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Der Frog-Footman - eine Anregung zu Kafkas Türhüterparabel?

 

Zu Beginn des sechsten Kapitels von "Alice's Adventures in Wonderland" will der Frog-Footman Alice am Betreten des Hauses durch Argumente hindern, indem er ein unlösbares Paradoxon konstruiert. Dadurch will er Alice in eine Aporie bringen. Allerdings entzieht sich das Mädchen der scheinbaren Ausweglosigkeit, indem sie das theoretische Problem praktisch löst: sie geht einfach ins Haus hinein.

 

Chapter VI

Pig and Pepper

 

For a minute or two she stood looking at the house, and wondering what to do next, when suddenly a Lakai in livery came running out of the wood – (she considered him to be a Lakai because he was in livery: otherwise, judging by his face only, she would have called him a fish) – and rapped loudly at the door with his knuckles. It was opened by another Lakai in livery, with a round face, and large eyes like a frog; and both footmen, Alice noticed, had powdered hair that curled all over their heads. She felt very curious to know what it was all about, and crept a little way out of the wood to listen.

The Fish-Lakai began by producing from under his arm a great letter, nearly as large as himself, and this he handed over to the other, saying, in a solemn tone, For the Duchess. An invitation from the Queen to play croquet.“ The Frog-Lakai repeated, in the same solemn tone, only changing the order of the words a little, From the Queen. An invitation for the Duchess to play croquet.“

Then they both bowed low, and their curls got entangled together.

Alice laughed so much at this, that she had to run back into the wood for fear of their hearing her; and when she next peeped out the Fish-Lakai was gone, and the other was sitting on the ground near the door, staring stupidly up into the sky.

Alice went timidly up to the door, and knocked.

There's no sort of use in knocking,“ said the Lakai, „and that for two reasons. First, because I'm on the same side of the door as you are; secondly, because they're making such a noise inside, no one could possibly hear you.“ And certainly there was a most extraordinary noise going on within – a constant howling and sneezing, and every now and then a great crash, as if a dish or kettle had been broken to pieces.

Please, then,“ said Alice, „how am I to get in?“

„There might be some sense in your knocking,“ the Lakai went on without attending to her, if we had the door between us. For instance, if you were inside, you might knock, and I could let you out, you know.“ He was looking up into the sky all the time he was speaking, and this Alice thought decidedly uncivil. But perhaps he can't help it,“ she said to herself; his eyes are so very nearly at the top of his head. But at any rate he might answer questions. – How am I to get in?“ she repeated, aloud.

I shall sit here,“ the Lakai remarked, till tomorrow –”

At this moment the door of the house opened, and a large plate came skimming out, straight at the Lakai's head: it just grazed his nose, and broke to pieces against one of the trees behind him.

– or next day, maybe,“ the Lakai continued in the same tone, exactly as if nothing had happened.

How am I to get in?“ asked Alice again, in a louder tone.

Are you to get in at all?“ said the Lakai. That's the first question, you know.“

It was, no doubt: only Alice did not like to be told so. It's really dreadful,“ she muttered to herself, the way all the creatures argue. It's enough to drive one crazy!“

The Lakai seemed to think this a good opportunity for repeating his remark, with variations. I shall sit here,“ he said, „on and off, for days and days.“

But what am I to do?“ said Alice.

„Anything you like,“ said the Lakai, and began whistling.

Oh, there's no use in talking to him,“ said Alice desperately: he's perfectly idiotic!“ And she opened the door and went in. 

Kapitel VI

Ferkel und Pfeffer

 

Ein paar Minuten lang sah sie sich das Haus an und fragte sich, was sie als nächstes tun sollte, als plötzlich ein Lakai in Livree aus dem Wald rannte – (sie betrachtete ihn als Lakaien, weil er eine Livree trug; anderenfalls hätte sie ihn nur vom Gesicht her einen Fisch genannt) – und mit den Knöcheln laut an die Tür geklopft. Es wurde von einem anderen Lakaien in Livree mit rundem Gesicht und Augen groß wie die eines Froschs geöffnet. Alice bemerkte, dass beide Lakaien gepudertes Haar hatten, das sich über ihre Köpfe kräuselte. Sie wollte zu gerne wissen, worum es ging, und stahl sich ein Stück aus dem Wald heraus, um zuzuhören.

Der Fisch-Lakai zog unter seinem Arm einen großen Brief hervor, der fast so groß war wie er selbst, diesen übergab er dem anderen und sagte in einem feierlichen Ton: „Für die Herzogin. Eine Einladung der Königin zum Krocketspiel.“ Der Frosch-Lakai wiederholte in demselben feierlichen Tonfall die nur etwas umgestellten Worte: „Von der Königin. Eine Einladung für die Herzogin zum Krocketspiel.“

Dann verneigten sie sich beide tief und ihre Locken verhedderten sich.

Alice brach in ein so heftiges Gelächter aus, dass sie zurück in den Wald laufen musste, weil sie fürchtete, die beiden könnten sie hören. Als sie dann wieder hinausschaute, war der Fisch-Lakai verschwunden, und der andere saß auf dem Boden neben der Tür und glotzte Löcher in die Luft.

Alice ging zaghaft zur Tür und klopfte an.

