Sinn oder Unsinn?
Auf einer Seite der Plattform Sites.com (https://sites.google.com/site/lhortonpoetryeng4u/jabberwocky/anaylsis) wird ein close-reading des Jabberwocky angeboten.
Nach einer etwas hilflosen Paraphrase der ersten Strophe:
These first four and last for lines of the poem are a description of the setting. Based on Humpty’s understanding the first stanza can be translated to:
“It was 4 o’clock and the active slimy badgers,
were scratching and boring holes in the hill-side,
all unhappy were the borogroves (certain type of bird)
and the grave turtles squeaked out.”
heißt es dort:
The rest of the poem seems to be easier to understand, from a
one-dimensional view.
The second stanza is where the shape of the poem begins to form. The speaker
informs his son of the “Jabberwock” and other creatures he might embark (!) on
his journey such as the Jubjub bird and the Bandersnatch.
The third stanza is where this boy seems to embark on his journey; he takes his
sword waiting by the Tumtum tree and stands to think.
The next stanza he meets his match with the creature his father warned him about
as the Jabberwock appears with eyes of flame, as it comes running through the
woods making threatening noises.
In the fifth stanza the Jabberwock gets closer and closer and the boy takes his
sword and cuts the head of the beast only to pick it up and return galumphing
home. The sixth stanza is of the boy returning to his father. The people are in
shock of what the boy has done and have a celebration.
Finally the poem finishes with the first stanza repeated at the end.
Wie sich der Verfasser die Balladenhandlung vorstellt, hat er in einem Comic dargestellt:
Jabberwocky Comic
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Der Mangel dieser Deutung besteht in der Trennung des Rahmens (1. und 7. Strophe) von der später entstandenen Ballade und in der weitgehend naiver Lesung von Carrolls Nonsens-Wörtern. Um den Text zu verstehen, muss man ihn genauer analysieren und sich dabei etablierter Methoden bedienen.
Die literaturwissenschaftliche Tradition bezeichnet die Alice-Romane als Nonsens. In der Unsinn-Literatur wird versucht, Elemente, die sinnvoll sind, mit Elementen, die nicht sinnvoll sind, in Einklang bringt, um Sprachkonventionen oder logisches Denken zu untergraben. Die Wirkung von Unsinn wird oft eher durch einen Sinnüberschuss als durch einen Mangel an Sinn verursacht.
Der Literarischer Unsinn des neunzehnten Jahrhunderts entspringt einer Kombination zweier Traditionen. Die erste und ältere Quelle ist die mündliche Volkstradition, (Spiele, Lieder, Dramen und Reime), die zweite, neuere Quelle liegt in den intellektuellen Absurditäten von Hofdichtern, Gelehrten und Intellektuellen verschiedener Art. Diese Autoren schufen oft raffinierte, unsinnige Formen lateinischer Parodien, religiöser Travestien und politischer Satire, obwohl sich diese Texte durch ihre übertriebenen, unsinnigen Effekte von reinerer Satire und Parodie unterscheiden.
Im literarischen Unsinn werden bestimmte formale Elemente der Sprache und Logik, die die Bedeutung erleichtern, durch Elemente ausgeglichen, die die Bedeutung negieren. Diese formalen Elemente umfassen Semantik, Syntax, Phonetik, Kontext, Repräsentation und formale Diktion. Das Genre ist am einfachsten an den verschiedenen Techniken oder Geräten zu erkennen, mit denen es dieses Gleichgewicht zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit herstellt, z. B. fehlerhafte Ursache und Wirkung, Portmanteau-Wörter, Neologismus, Umkehrungen und Inversionen, Ungenauigkeit (einschließlich Kauderwelsch), Gleichzeitigkeit, Bild-Textinkongruenz, Willkür, unendliche Wiederholung, Negativität oder Spiegelung und Veruntreuung. Die Ballade vom Jabberwocky gilt als berühmtestes Unsinnsgedicht überhaupt. Der Text weist neben der traditionellen Gedicht-Form einen spezifischen Aspekt auf, nämlich die Technik, nach der Dodgson die Wörter des Textes konstruiert hat. Diese Methode wird in Humpty Dumptys Kommentar offenbart und wird nachvollziehbar. Dadurch kann der Text (und sein Kommentar) auch in andere Sprachen übersetzt und damit zugleich interpretiert werden.
