeit unmöglich, was nun unmöglich ist, wird im Laufe der Zeit möglich! Das ist meine Lehre von der Bejahung und Verneinung einer Behauptung!“
Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland
1
Zu Beginn von Lewis Carroll’s Roman „Alice’s Adventures in Wonderland“ (1865) sitzt Alice im Garten neben ihrer Schwester auf einer Bank und langweilt sich. Ein paar Blicke in das Buch, in dem die Schwester gerade liest, zeigen ihr, dass darin keine Bilder und Gespräche enthalten sind; nach dieser Beobachtung stellt sie den Nutzen einer solchen Lektüre infrage. Ein paar Minuten später glaubt sie, ein sprechendes Kaninchen mit einer Taschenuhr wahrzunehmen und versinkt in einen Tagtraum, der in der erzählten Welt als Sturz durch das Kaninchenloch bis ins Wunderland veranschaulicht wird.
Nun kann auch die Lektüre von Erzählungen in der Fantasie des Lesers vielfältige Vorstellungen evozieren, die den Tagträumen der kleinen Alice ähneln, und es fragt sich, woher sie weiß, dass dies bei der Lektüre ihrer Schwester in einem Buch ohne „pictures or conservations“ nicht geschehen kann. Die „Gespräche“, die Alice meint, sind Erörterungen, Diskurse und Dialoge tête-à-tête. So etwas gibt es im Buch ihrer Schwester offenbar nicht. Aber genau das findet Alice in ihrem „Wonderland“, einem Land voller Absurditäten, Paradoxien und skurrilen Figuren, die sie vor verwirrende Rätsel stellen und die sie bei ihren Lösungsversuchen meistens aggressiv zurechtweisen.
In der Fortsetzung „Through the Looking-Glass“ (1872) zeigt ein Spiegel einen Teil des Wohnzimmers in jenem Haus, in dem Alice wohnt und wo sie vor einem Kamin mit Dinah und ihren Katzenkindern sowie den Schachfiguren spielt. Sie möchte gerne wissen, wie es in dem Spiegelhaus zugeht, von dem ihr der Kaminspiegel nur Ausschnitte zeigt. Sie weiß bereits einiges über dieses andere Haus, so gleichen die Bücher dort denen in ihrer Welt, nur dass „die Wörter in die falsche Richtung gehen“. Alice weiß das, weil sie eines ihrer Bücher vor den Spiegel gehalten und dann das andere Buch in der Spiegelwelt angeschaut hat. Viele Gesetzmäßigkeiten der realen Welt haben im Spiegelland keine Gültigkeit mehr, und die klassische Logik wird immer wieder außer Kraft gesetzt. Das gilt sowohl für die Bilder in der Spiegelwelt als auch für die Wörter in den Büchern darin.
Wir können Carrolls Redewendung „the words go the wrong way“ auch als Hinweis darauf lesen, dass er in seinen Roman mit der Mehrdeutigkeit von Wörtern ein poetisches Spiel treibt. Wir werden in der Erzählung immer wieder mit Ambiguität konfrontiert, die entsteht, wenn ein sprachliches Zeichen (Wort, Ausdruck, Wendung, Satz, Äußerung) auf verschiedene Weise interpretiert werden kann. Dieses Nebeneinander von Möglichkeiten entsteht, wenn ein sprachlicher Ausdruck unterschiedliche Bedeutungen umfasst, die einander ausschließen. Das geschieht bei mehrdeutigen Wörtern und Phrasen, lässt sich aber auch auf narrativer Ebene beobachten. Dann kann im Prozess des Lesens eine Annahme oder Vermutung entstehen, die eine andere ausschließt. In solchen Fällen gilt es auf die Spuren zu achten, die der Erzähler für gleichwertige aber einander widersprechende Leseweisen gelegt hat. Carrolls Sentenzen sind ein fundamentaler Angriff auf den Anspruch der traditionellen Hermeneutik – als praktisches Verfahren systematisierter Methoden – Texte auf reflektierte Weise verstehen und auslegen zu können.
Nachdem Alice durch den Spiegel in die andere Welt hinüber getreten ist und sich mit den lebendigen Schachfiguren auseinandergesetzt hat, blättert sie in einem Buch, indem sie ein Stück („some part“) findet, das sie nicht lesen kann, „Denn es ist alles in einer Sprache geschrieben, die ich nicht kenne.“ An dieser Stelle ist im Romantext ein Faksimile der gespiegelten ersten Strophe des „Jabberwocky“ eingefügt. Nachdem Alice eine Weile herumrätselt hat, kommt ihr eine Idee: „Es ist nämlich ein Spiegel-Buch! Und wenn ich es vor einen Spiegel halte, werden die Worte wieder in die richtige Richtung gehen.“
Dann wird dem Leser mitgeteilt, was Alice gerade im Spiegel gelesen hat: Die Ballade vom Jabberwocky.
‘Twas brillig, and the slithy toves
Did gyre and gimble in the wabe:
All mimsy were the borogoves,
And the mome raths outgrabe.
usw.
Das Gedicht erscheine ihr „ziemlich gut“ aber sie stellt nach der Lektüre fest, dass man es „nur schwer verstehen“ kann. Und der Erzähler fügt folgenden Kommentar hinzu: „Wie man sehen kann, wollte sie nicht einmal vor sich selbst eingestehen, dass sie überhaupt nichts verstanden hatte.“ Am Ende des Kapitels resümiert Alice: „Irgendwie füllt es meinen Kopf nur mit Vorstellungen, ich weiß nicht genau, was sie bedeuten! Jemand hat etwas getötet: Das jedenfalls ist klar.“ Daraus wird deutlich, dass ihr „Jabberwocky“ als Rätsel erschien; sie verlässt nun das Spiegelhaus und betritt den Garten auf der Suche nach der Lösung dieses Rätsels.
Ein Rätsel enthält Aussagen, Fragen oder Phrasen mit doppelter oder versteckter Bedeutung, die als Lösung herausgefunden werden muss. Es gibt zwei Arten von Rätseln: solche, bei denen es sich um Probleme handelt, die im Allgemeinen in metaphorischer oder allegorischer Sprache ausgedrückt werden und andere, für deren Lösung Einfallsreichtum, sorgfältiges Denken und auch Wissen erforderlich sind.