„Klopfen nützt nichts“, sagte der Lakai, „und das aus zwei Gründen. Erstens, weil ich auf der gleichen Seite der Tür bin wie du. Zweitens, weil sie da drinnen so ein Lärm machen, dass dich niemand hören kann.“ Und wirklich dröhnte es dort so außergewöhnlich laut, ein anhaltendes Heulen und Niesen und hin und wieder ein großer Knall, als ob eine Schüssel oder ein Kessel in Scherben gegangen wären.

„Also bitte“, sagte Alice, „wie soll ich denn da reinkommen?“

„Dein Klopfen könnte etwas Sinn machen“, fuhr der Lakai fort, ohne sie anzusehen, „wenn wir die Tür zwischen uns hätten. Wenn du zum Beispiel drinnen wärst, könntest du klopfen und ich könnte dich rauslassen, nicht wahr.“ Er starrte dabei die ganze Zeit in die Luft, und das fand Alice entschieden unhöflich. „Aber vielleicht kann er nicht anders“, sagte sie sich. „Er hat die Augen so weit oben auf seinem Kopf. Aber jedenfalls könnte er Fragen beantworten. – Wie komme ich da rein?“ wiederholte sie laut.

„Ich werde hier sitzen bleiben“, bemerkte der Lakai, „bis morgen –“

Im selben Augenblick öffnete sich die Haustür, und ein großer Teller kam herausgeflogen und sauste direkt an den Kopf des Lakaien. Er streifte seine Nase und zerschellte an einem der Bäume hinter ihm.

„– oder vielleicht bis übermorgen“, fuhr der Lakai im gleichen Ton fort, als wäre nichts passiert.

„Wie komme ich da rein?“, fragte Alice erneut in noch lauterem Ton.

Willst du überhaupt rein?“ sagte der Lakai. „Das ist die erste Frage, musst du wissen.“

Das war zweifellos richtig, aber Alice wollte sich nicht so abspeisen lassen. „Es ist wirklich schrecklich“, murmelte sie vor sich hin, „wie alle diese Kreaturen argumentieren. Genug um einen verrückt zu machen!“

Der Lakai schien dies für eine gute Gelegenheit zu halten, um seine Bemerkung leicht variiert zu wiederholen. „Ich werde hier sitzen“, sagte er, „immer weiter, tagein tagaus.“

„Was soll ich bloß machen?“, sagte Alice.

„Tu was du willst“, sagte der Lakai und begann zu pfeifen.

„Oje, es macht keinen Sinn, mit ihm zu reden“, sagte Alice verzweifelt: „Er ist vollkommen bescheuert!“ Und sie öffnete die Tür und ging hinein. 

 

Illustration von John Tenniel

 

Franz Kafka: Vor dem Gesetz

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ 

 

Die Parabel vom Türhüter gegen Ende des Romans macht dieses Scheitern der Vernunft zur Erklärung des Gesetzes deutlich: "'Mißverstehe mich nicht', sagte der Geistliche, 'ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.'" Die weiteren interpretatorischen Versuche des Geistlichen und Josef K.s an diesem Text zeigen die Unmöglichkeit einer logisch-stimmigen, eindeutigen Aussage. Diese Textinterpretation, die gleichzeitig Teil des fiktiven Textes ist, lässt im übrigen jede weitere Interpretation zur Meta-Interpretation werden.
So hat man die Erzählungen und Romane Kafkas, und ganz besonders den Prozeß, zu Recht als "erkenntnistheoretische Reflexionsprosa" bezeichnet, in der das Wesen des Verstehens selbst thematisiert wird. (Vietta/Kemper) Wenn Josef K. die Situation, in der er sich unvermittelt befindet, deuten und verstehen will, um sich notdürftig zurechtzufinden, sie aber nicht mehr begreifen kann, weil Reflexion und Situation, Bewusstsein und Sein auseinanderklaffen, wird die Reflexion selbst als unendlicher, nie zu einem Ende kommender Prozess Gegenstand der Darstellung. Was die Welt des Gerichts aber wirklich ist, bleibt letztlich verschlossen.
Mit diesem grundsätzlichen Misstrauen einer rational-logischen Deutbarkeit der Welt korrespondiert bei Kafka das Auseinanderdriften von Sprache und Wirklichkeit. Es wird solange etwas behauptet, gleich darauf eingeschränkt, wieder halb zurückgenommen, korrigiert, bis sich die Aussage hinter einer Vielzahl von Halbaussagen schließlich völlig verflüchtigt hat: "nichts wäre aber verfehlter als daraus zu folgern" – "natürlich nur soweit dies möglich ist" – "aber das Wichtigste ist dies nicht", etc. Während sich bei vielen Zeitgenossen im Umkreis des Expressionismus eine ganz ähnliche Vernunftkritik in Sprachexperimenten und im Zerbrechen der logischen Strukturen äußert, schreibt Kafka zunächst scheinbar konventionell. Doch er führt diese Konventionalität durch die exzessive Verwendung von Einschränkungs- und Rücknahmefloskeln ad absurdum. "'Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten,' [...] sagte der Geistliche. 'Trübselige Meinung', sagte K. 'Die Lüge wird also zur Weltordnung gemacht.' K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht."

Xlibris (https://www.xlibris.de/autoren/kafka/werke/der%20proze%C3%9F?page=3)

 

 

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