Jabberwocky wurde um 1860 geschrieben und 1872 in Through the Looking-Glass veröffentlicht. Die erste Strophe entstand schon 1855 und wurde von Carroll später zur Umrahmung der fünfstrophigen Ballade verwendet. Carroll hat ihr ein Glossar angeschlossen, „das in keinem ursächlichen Zusammenhang zum Text steht, auf den er vorgeblich bezogen ist, dass er vielmehr nur Regeln angibt, nach denen er hätte geschrieben sein können, an die er sich im Übrigen, wie die spätere Verwendung des Textes zeigt, selber nicht hält“. Das Glossar gewinnt seine Existenzberechtigung erst aus dem später geschriebenen Satz von Humpty Dumpty: „When I use a word […] it means just what I choose it to mean – neither more nor less.“
„Der Unsinn der Strophe beruht auf der Diskrepanz zwischen einem vollkommen intakten lautlich-syntaktischem System und dem, was durch dieses System bezeichnet, in ihm verbunden, wird, nämlich, streng genommen, nichts.“ (Klaus Reichert) Reichert nimmt eine differenzierte formale Analyse vor, deren Ergebnisse er so zusammenfasst: „Fassen Wir zusammen: Die Jabberwocky-Strophe ist nach den Regeln der normativen Syntax geschrieben. Regelmäßig sind ferner Wortbildung, Metrum und Reimschema. Der Lautstand ist eindeutig englisch. Die Strophe ist zweigeteilt, und jede Hälfte ist noch einmal (durch je zwei Hauptsitze) zweigeteilt. Zweiteiligkeit ist das allgemeine Prinzip der Strophe. Sie lässt sich an den grammatischen Teilen der Strophe überall nachweisen. Stilistisch zeigt sie sich entweder in symmetrischen (parallelen) oder in chiastischen Fügungen. Häufig überlagern bzw. ergänzen parallele Figuren die chiastischen, so dass eine Art doppelter Zweiteiligkeit entsteht.“ Anschließend analysiert er die Strophe mit Hilfe eines Theorems des Strukturalisten Roman Jakobson, der sich mit Sprachstörungen und dem Auftreten von linguistischen Konzepten in der Poesie beschäftigt hat.
Nach Jakobsen wird von den beiden polaren
Tropenfiguren, die Metapher und der Metonymie, die letztere, welche auf dem
Prinzip der Kontiguität beruht, weitgehend von jenen Aphatikern verwendet, deren
Fähigkeit zur Selektion in Mitleidenschaft gezogen ist. „Kontiguität (lat.
contiguus: berührend, angrenzend, zeitliches oder räumliches Zusammentreffen)
bezeichnet in der Psychologie das Aneinandergrenzen, das Angrenzen, das
Zusammensein bzw. die räumlich-zeitliche Nachbarschaft von Reizen und
Reaktionen, wodurch diese unter bestimmten günstigen Bedingungen miteinander
verknüpft werden, sodass dadurch eine neue Verbindung zwischen ihnen entsteht,
die etwa im Zusammenhang mit Lernen von Bedeutung sein kann.“
(Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.;
https://lexikon.stangl.eu/9978/kontiguitaet/)
Bei einer Similaritätsstörung können Wörter also nur verwendet werden, wenn eine Beziehung
zwischen ihnen oder zu ihrem Kontext herstellbar ist. Somit gilt der Kontext bei
Patienten dieser Aphasie als „unentbehrlicher und entscheidender Faktor“. Sie
ersetzen ihre Wörter durch Zeichen, die mit dem Wort der eigentlichen Bedeutung
in enger Verbindung stehen. Als einen solchen „Patienten“ sieht Reichert den
Humpty Dumpty und zeigt, dass auch das gesamte Jabberwocky-Gedicht
einschließlich seines Kommentars völlig ohne Kontext in „Through the Looking
Glass“ isoliert steht: „wie aus dem Nichts ist das Gedicht auf einmal in Alicens
Hand und wir von ihr nach ratloser Lektüre sogleich wieder beiseite getan.“ Und
auch durch Humpty Dumptys Kommentar wird die Ballade nicht mit dem Erzähltext
verknüpft.