Bevor wir Alice folgen und uns genauer ansehen, wie sie das Jabberwocky-Rätsel entschlüsselt, lohnt ein Blick auf einen der ersten Leser von Carrolls Text. Der britischer Philologe und Lexikograf Robert Scott (1811-1887) veröffentlichte 1872 eine deutsche Übersetzung, die sich schon vordergründig als Parodie zu erkennen gibt, weil er als deren Verfasser einen Hermann von Schwindel erfindet. Scott gibt seine Übertragung des Jabberwocky als Quelle von Carrolls Dichtung aus und schafft damit eine stilistische Transformation wie bei Parodie und Travestie. Einerseits ist sein Poem die Nachahmung und stilistische Umbildung eines literarischen Werkes, andererseits zieht er Carrolls Gedicht ins Lächerliche, indem er ihm unterstellt, es handele sich um ein Plagiat, dass sein Kollege aus einer fremden Sprache einfach nur ins Englische übersetzt habe. Im Unterschied zu allen späteren Übertragungen ins Deutsche behält Scott fast alle englischen Neologismen bei, um so zunächst den Eindruck zu erzeugen, Carroll habe sich bei seiner „Übersetzung“ ins Englische bei einem Lied aus den antinapoleonischen Befreiungskriegen von Carl Theodor Körner (1791-1813) bedient.
Auf diese Weise gewinnt Scott einen Schlüssel zur Lösung des Jabberwocky-Rätsels, den er dem Herausgeber von Macmillan's Magazine unter dem Pseudonym Thomas Chatterton mitteilt und damit „Jabberwocky“ folgendermaßen deutet: „Der Jabberwock ist nur ein Jammerwoch, der einen Schnupfen hat […]. Und sein Name, „schlimme Woche“, ist ein mythischer Ausdruck für den Siebenjährigen Krieg und damit für andere Verwüstungen des Vaterlandes.“
Indem Scott in parodistische Absicht unterstellt, „Jabberwocky“ sei eine Übertragung aus dem Deutschen ins Englische, kann er das Rätsel, wer oder was dieses Ungeheuer ist und was mit ihm geschieht, ganz einfach lösen, indem er – scheinbar philologisch seriös – die Quelle einem unbekannten Dichter aus Böhmen im damaligen Kaisertum Österreich zuschreibt. Ein gewisser Hermann von Schwindel aus der Geisterwelt übermittelt ihm während einer abendlichen Séance durch Klopfgeräusche ein Erzählgedicht, das Scott dechiffrieren – offenbar beherrscht er den seit 1844 verwendeten Morse Landline Code – und anschließend als Lösung des Rätsels der literarischen Öffentlichkeit präsentieren kann. Scott „zwingt“ die Wörter auf diese Weise, das zu bedeuten, was er will, indem er eine von mehreren Möglichkeiten auswählt. Wir lernen daraus, dass es beim Verstehen von Texten darauf ankommen kann, wer die Begriffe bildet.
Eine Lösung in diesem Sinn findet Alice erst im 6. Kapitel von „Looking Glass“. Nachdem sie dem Schaf ein Ei abgekauft hat, das dieses (wie das Ei des Kolumbus) auf ein Regal stellt, verändert sich die Szene: Der Laden verwandelt sich in eine baumbestandene Landschaft, das Ei entrückt mehr und mehr, um sich schließlich in eine anthropomorphe Gestalt zu verwandelt, die hoch auf einer Mauer sitzt.
Das Ei wurde jedoch immer größer und
menschlicher. Als sie auf ein paar Meter herangekommen war, sah sie, dass es
Augen, eine Nase und einen Mund hatte. Und als sie nahe genug herangekommen war,
sah sie deutlich, dass es HUMPTY DUMPTY selbst war. „Es kann niemand anderes
sein!“, sprach sie zu sich selbst. „Ich bin mir so sicher, als ob sein Name über
sein Gesicht geschrieben wäre!“
Man hätte es leicht hundertmal auf dieses riesige Gesicht schreiben können.
Humpty Dumpty saß im Türkensitz mit gekreuzten Beinen auf einer hohen Mauer, die
so schmal war, dass Alice sich sehr wunderte, wie er das Gleichgewicht halten
konnte. Da seine Augen fest in die entgegengesetzte Richtung fixiert waren und
er nicht die geringste Notiz von ihr nahm, meinte sie, es müsse sich doch um
eine ausgestopfte Figur handeln.
„Und er sieht exakt wie ein Ei aus!", sagte sie laut und streckte die Hände aus,
um ihn aufzufangen, denn sie erwartete jeden Moment, dass er fallen würde.
Alice kennt „Humpty Dumpty“; vielleicht hat sie das Rätsel in irgend einem Nursery Rhymes-Book gelesen. Deshalb weiß sie auch, dass er gleich herunterfallen wird und tritt näher, um ihn gegebenenfalls aufzufangen. Ihre Bemerkung, dass er einem Ei gleiche, findet er „äußerst provokativ“. Alice stellt aber klar, dass sie nur gesagt habe, er sehe aus wie ein Ei, nicht dass er eines sei. Dann memoriert sie die Verse:
Humpty Dumpty
sat on a wall,
Humpty Dumpty had a great fall;
All the King's horses and all the King's men,
Couldn't put Humpty Dumpty in his place again.
Das ursprünglich Rätsel leitet zunächst in die Irre, weil der Name „Humpty Dumpty“ um 1800 eine kleine und ungeschickte Person bezeichnete, die – wenn sie von einer hohen Mauer fällt – nicht irreparabel beschädigt werden muss, während dies bei einem Ei der Fall wäre. Er ist aus einer Kombination der Basiswörter „hump“ (Buckel, Höcker) und „dump“ (hinplumpsen, Plumps) entstanden.
Humpty Dumpty weiß, dass er von der Mauer stürzen und dabei kaputt gehen wird, denn er ist ja das, wonach das Rätsel fragt. Bitter beschreibt er am Ende ihres Gesprächs sein zerbrochenes Gesicht, „die beiden Augen auf derselben Seite der Nase oder den Mund oben“ und prophezeit Alice, was sie ebenfalls schon lange weiß, dass er nämlich gleich zerschellen wird. Im Roman wird dieses Geschehen übersprungen, allerdings markiert die Zäsur zwischen den Kapiteln sieben und acht, das mit den Worten „Gleich darauf“ beginnt, den Zeitraum, in dem der König und seine Soldaten vergeblich versucht haben, Humpty Dumpty nach seiner Reparatur wieder auf die Mauer zu hieven.
