Rüberjemacht

Eines Morgens fuhren wir in den Urlaub. Es muss so Anfang März '52 gewesen sein. Ich freute mich gerade auf meinen Geburtstag, als meine Mutter mir eröffnete: „Wir fahren jetzt in den Harz nach Wernigerode.“

Auf dem Hof stand mein Vater mit zwei großen Koffern, meine Mutter trug ihren schwarzen Pelzmantel, alle nahmen bewegt Abschied, und wir gingen zum Bus. In Sudenburg stiegen wir in die Straßenbahn, die uns zum Hasselbachplatz brachte, wo wir wieder umsteigen mussten.

Auf dem Bahnhof eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Mächtige Lokomotiven schnauften vorbei und stießen gewaltige Qualm- und Dampfwolken aus. Überall quietsche und pfiff es. Kaum getraute ich meine Augen offen zu halten, wenn so ein Ungetüm langsam an uns vorbeidonnerte. Aber wir stiegen in ein Abteil ein und setzten uns.

Ich beteuerte allen Mitreisenden: „Wir fahren nach Wernigerode in den Urlaub“, was verstehendes Lächeln bei den fremden Leuten und unruhige Ermahnungen seitens meiner Eltern erzeugte: „Nun sei doch endlich still!“ Und ich war still, als ich die Ohrfeige sah, die sich hinter der rechten Pupille meines Vaters ankündigte.

Irgendwann stiegen wir auf einem großen Bahnhof in einen Zug ohne Lokomotive um, und dann waren auf einmal riesengroße Häuser zu sehen, Häuser und immer mehr Häuser. Der Zug hielt mehrere Male, und endlich stiegen meine Eltern mit mir aus. Auf der Treppe zur Straße sah ich sie: „Das sind Russen!“

Mein Vater lachte. „Nein, das sind doch Amerikaner, Amis sind das! Wir haben rüberjemacht und sind in Berlin!“ Nach einer Woche landeten wir im Westen in einem Flüchtlingslager.

 

zurück zur Titelseite