Hier die Interpretation des vollständigen Gedichts (S. 138-144):
Alice – liest das Gedicht im Buch, das neben dem White King liegt. (Seinem Buch?) Es ist in Spiegelschrift geschrieben (die erste Strophe ist zunächst auch in Spiegelschrift gedruckt), und Alice muss es vor einen Spiegel halten, um es lesen zu können. „Why, it’s a Looking-glass book, of course!“ sagt sie, und das heißt, dass es sich auch um ein Spiegel-Gedicht handelt, und dies, wie aus der Analyse der ersten Strophe geschlossen werden kann, in mehr als nur typographischem Verstande. Andererseits ist das zur Urstrophe hinzugekommene Gedicht, wenn man will, die Parodie eines Heldenliedes und erzählt – mehr oder weniger klar – einen konkreten Vorgang: wo ist da der Spiegel? Er liegt, wieder, an der Oberfläche des Verfahrens, als permanente, geschachtelte Spiegelung. Das Gedicht ist im Sinne spiegelgleicher Symmetrie strikt zweigeteilt. Erste und siebente Strophe, die identisch sind, stehen schon äußerlich in Opposition zu allen übrigen, weil ihre sämtlichen Schlüsselwörter der Unsinnsprache angehören, die anderen Strophen aber nur unsinnige Versatzstücke aufweisen und sonst fast klar verständlich sind. Inhaltlich hat Carroll die erste (= siebente) Strophe in der Crofter Fassung folgendermaßen paraphrasiert (wobei die Paraphrase zwar nur, wie wir sahen, als eine Lesart unter möglichen figuriert, aber kraft ihrer Intention gewichtig ist): „It was evening, and the smooth active badgers were scratching and boring holes in the bill side: all unhappy were the parrots and the grave turtles squeaked out.“ Das ist ein unschuldiges, leicht melancholisch getöntes Naturidyll. Die Kunstfiguren der Idylle (es sind ja „toves“, nicht „badgers“) stehen in direktem Gegensatz zu dem „realen“ Kampf auf Leben und Tod, der sich zwischen und in ihr abspielt. So ist zur formalen Opposition auch noch eine – hypothetische – inhaltliche getreten, und zwar eine, die für Carroll existentielles Ausmaß besaß, wie im Snark-Kapitel zu zeigen sein wird: die Idylle als Rettung vor dem Leben und Alternative zum Tod. Die leere Spiegelung der Strophe in sich selbst zeigt eine Qualität der Idylle, die ihr bei Carroll immer einbeschrieben bleibt: die des Narziss. Die fünf restlichen Strophen sind wieder zweigeteilt in den Rahmen und die eigentliche Geste. Die Strophen des Rahmens (z. und 6. Strophe) sind in der direkten Rede geschrieben, alles Übrige steht in der dritten Person. Der Rahmen impliziert zum einen den – in Warnungen gehüllten – Auftrag eines Vaters an seinen Sohn, zum Kampf auszuziehen, und gibt zum andern dem Dank nach vollbrachter Tat Ausdruck. Also neben dem symmetrischen Rahmen die gleichsam spiegelverkehrte Zweiteilung in Vorher und Nachher. Die Strophen selber sind zweigeteilt: die zweite durch das doppelte „Beware“, deren erstes sich in eine doppelte, zugleich reimende ( „jaws“ — „claws“) Warnung vor dem Jabberwock spaltet und deren zweites sich in die Warnung vor zwei ähnlich gefährlichen Fabeltieren (Jubjubbird, Bandersnatch) ebenfalls aufspaltet. In der sechsten Strophe ist die Dankrede bei der Heimkunft auf zwei Verse verteilt: die Dankesinterjektionen sind durch die Zäsur im Vers zweigeteilt, deren zweite Hälfte noch einmal durch die Alliteration.