2
Das Humpty Dumpty-Kapitel wird häufig als herausragendes Beispiel der englischen Nonsensliteratur kategorisiert. „Nonsens“ bezeichnet gesprochene oder geschriebene Wörter, die keine Bedeutung haben oder keinen Sinn ergeben; in der ‘nonsense poetry’ sind Verse oder andere Texte gemeint, die aufgrund ihrer absurden oder skurrilen Sprache humorvoll und amüsant sein sollen.
Das deutsche Wort „Unsinn“ wird seit der Aufklärung gerne im Sinne des englischen Substantivs „nonsense“ verwendet; es bezeichnet ursprünglich den Mangel an Sinn. Dabei zielt „Sinn“ auf die geistige, intellektuelle, verstandesmäßige Seite des Menschen und benennt objektiv das Gedachte oder Vorgestellte. „Ich sprach, und du vernahmst den Sinn meiner Worte nicht“ (Friedrich Schiller, „Wilhelm Tell“, Tell 1, 2). In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist „Sinn“ nur noch gebräuchlich in der Bedeutung Meinung, dem geistigen Gehalte oder der Tendenz einer Äußerung, eines Werks oder (seltener) einer Handlung im Gegensatze zu ihrem Wortlaut bzw. ihrer äußeren Erscheinung. Häufig werden mehrere „Sinne“ unterschieden, sowohl mehrere Bedeutungen z. B. eines Worts, als auch besonders mehrere Auffassungsweisen. Namentlich wird gern dem „wörtlichen“ oder „buchstäblichen“ Sinn“ ein freierer, geistiger, bildlicher, innerer, geheimer Sinn und ähnliches gegenübergestellt. (Grimm'sches Wörterbuch). Insofern kann „Unsinn“ auch dessen Gegenteil bedeuten.
1994 veröffentlichte Jean-Jacques Lecercle seine „Philosophy of Nonsense“ (London und New York 1994); seine Grundthese lautet: Nonsenses-Texte kehren die übliche Positionierung von Text zu Theorie um, indem sie ihre Theorie im Voraus lesen: Sie sind die reflexive, aktive Schnittstelle zwischen Literatur, Linguistik und Sprachphilosophie. Solche Texte müssen wie alle Texte im Lichte philosophischer und sprachtheoretischer Konzepte gelesen werden, aber sie eröffnen zugleich neue Denkweisen und Theorien über Sprache. Lecercle behauptet, dass diese neue Philosophie nicht weniger als eine konfrontative Neubewertung der analytischen und abendländischen Traditionen der Sprachphilosophie sei. Seine Untersuchung des Dialogs zwischen Alice und Humpty Dumpty verbleibt aber sprachanalytisch formal; den Gegenstand seiner Analyse begreift er als zeitloses Sprachspiel. Indem er sich auf die innere Kohärenz der Texte konzentriert, auf die Regeln und Maximen, die sich aus dem Korpus ableiten lassen, findet er eine Struktur, die sich in einer Reihe von begrifflichen Dichotomien ausdrückt. Aber einen „Sinn“ in der Bedeutung eines Gegenbegriffs von „Nonsens“ findet er auf diese Weise nicht.
Dass es sich bei dem Dialog zwischen Alice und Humpty Dumpty und bei der anschließenden Szene mit dem Weißen König und seinen herumtaumelnden Mannen nicht um reinen Un-Sinn handelt, wird erst deutlich, wenn man eine bisher übersehenen Quelle Carrolls zu Rate zieht, einen Druck aus dem Jahre 1843. Es enthält eine Bildfolge, die von knappen Texten begleitet wird und in der die Geschichte Humpty Dumpty so erzählt wird, wie das Rätsel sie zusammenfasst. Dies könnte das „Buch“ sein, von dem Alice spricht.
Die farbige Broschüre (Humpty Dumpty. 1843. Titelseite mit sechs Übersetzungen sowie sieben farbige Bilder. The New York Public Library. Digital Collection) präsentiert die ganze Geschichte von Humpty Dumpty in Wort und Bild. Die deutschen Verse lauten:
Humpty Dumpty einst auf der Mauer hoch sass
Herunter fiel Dumpty, das war wirklich kein Spass!
Alle Pferde und Knechte des Königs vergebens
Versuchten zurück ihn zu setzen, trotz ihres Bestrebens.
Der Text auf den Bildern lautete:
Wie Humpty Dumpty, der Liebling des Königs, auf einer Mauer saß. Wie derselbe Humpty Dumpty von der Mauer fiel. Wie der König, der vom Unglück seines Favoriten gehört hatte, alle seine Pferde und alle seine Mannen ausrücken ließ; wie dieser an Ort und Stelle repariert wurde und wie der König persönlich die Aufrichtung des zerbrochene Humpty Dumpty beaufsichtigte. Wie der Versuch des Königs, seinen Liebling zu erheben, fehlschlug. Wie das Gewicht von Humpty Dumpty so groß war, dass er viele Männer des Königs nach vorne zog, und wie das Seil riss und alle anderen auf einer Strecke von vielen Meilen zurückfielen.
Offensichtlich hatte Carroll diese Bilder vor Augen, als er das scheinbar absurde Gespräch zwischen Alice und dem Weißen König konstruierte, das ohne die Kenntnis der Quelle unsinnig erscheint. Gleich zu Beginn des Kapitels „The Lion and the Unicorn“ wird beschrieben, wie die Soldaten und Pferde herankommen:
Im nächsten Augenblick kamen Soldaten gerannt,
zuerst zu zweit und zu dritt, dann zu zehn oder zwanzig und schließlich in
solchen Massen, dass sie den ganzen Wald auszufüllen schienen. Alice stellte
sich aus Angst, überrannt zu werden, hinter einen Baum und beobachtete, wie sie
vorbeiliefen.
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie
Soldaten gesehen, die so unsicher auf ihren Füßen standen: Sie stolperten
immerzu über irgendwas oder über einen anderen Soldaten. Immer wenn einer
stürzte, fielen noch mehr auf ihn drauf, so dass der ganze Boden schnell mit
Haufen von Männern übersäht war.