Die drei inneren Strophen, die Geste, gruppieren sich um die mittlere, die vierte, dadurch, dass sie das bisher übliche, später allerdings noch in der sechsten durchbrochene, Reimschema (abab) verändern: das Schema ist jetzt abcb, mit Binnenreim im c-Vers. Die Strophen sind wieder wie symmetrisch aufeinander bezogen: Auszug und Vorbereitung zum Kampf in der dritten, Kampf und Heimkehr in der fünften. Dem jeweils dritten Vers kommt durch den Binnenreim eine Sonderbedeutung zu: Merkmale des Zweierprinzips, noch verstärkt, in der dritten Strophe, durch die Reduplikation („Tumtum tree“) und, in der fünften, durch die starke Zäsur. Die fünfte Strophe, die den Kampf schildert, wird vollends von dem Prinzip beherrscht. (Verstünde man die Wörter auch nicht, wüsste man aus der Form doch genau, wovon die Rede ist: wie in der ersten Strophe ist in Syntax, Lautform und Stilformen semantisch hereingeholt, was den Versen lexikalisch fehlen mag.) Im c-Vers ein bedeutungsschwerer Binnenreim („dead“ – „head“), im b-Vers eine Alliteration („snicker-snack“), im a-Vers noch einmal ein Binnenreim, sogar ein doppelter; diese beiden Halbverse bestehen zudem noch aus je zwei identischen Hälften, von denen die des ersten das Prinzip der antagonistischen Zweiteiligkeit – konkret und abstrakt zugleich – formulieren: „One, two! One, two!“ Der gleichsam reinen, dreifachen Setzung des poetischen Prinzips und ineins damit der sich hierin aussprechenden dramatischen Gipfelung zufolge ist diese a-Zeile, der Moment des Kampfes, das Zentrum des ganzen Gedichts. Es gibt indes noch ein zweites Zentrum (wieder das Doppelungsprinzip!), das die Symmetrie des Gedichts und der syntaktische Aufbau indizieren.
Die vierte Strophe, die Mitte des Gedichts, ist unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass sie als einzige aus einem einzigen Satz besteht. Alle anderen Strophen haben nach dem zweiten Vers eine Zäsur, die Hauptsatz (oder Hauptsätze) von Hauptsatz (oder Hauptsätzen) trennt. Die Mittelstrophe trägt dem Prinzip der Zweiteilung anders Rechnung: statt der üblichen Unterteilung(1 + 2) + (3 + 4) hier die Unterteilung 1 + (2 + 3) + 4. Somit sind die Mittelzeilen der Mittelstrophe das – zunächst technische – Zentrum des Gedichts. Das Embedding dieser Verse in der Strophe wird dadurch verankert, dass diese Zeilen den Hauptsatz der Strophe bilden. Diese Zeilen sind wieder eingerahmt (wie das ganze Gedicht aus Rahmen von Rahmen von Rahmen ... besteht) durch zwei Temporalsätze (die einzigen echten Nebensätze des Gedichts) in der ersten und vierten Zeile. Der Rahmen wird spiegelsymmetrisch dadurch, dass die erste Zeile mit einem Temporalsatz beginnt, die vierte mit einem solchen aufhört. Die zentralen Zeilen beschreiben genau den Moment, in dem der Jabberwock auftritt. Es sind dieselben, die Tenniel illustriert hat, und ebendiese Illustration sollte ursprünglich das Frontispiz zum Looking-Glass werden. Diese Zeilen sind die einzigen im Gedicht, die formal ohne correspondance bleiben. Warum? Weil in ihnen das Problem sich stellt, vor dem alle Häutungen in ein Gegenteil (Dodgson/Carroll, Spiegel usw.) nutzlos bleiben. Dieses Problem lässt sich lösen durch das „Vorpal sword“, so wie Alice sich durch einen ähnlichen Hieb, durch den Sprung in die Wachdimension, von der Bedrohung durch die Traummonstren befreien kann; im Snark ist Befreiung dieser Art nicht mehr möglich: hier obsiegt‚ auf einer Ebene, „das Problem“ in Gestalt des Boojum. (Dass mit dem Zentrum des Gedichts ein Nerv getroffen war, geht vielleicht auch daraus hervor, dass Carroll sich außerstande sah, „tulgey wood“, den selva oscura (?), zu erklären, aus dem doch immerhin mühelos das Anagramm ugly woe sich ziehen ließe. Allerdings wusste er auch mit „vorpal sword“, dem Mittel der Befreiung, nichts anzufangen; dieses Wort ist inzwischen plausibel von A. Taylor als Kontamination aus „Verbal“ und „gospel“ erklärt worden“, womit genau jene Schutzfunktionen genannt sind, durch die er die stete Bedrohung seines Ich durch die Es-Kräfte sich vom Leib zu halten hoffte: Kreativität und Religion.)
Dass dieses, augenscheinlich formale, Zentrum des Gedichts für Carroll eine über das Gedicht selber hinausgehende Bedeutung hatte, ergibt sich gewiss daraus, dass Carroll der Illustration der Stelle den prominentesten Platz im Buch einräumen wollte. Das ist umso erstaunlicher, als der Jabberwock gar nicht als handelnde Figur im Text auftritt, sondern nur als Zitat, als Text im Text. Mit unserer Interpretation des Jabberwock als „des Problems“ Carrolls, das zu unterlaufen er sich der verschiedensten Abwehrmechanismen bediente, stimmt überein, dass sein Über-Ich sich, Einrede gebietend, bei etwa dreißig Müttern erkundigte, ob der Jabberwock nicht „too terrible a monster, and likely to alarm nervous and imaginative Children“ sei „to retain it as the frontispiece“. Die Mütter müssen seine Vermutung bestätigt haben; so wurde das Blatt transferiert. An seine Stelle trat – der Bekenntniszwang vermag zwar den Gegenstand, an den er sich bindet, zu verschieben, lässt sich aber nicht liquidieren – das Bild des White Knight, jener auch für den zeitgenössischen Leser kaum verhüllten Selbstkarikatur des Autors. Der Mechanismus ist interessant: die mehr oder weniger eindeutige Selbstdarstellung ersetzt die bis zur Unkenntlichkeit verkappte, statt Vertuschüng erst recht das Eingeständnis. Was soll das? Das eine ist das ungefährliche Porträt des kauzigen Kinderfreunds, wie ihn alle Welt kannte, das öffentliche Erscheinungsbild. Das andere ist die Allegorie der Intimsphäre, gefährlich schon darum, weil sie Carroll selbst nur „dunkel“ (konturlos, aber eben doch) bewusst war. Die Entscheidung, dass der White Knight die Stelle des Jabberwock einnahm, ist zwar eine Entscheidung der Über- Ich-Funktionen Zensur und Gewissen, doch ist es immerhin die eine, die im Bereich der eigenen Person verbleibt – es hätte vier Dutzend andere Möglichkeiten gegeben. Das Looking-Glass ist ein Buch über Carroll. Was bei der Alice sich nur extrapolieren lässt – hier steht es auf dem Titelbild und in dessen dem Leser verborgener Vorgeschichte, die beide zusammen sich zum Bilde Carrolls ergänzen. ‚
Zu fragen bleibt nach dem Grund für die zwei Zentren im Gedicht, einem spannungsbedingten und einem formalen, „eigentlichen“. Mag – jenseits der gewissermaßen technisch geforderten Doppelung – im einen, dem formalen, die innere wie äußere Realität chiffriert sein, der Carroll sich konfrontiert sah und vor deren Bedrohungen er sich in stets neue Verwandlungen flüchtete, und im andern, dem spannungsbedingten, die Wunschvorstellung, sich – ein für allemal – befreien zu können, so ist die Frage nach der Gleichgewichtigkeit der Zentren, ihrer verschiedenen poetischen Motivierung, nicht gelöst, sondern nur anders gestellt, hätten sie doch gewiss inhaltlich und formal in eins zusammengezogen werden können. Es scheint jedoch, dass der Effekt des Gedichts das Gleichgewicht stört, indem er die größere Aufmerksamkeit aufs zweite Zentrum lenkt. Hierbei würde es sich um die aus dem Traum bekannte Verschiebung handeln. Aus Gründen der Zensur wird der Traum „gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet als die Traumgedanken““. Im zweiten, gewissermaßen manifesten, Zentrum des Jabberwocky würde die Wunscherfüllung über den bedrohlichen, aus verdrängten Schichten auftauchenden Gedanken