Dann kamen die Pferde. Da sie vier Füße haben,
machten sie es viel besser als die Fußtruppen. Aber auch sie stolperten immer
wieder, und zwar ganz regelmäßig: Immer, wenn ein Pferd strauchelte, stürzte der
Reiter sofort herunter. Das Durcheinander wurde von Augenblick zu Augenblick
größer, und Alice war sehr erleichtert, aus dem Wald auf eine Lichtung zu
bekommen, wo sie auf den Weißen König stieß, der auf dem Boden saß und eifrig
etwas in seinem Notizbuch schrieb.
Ganz ähnlich sieht es übrigens auch John Tenniel, der die Szene im Wald folgendermaßen illustriert:
Das große Durcheinander entsteht, als bei dem Versuch, den schweren Humpty Dumpty wieder auf die Mauer hochzuhieven, das Seil reißt und er wieder herunterknallt. Jetzt wird auch klar, was Humpty Dumpty am Endes seines Kapitels zu Alice sagt:
„Ich werde dich nicht erkennen, wenn wir uns
wiedersehn“, maulte Humpty Dumpty und streckte ihr einen seiner Finger zum
Schütteln hin: „Du bist genau so wie alle anderen Leute.“
„Gesichter kann man sich nicht gut merken“,
sagte Alice nachdenklich.
„Genau das beklage ich“, sagte Humpty Dumpty. „Dein
Gesicht gleicht dem aller anderen, die zwei Augen haben.“ (Er markierte ihre
Position, indem er mit dem Daumen Löcher in der Luft stieß.) „Nase in der Mitte,
Mund darunter. Es ist immer das Gleiche. Wenn du zum Beispiel die beiden Augen
auf derselben Seite der Nase oder den Mund oben hättest, wäre das schon
hilfreich.“
„Es würde aber nicht schön aussehen“,
widersprach Alice. Aber Humpty Dumpty schloss nur seine Augen und sagte: „Warte,
bis du es ausprobiert hast.“
3
Bevor Humpty Dumpty von der Mauer fallen kann, muss er gemeinsam mit Alice das Jabberwocky-Rätsel lösen. Zunächst verhält er sich gegenüber Alice abwehrend, ja geradezu aggressiv. Nachdem sie „Humpty Dumpty sat on a wall“ aufgesagt hat, herrscht dieser sie an, und fordert sie auf, ihm Namen und Begehr mitzuteilen. Alice ist sich offenbar nicht bewusst, dass es sich bei den von ihr rezitierten Versen um ein Rätselgedicht handelt, auf das die Antwort „Das Ei“ lautet. Sie hat dies aber ausgesprochen, indem sie Humty Dumptys Aussehen mit dem eines Eies vergleicht. Es kann sogar sein, dass sie das Rätsel gar nicht in einem Mother Goose-Buch gelesen hat, denn es war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England so bekannt, dass es zunächst nicht in Rätselsammlungen aufgenommen wurde. „Humpty Dumpty“ war zu der Zeit, als Carroll den Roman konzipierte, bereits ein so populärer Kinderreim geworden, dass nur wenige Leser die Figur noch für ein Rätsel hielten.
Über seinen Namen sagt Humpty Dumpty, er: „bedeutet die Form, die ich bin, und das ist eine schöne und stattliche Form“. Er konfrontiert Alice mit der Behauptung, jeder Name müsse etwas bedeuten: „Mit einem Namen wie deinem könntest du jede beliebige Form haben.“ Dann provoziert er sie, ihm schwerere Rätsel aufzugeben. Die Kommunikation zwischen den beiden ist stark asymmetrisch. Alice versteht nicht, dass ihr Gegenüber mit ihr Rätselraten spielen muss, weil sie ihn gerade „aufgesagt“ hat; sie zeigt für die konkrete Erscheinung des Bildanteils dieses Rätsels Anteilnahme und weist ihn darauf hin, dass er von der sehr schmalen Mauer herunterfallen könnte. Das weiß Humpty Dumpty natürlich längst und fühlt sich als Ratender nicht ernst genommen.
Als Alice das Ei fragt, warum es hier draußen allein herumsitzt, hält Humpty Dumpty – noch immer im Modus des Rätsel-Ratens – auch diese Frage für ein allzu leichtes Rätsel und fordert sie auf, ein schwierigeres zu präsentieren. Es schließt sich eine dialogische Erörterung an, deren Argumente und Gegenargumente zusammengefasst folgendermaßen lauten:
Alice: Glauben Sie nicht, Sie wären am Boden
sicherer?
Humpty Dumpty: Der König hat mir versprochen ah, du darfst ruhig blass werden,
wenn du willst! Das hast du wohl nicht gedacht, dass ich so was sagen würde, eh?
Der König hat mir mit seinem eigenen Mund versprochen, ...
Alice: Alle seine Pferde und alle seine Männer
zu schicken
Humpty Dumpty: Du musst an Türen oder hinter
Bäumen gelauscht haben oder in Schornsteine hinunter, sonst könntest du
das nicht wissen! Nun gut! So etwas kann man in ein Buch schreiben; das dann die
Geschichte Englands heißt!
Sie würden mich ganz gewiss in Minutenschnelle wieder draufheben!
Alice kann den Satz, den der stotternde Humpty Dumpty nicht herausbringt, vervollständigen, weil sie seine Geschichte schon kennt. Jetzt dreht Humpty Dumpty den Spieß um und stellt Alice ein Räsel: „Wie alt bist du?“ Darauf entwickelt sich ein Dialog über die Besonderheit von „Nicht-Geburtstagsgeschenken“. Nach einem Intermezzo, in dem es um die Deutungshoheit über die Wörter geht, und in dem Humpty Dumpty die Macht über die Begriffe für sich reklamiert, bittet Alice ihn darum, ihr die Bedeutung der „Jabberwocky“-Ballade zu erklären. Während er kurz zuvor per Definition von „glory“ als „knock-down argument“ seinem Neologismus „un-birthday presents“ die Übermacht gegen das von Alice geliebte und gepriesene singuläre „I like birthday presents best“ verliehen hat (man könnte statt eines Geburtstagsgeschenks ganze 364 davon im Jahr erhalten), fühlt er sich nun in seinem Element. Die bisherige aggressive Ablehnung von Alices Konversationsbeiträgen wandelt sich in eine gleichberechtigten Dialog, in dem beide einander mit Fantasie und viel Spaß zu übertrumpfen versuchen. Sie entschlüsseln die Rahmenstrophe und die Balladenhandlung als einen Kampf auf Leben und Tod in einer von fantastischen Wesen bevölkerten Landschaft.
Dieses Spiel funktioniert aber bei dem zweiten Gedicht, das Humpty Dumpty danach aufsagt, nicht mehr; vielleicht, weil es sich um allzu banale Verse handelt. Immer wenn Alice nach der Bedeutung der Verse fragt, kommt es zu Missverständnissen, was den Vortragenden wieder aggressiv werden lässt. Der beendet die Kommunikation abrupt, verabschiedet sich von Alice und – stürzt ab. Alice hat bis zu diesem Zeitpunkt nicht begriffen, dass alles, was sich ereignet, nachdem sie die „Humpty Dumpty“-Verse aufgesagt hat, ein Lese-Erlebnis ist und daher durch den Rätseltext vorbestimmt war. Das Gespräch mit Humpty Dumpty findet zwischen der ersten und der zweiten Zeile statt, deshalb muss er auch sofort nach der Beendigung der Unterhaltung von der Mauer herunterfallen.
Klaus Reichert hat in seiner Interpretation darauf hingewiesen, dass das gesamte Jabberwocky-Gedicht einschließlich seines Kommentars völlig ohne Kontext isoliert in „Through the Looking Glass“ steht: „wie aus dem Nichts ist das Gedicht auf einmal in Alices Hand und wird von ihr nach ratloser Lektüre sogleich wieder beiseite getan.“ Und auch durch Humpty Dumptys Kommentar wird die Ballade nicht mit dem Erzähltext verknüpft. Bezieht man die gemeinsame Deutung allerdings auf einen Kampf, der sich in Alice selbst abspielt, so gibt der Jabberwocky Alice „eine Handlungsanweisung: wie sich zu verhalten wäre bei dem, was nun kommt. Gleichzeitig bereitet er sie auf die Methode des Kommenden vor, die Spiegelungen, die im Buch meist ebenso sehr kaschiert sind wie im Gedicht, d. h. intern als solche erkannt werden, spontan aber nicht notwendig erfahren werden müssen, denn wer im Spiegel steckt, handelt genauso ‚richtig‘ (nur eben ‚verkehrt‘) wie der, der vor ihm ist.“ (Klaus Reichert: Studien zum literarischen Unsinn. München 1974, S. 143.)
Alice erlebt in der Spiegelwelt den Fall des Eies natürlich nicht so, wie es im Buche steht, sondern gespiegelt. Nachdem ein schwerer Schlag den Wald erschüttert hat (sie und der aufmerksame Leser wissen: Humpty Dumpty ist von der Mauer gefallen und kaputt gegangen), erlebt sie die Zeilen drei und vier; daher kommen der König und seine Mannen herbeigestürmt. Die Soldaten und ihre Pferde verhalten sich recht seltsam und werden in grotesker Verdrehung beschrieben. Alice trifft den verwirrten König in einer Situation an, in der die Rettung Humpty Dumptys bereits misslungen ist und er sich genötigt fühlt, sein Tun zu rechtfertigen. Diese Szene muss auch nicht noch einmal erzählt werden, weil Humpty Dumpty sie ja bereits mit der Version des zerschlagenen Gesichts vorweggenommen hat. Alices Leseerlebnis „Humpty Dumpty“ ist damit beendet und sie trifft nie wieder auf das seltsame Wesen.
4
Die Analyse des Humpty-Dumpty-Kapitels hat gezeigt, dass es sich keineswegs um „Nonsense“ handelt. Das Erscheinen Hampty Dumptys ist eine Leistung von Alices Fantasie, indem sie das Rätselgedicht vom Ei memoriert: Warum können des Königs Leute den Humpty Dumpty nicht wieder ganz machen? – Weil es sich um ein Ei handelt. In der kurzen Zeit zwischen seinem Erscheinen und seinem Fall findet Alice auch eine Antwort auf ihre Frage nach dem Sinn der Jabberwocky-Ballade, denn die Wörter „sind launisch“ und um „ihren Stolz“ zu „überwinden“ und „etwas mit ihnen zu machen“, muss sie ihnen „viel Arbeit abverlangen“, so wie es ihr Humpty Dumpty erfolgreich vormacht, indem er die Deutungshoheit für sich beansprucht. Er vertritt die Ansicht, die Wörter hätten unterschiedliche Temperamente: Verben seien stolz, mit Adjektiven könne man machen, was man wolle, Verben sperrten sich. Humpty Dumpty beansprucht die Deutungshoheit über alle Gedichte für sich, da er die Macht über alle habe und sie für sich arbeiten lassen könne. Danach bedeutet jedes Wort genau das, was er an Bedeutung auswählt. Wie das im Spiegelland funktioniert, führt uns der weiße König vor. Und auf diesen Kontext kommt es an, will man dem Dialog zwischen Alice und dem Humpty Dumpty etwas wie „Sinn“ abgewinnen.
Im Spiegel-Wald unter den Männern des Königs erkennt Alice den Humpty Dumpty mit seinem zerschlagenen Gesicht nicht wieder. Er kommt in der weiteren Erzählung (außer in der Erinnerung der weißen Königin) nicht mehr vor. Als Alice auf einer Waldlichtung den Weißen König triff, zeigt sich die Macht, die sie bereits über die Worte besitzt. Dieser rechtfertigt sich nämlich ihr gegenüber für sein Handeln. Der Text sagt, dass der König geschäftig (busily) etwas in sein Notizbuch einträgt.