triumphieren. Dies zweite Zentrum ist, wie wir sahen, mehrfach motiviert, indem es nicht nur die inhaltliche Perspektive verschiebt, sondern dem ersten Zentrum zugleich seine formale Sonderstellung streitig macht dadurch, dass es sie – rhythmisch, alliterativ, semantisch, sozusagen auf den Begriff gebracht – in sich hereinnimmt. Listiger kann eine Zensur schwerlich manövrieren. Aber der verdrängte und immer neu zu verdrängende Gedanke, das Problem sitzt im ersten Zentrum. Dass dieses der wahre, persuasiv nicht wegzuredende Kern ist, erhellt aus der Technik des ganzen Gedichts: So wie in die normale, regelmäßige Struktur der ersten Strophe das Ganz-Andere, das Unverständliche in Gestalt der Unsinnwörter hereinbricht, so zerbricht die regelmäßige Zweierstruktur des Gedichts in der Mittelstrophe, und so bricht der Jabberwock – „whiffling“ – in den Bannkreis des kontemplierenden Jünglings.
Ein letztes Wort noch zum Jabberwocky im Zusammenhang des Looking-Glass. Das Gedicht ist eingesetzt als ein Leseerlebnis Alicens. Das kann bedeuten, dass Befreiung nur „in der Literatur“ möglich ist (vielleicht auch nur in zitierter Literatur, in der Literatur früherer Zeiten, der Geste, als Probleme sich durch einen Schwertstreich aus der Welt schaffen ließen), nicht aber im Leben, weder dem Carrolls, der darum in die Literatur flieht, noch „im Leben“ der Alice, nämlich dem Buch. Das Buch ist in gewissem Sinn eine Spiegelung des Lebens seines Schreibers (vergleichbare Frustrationen, ähnliche Unfähigkeit, zu dominieren, mit etwas fertig zu werden, statt dessen ein stetes Procedieren in _andere (Schach-)Felder: das Ausweichen als spielimmanente Lösung der Probleme, denn wenn man sich ihnen „stellte“, würde man ja „geschlagen“), und Alicens Position ist nur darin der Carrollschen überlegen, dass sie sich – eine Wunschvorstellung – durch den Sprung in eine andere Dimension, in den Wachzustand, retten kann. Für Alice bedeutete der Jabberwocky dann eine Handlungsanweisung: wie sich zu verhalten wäre bei dem; was nun kommt. Gleichzeitig bereitet er sie auf die Methode des Kommenden vor, die Spiegelungen, die im Buch meist ebensosehr kaschiert sind wie im Gedicht, d. h. intern als solche erkannt werden, spontan aber nicht notwendig erfahren werden müssen, denn wer im Spiegel steckt, handelt genauso „richtig“ (nur eben „verkehrt“) wie der, der vor ihm ist. (So gesehen wäre die Befreiung die automatisch verkehrte. Sie ist es insofern, als sie nichts löst, sondern sich hinwegsetzt.) Drittens scheint an der Stellung des Jabberwocky am Anfang des Looking-Glass bedeutsam, dass er in einem Buch, vermutlich in einem Buch des White King, steht. Vielleicht ist damit der Hinweis gegeben auf das Looking-Glass als Buch: es könnte ebensosehr bloß Geschriebenes sein wie der Jabberwocky, und es ist es ja. Und dann, mitten im Buch, der Hinweis auf den Red King (er ist die Spiegelung des White King, denn Alice ist inzwischen im Spiegel, vorher war sie erst am Rand) als den, der alles – auch Alice – träumt: das heißt, dass das Buch nicht ein Buch ist, sondern ein Traum, oder, als Buch, nur dessen Spiegelung. Den Traum so vom Ausgedachten, bloß Geschriebenen trennen, heißt aber, ihn zurückgeben an das, dem er sich verdankt: ans Leben und den nokturnen Inhalt aller Tage.