Alice hatte kurz vor Humpty Dumptys Fall dessen Aussage „der König hat es mir versprochen –” mit den Worten ergänzt: „alle seine Pferde und alle seine Mannen zu schicken“. Alles, was sie in den Humpty Dumpty-Versen ausgesprochen hat, ist nun genau so eingetreten, wie es die Wörter bedeuten. Humpty Dumpty ist von der Mauer heruntergestürzt, obwohl er vorher noch gesagt hat, es könne sein („If I did fall“), und der König hat (seinem Versprechen gegenüber Hampty Dumpty gemäß) alle Pferde und alle Mannen geschickt. Darüber gibt er Alice Auskunft, ohne danach gefragt worden zu sein. Zu den Mannen sagt er in freudigem Ton: „Ich habe sie alle geschickt!“ und als Beleg für seine Aussage liest er Alice aus seinem Notizbuch vor: „Four thousand two hundred and seven“ und skandiert dabei die vierstellige Zahl so, wie sie im Buche steht; das Wörtchen „and“ vertritt die 0 der Zehner-Stelle. Nur bei den Pferden muss der König begründen, warum er doch nicht alle geschickt hat: „Ich konnte nicht alle Pferde schicken, weißt du, weil zwei von ihnen im Spiel gebraucht werden“, nämlich in dem Schachspiel, dessen Züge Carroll in Aktion und Gegenaktion als Handlungsschema verwendet. Dafür hat er aber zusätzlich zwei Boten („two messengers, either“) ausgeschickt, um die Zahl (die er absolut nicht nennt) wieder voll zu machen.
Die Worte Humpty Dumptys sind in Erfüllung gegangen: „Sie würden mich in Minutenschnelle aufsammeln“. Aber auch die Worte, die nur Alice ausgesprochen hatte: „Humpty Dumpty konnte nicht wieder an seine Stelle gesetzt werden“. Wie dies gemeint ist, lässt sich an dem chaotischen Durcheinander von Fußsoldaten, Reitern und Pferden erkennen, dem Alice gerade im Wald begegnet ist, und dessen Ursache der misslungene Versuch gewesen sein muss, den reparierten Humpty Dumpty mit vereinten Kräften wieder auf seinen erhöhten Platz hinauf zu ziehen, wie uns die Bilder der Broschüre eindrucksvoll veranschaulichen.
Jetzt wird auch klar, was Alices Bemerkung bedeuten könnte, die sie an die Rezitation der letzten Zeile von „Humpty Dumpty“ anschließt: „That last line is much too long for the poetry,“ she added, almost out loud, forgetting that Humpty Dumpty would hear her. Zunächst lese ich: Diese letzte Zeile ist viel zu lang für die Verse“, fügte sie fast laut hinzu und vergaß, dass Humpty Dumpty sie hören konnte. Aber das Wort „poetry“ meint hier metrical composition, also die metrische Zusammensetzung des Verses. In der Tat ist der letzte Vers formal misslungen – so wie übrigens auch in den meisten Vorbildern, die Carroll kannte –, aber warum informiert der Erzähler den Leser darüber, dass Alice, die den Satz laut ausgesprochen hat, dabei vergaß („forgetting“), dass Humpty Dumpty sie hören konnte?
Da dieser von Alice Rätselfragen erwartet, geht er nicht auf diese Äußerung ein. Für den Leser bleibt diese Aussage allerdings wegen des poetologischen Erzähler-Kommentars rätselhaft. Sinn macht es erst, wenn man das englische Verb „to forget“ mit „aus der Rolle fallen“ übersetzt. Dann hat Alice die Regeln des Rätselspiels verletzt und Humpty Dumpty beendet das Spiel und beginnt einen Dialog mit der Spielverderberin, indem er sie nach ihrem Namen fragt.
Aber auch eine andere Bedeutung ist denkbar. Das Substantiv „line“ kann auch Leine, Seil bedeuten. Dass könnte Alice mit „the line is much too long“ auch das Seil meinen, mit dem die Mannen des Königs auf den Abbildungen des Farbdrucks von 1843 versuchen, den reparierten Humpty Dumpty auf die Mauer zu hieven, und von dem es heißt: „how the rope breaking“. Daher kommentiert der Erzähler Alices laut ausgesprochenen Vers-Kommentar als ungehörig gegenüber Humpty Dumpty, weil dies in einem Rätselspiel ein wahres „knock-down argument“ darstellen würde.
5
Die beiden Boten des Königs sind seine „Messengers“, zwei Bauern im Schachspiel, der eine das Spiegelbild des anderen: Einer kommt und bringt etwas, der andere geht und nimmt etwas mit. Der König hat sie in die Stadt geschickt und bittet Alice, auf der Straße nach ihnen Ausschau zu halten. Alice meldet: „Auf der Straße ist niemand zu sehen.“ Sie benutzt das indefinite Pronomen „nobody“ und meint damit, dass keiner auf der Straße zu sehen sei. Der König wundert sich darüber, dass Alice „Nobody“ auf eine so große Entfernung sehen kann. Im Spiegelland hat er die Macht (um die gerades Einhorn und Löwe kämpfen) und kann daher bestimmen, was „Nobody“ bedeuten soll, indem er es als Substantiv gebraucht. So wie Odysseus zum Riesen Polyphem spricht: „Niemand ist mein Name: Niemand nannten mich meine Mutter und mein Vater, Niemand rufen mich all die anderen Kameraden und ich bin der Anführer der Seeleute, die sich wegen des Sturmes verirrt haben.“
Dann benutzt auch Alice ihre neuen von Humpty Dumpty abgeschauten sprachlichen Fähigkeiten. Als der erste Kurier mit Namen Haigha eintrifft, sagt Alice „I love my love with an H“ und kann nicht anders, als Verse aufzusagen, die den Regeln eines beliebten Sprachspiels des viktorianischen Englands folgen, das erstmals bei Carroll gedruckt erscheint, damals aber bereits weit verbreitet war. Hier die Fassung in The Nursery Rhyme Book, edited by Andrew Lang and illustrated by L. Leslie Brooke London: Frederick Warne and Co., 1897, p. 51.
I
love my love with an A, because he's Agreeable.
I hate him because he's Avaricious.
He took me to the Sign of the Acorn,
And treated me with Apples.
His name's Andrew,
And he lives at Arlington.
Die jeweiligen Substantive am Ende jeder Zeile besetzen Leerstellen, die der nächste Spieler für den Buchstaben B an Stelle des A ausfüllen muss, der nächste den Buchstaben C und so weiter durch das ganze Alphabet hindurch. Alice startet mit H, weil der Name des Kuriers mit einem H beginnt, und legt so die Bedeutung der Substantive fest:
„I love my love with an H,“ Alice couldn't help beginning, „because he is Happy. I hate him with an H, because he is Hideous. I fed him with–with–with Ham-sandwiches and Hay. His name is Haigha, and he lives–“ „He lives on a Hill,“ the King remarked simply, […]
Dass diese Begriffsbildung durch die individuelle Ausübung von Macht über die Wörter im Sinne von Humpty Dumpty auch wirklich funktioniert, zeigt sich, als Haigha eintrifft und vom König mit den Worten begrüßt wird: „This young lady loves you with an H“. Der zuerst eingetroffene Bote berichte von seinem Kollegen, den er – als gehorsamer Untertan der Wort-Macht des Königs folgend – „Nobody“ nennt, obwohl sein Name Hatta lautet, dass dieser langsamer sei als er und daher erst später eintreffen werde. Da der König Hunger hat, fordert er von seinem Boten, der ja die Aufgabe hat, etwas zu bringen, ihm eine Schinkenbrot (ein „ham-sandwich“) zu reichen und isst es gierig auf. Als er ein zweites verlangt, muss der Kurier passen, da Alice vorher unter anderem den Vers „I fed him with – with – with Ham-sandwiches and Hay“ ausgesprochen hat und entgegnet seinem Herrn, in seiner Tasche sei nur noch Heu.
Da fragt sich der Leser: Hat der König Macht über die Wörter? Oder: Haben die Wörter Macht über den König? – Wie groß die Macht der Wörter über den Königs ist, demonstriert Carroll dadurch, dass er ihn beim Heuessen, von dem nicht besonders begeistert ist, sagen lässt: „Wenn du ohnmächtig bist, gibt es nichts Besseres zu essen als Heu.“ Auf Alices Entgegnung, ein Guss kaltes Wasser sei besser, kontert er: „I didn’t say there was nothing better, […] I said there was nothing like it.“ und spielt mit dem Wort „like“, das er mal als Präposition und mal als Adverb verwendet: „Ich habe nicht gesagt, dass es nichts Besseres gibt, […] ich habe gesagt, dass es nichts Vergleichbares gibt.
Im 7. Kapitel von „Alice’s Advertures in Wonderland“ stellt der Mad Hatter das Rätsel: „Why is a raven like a writing-desk?“ Alice kann sich an nicht viel erinnern, was sie von einen Raben und über einen Schreibtisch weiß und beginnt zu stottern. Sie beantwortet die Aufforderung des Hatters „Dann solltes du sagen was du meinst“ mit dem Satz „Ich meine, was ich sage“. Und sie stellt die Behauptung auf, beide Aussagen seien identisch. Also:
„Ich sage, was ich meine“ meint dasselbe wie „Ich meine, was ich sage“
Dem widersprechen der Hatter, der March Hare und die Dormouse, indem sie folgende Beispiele aussprechen:
„Ich sehe, was ich esse“ meint nicht dasselbe wie „Ich esse, was ich sehe“
„Mir gefällt, was ich bekomme“ meint nicht dasselbe wie „Ich bekomme, was mir gefällt“
„Ich schnaufe, wenn ich schlafe“ meint nicht dasselbe wie „Ich schlafe, wenn ich schnaufe“
„Das ist bei dir auch so“, sagt der Hatter, dann bricht die Unterhaltung ab und es herrscht Schweigen. Das Rätsel wird nicht gelöst und bietet seitdem immer wieder Anlass für scharfsinnige Lösungsvorschlage. Aldous Leonard Huxley („Ravens and Writing Desks” in: Vanity Fair, September 1928) zum Beispiel bietet zwei Lösungen an: „because there's a b in both, and because there's an n in neither“. Dadurch will er zeigen, dass metaphysische Grundfragen (nach der Existenz Gottes und der Möglichkeit von Freiheit und dem Grund für das Leid in der Welt) so bedeutungslos („meaningless“) wie dieses Rätsel sind und kommt zu dem Schluss, dass „nonsensical riddles“ sich nicht mit der Realität, sondern mit Wörtern abgeben. Da hat er recht, denn solche Rätsel geben sich in der Tat mit Wörtern ab. Aber sind sie deshalb auch bedeutungslos?
In einem Streitgespräch mit der Roten Königin beteuert Alice, sie werde schon den Weg auf die Spitze eines Berges finden. Da unterbricht sie die Königin mit den Worten: „Da du gerade ‚Berg‘ sagst, […] Ich könnte dir Berge zeigen, im Vergleich mit denen du zu deinem ‚Tal‘ sagen würdest.“ Aber Alice widerspricht: „Das würde ich nicht, […] wissen Sie, ein Berg kann kein Tal sein. Das wäre Unsinn. –“. Da schüttelt auch die König den Kopf und meint: „Wenn du meinst. Du kannst das ruhig ‚Unsinn‘ nennen, […] aber ich habe schon solchen Blödsinn gehört, im Vergleich zu dem eine solche Aussage so sinnvoll wie ein Wörterbuch wäre!“ Alice hat recht: Ein Berg („hill“) ist nicht dasselbe wie ein Tal („valley“); aber man kann einen Berg durchaus ein Tal nennen, wie es uns Peter Bichsel in seiner Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ vormacht und damit die Konventionalität der Sprache aufhebt. Das Ergebnis seines Sprachexperiments, mit dem er Wörtern die von ihm gemeinte Bedeutung aufzwingt, ist die völlige kommunikative Isolation des Mannes, da ihn niemand mehr versteht und daher auch niemand mehr mit ihm spricht.
Voraussetzung für eine gelingende Konversation ist eine Übereinstimmung, zu der im Kommunikationsprozess mindestens zwei Instanzen gehören. Einer hat Macht über die Worte, der andere muss sensibel dafür sein, die Prägungen zu verstehen. Aldous Huxley hat in seiner Replik übersehen, dass metaphysische Fragen nicht so bedeutungslos sind und in gewisser Weise doch beantwortet werden können. Zwar kann der Widerspruch der sich gegenüberstehenden Thesen und Antithesen nicht zu Gunsten des einen oder anderen entschieden werden; sehr wohl aber lässt sich etwa (sein zweites Beispiel) die Freiheitsantinomie nach Kants praktischer Philosophie als Postulat der Freiheit auflösen. Wir können nicht beweisen, dass Freiheit ist oder nicht ist, aber wir können fordern, dass wir uns den Menschen frei vorstellen. Erst dann können wir ihn als ein verantwortliches Wesen vorstellen.
Gleich am Anfang von „Wonderland“ führt Carroll uns ein ähnliches Problem in einem Sprachspiel vor. Als Alice ins Kaninchenloch fällt, führt sie ein Selbstgespräch:
Runter, runter, runter. Da es nichts anderes zu tun gab, fing Alice bald wieder an zu reden. „Dinah wird mich heute Abend sehr vermissen, glaube ich!“ (Dinah war ihre Katze.) „Ich hoffe, sie werden zur Teezeit an ihren Milchnapf denken. Meine liebe Dinah! Ich wünschte, du wärst hier unten bei mir! Es sind leider keine Mäuse in der Luft, aber du könntest eine Fledermaus fangen, weißt du, die ist einer Maus nämlich sehr ähnlich. Aber ich frage mich, ob Katzen Fledermäuse fressen.“ Und hier wurde Alice ziemlich müde und sagte träumerisch zu sich selbst: „Fressen Katzen Fledermäuse? Fressen Katzen Fledermäuse?“ und manchmal „Fressen Fledermäuse Katzen?“
Der Erzähler wendet sich an den Leser mit folgendem Kommentar:
Siehst du, und da sie keine der beiden Fragen beantworten konnte, war es egal, in welcher Reihenfolge sie es sagte. Sie hatte das Gefühl, zu dösen und hatte gerade zu träumen begonnen, dass sie Hand in Hand mit Dinah spazieren ging, und sprach sehr energisch zu ihr: „Nun, Dinah, sag mir die Wahrheit: Hast du jemals eine Fledermaus gefressen?“
Dann vergisst sie die Fragen und landet bald auf dem Grund des Schachts. Der Leser aber vergisst die Fragen nicht und könnte sich selber weitere stellen: Macht es wirklich nichts aus, in welcher Weise Alice ihre Frage stellt? Ist es denn egal, in welcher Reihenfolge die Bestandteile einer Frage gesagt werden? Sind beide Fragen gleich oder unterscheiden sie sich voneinander? Alice fragt: „Do cats eat bats“ und „Do bats eat cats?“ Was bedeutete die Vertauschung der Subjekt- und Objektposition der Substantive „cat“ und „bat“, bei denen morphologisch nur c gegen b substituiert wird, für die Bedeutung der Sätze? Ist die Tatsache, dass sie die Frage nicht beantworten kann, ein hinreichender Grund, Subjekt und Objekt zu vertauschen?
Und da es in den Alice-Romanen um „Gespräche“ geht (wir erinnern uns, Alice vermisst im Buch ihrer Schwester Erörterungen, Diskurse und Dialoge tête-à-tête), führt uns der Erzähler in einer Reihe von dialogisierten Sprachexperimenten vor, wie man Wörtern eine Bedeutung aufzwingen kann, ohne sich dadurch in eine völlige kommunikative Isolation zu begeben, da immer noch jemand mit uns spricht und wir dabei mehr von den behandelten Dingen verstehen, als vor dem Gespräch. Diese Methode ähnelt der Lehre von der Bejahung und Verneinung einer Behauptung, wie sie der chinesischer Philosoph und Dichter Dschuang Dsi (um 365 v. Chr.-290 v. Chr.) in seiner Schrift „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“ vertritt:
Angenommen, ich disputierte mit dir; du besiegst mich, und ich besiege dich nicht. Hast du nun wirklich recht? Hab' ich nun wirklich unrecht? Oder aber ich besiege dich, und du besiegst mich nicht. Habe ich nun wirklich recht und du wirklich unrecht? Hat einer von uns recht und einer unrecht, oder haben wir beide recht oder beide unrecht? Ich und du, wir können das nicht wissen. Wenn die Menschen aber in einer solchen Unklarheit sind, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden? Sollen wir einen holen, der mit dir übereinstimmt, um zu entscheiden? Da er doch mit dir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Oder sollen wir einen holen, der mit mir übereinstimmt? Da er doch mit mir übereinstimmt, wie kann er entscheiden? Sollen wir einen holen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden? Da er doch von uns beiden abweicht, wie kann er entscheiden?“
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Der eigentliche Herr der Wörter in den Romanen ist Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll, der für sein Alice-Universum Kreaturen erschuf – wie Gott im Garten Eden seine Geschöpfe – und ihnen Namen gibt, unter anderen der „Mock Turtel“ und dem „March Hare“, die als Lebewesen zwar in keinem Lexikon stehen, deren Namen aber sehr wohl vernünftig („as sensible as a dictionary“, wie die Roten Königin anmerkt) aus dem englischen Wörterbestand hergeleitet werden können. So bedeutet das Verb „to mock“ verspotten, nachäffen, nachahmen (poetisch), täuschen, trotzen, spotten und erscheint in den Fügungen „mockturtel“ (Kalbskopf en tortue) und „mockturtel soup“ (nachgemachte, falsche) Schildkrötensuppe. Die Redewendung „mad als a march hare“, seit 1529 belegt, ist eine Anspielung, die verwendet werden kann, um sich auf ein anderes Tier oder einen Menschen zu beziehen, der sich auf aufgeregte und unvorhersehbare Weise eines „Märzhasen“ verhält. Durch diese und andere Wortspiele kann der aufmerksame Leser nach der Lektüre des langen Kampfes um die Deutungshoheit über die Wörter nach Antworten suchen, indem er diese übergeordneten Fragen in ihre Bestandteile zerlegt und sie auf seine Lebenssituation anwendet.
Lewis Carroll nimmt uns mit auf die Reise durch Wunderland, indem er Alice in Gespräche verwickelt, in denen mögliche Antworten auf solche Fragen ausgelotet werden; der scheinbare Unsinn der Wortspiele verwickelt sie immer wieder in unauflösbare Widersprüche. In den Alice-Romanen kommt das Wort „nonsense“ fünfzehn mal vor und mehrfach deutet der Erzähler an, wie man – zumindest im Medium der Sprache – poetische Bildkomplexe so auslegen kann, dass ein Zugewinn an Bedeutung entsteht und der scheinbare Nonsens sich tendenziell in Sinn verwandelt.