Tante Emmy

Meine Mutter besuchte manchmal Tante Emmy und nahm mich mit. Diese Tante, die gar keine richtige Tante war, blieb auch viele Jahre nach ihrem stillen Tod in unserer Familie in Erinnerung. Gelegentlich hatte sie meiner Oma beim Entsteinen von Schattenmorellen geholfen. Immer, wenn im Winter eines der hohen Einweckgläser geöffnet wurde und wir die kalten Sauerkirschen mit viel rotem Saft aus Glasschalen löffelten, rief der, der auf einen Kirschkern biss: „Tante Emmy!“

Sie wohnte in zwei kleinen Zimmern eines windschiefen Hauses, die reichlich mit alten Möbeln und schönen Bildern ausgestattet waren. Da lümmelten geschnitzte Sessel auf fadenscheinigen Teppichen herum, da langweilten sich gedrechselte Stuhlbeine, kleine Tische lehnten lässig an den Wänden und feine Intarsien sprangen mir von lackierten Hölzern entgegen. Auf leichtfüßigen Kommoden hockten silberne Bilderrahmen, von denen mich längst verstorbene Familienangehörige ernst anblickten. An den Wänden hüpften Tänzerinnen auf fein gemalten Bildern in goldenen Rahmen, und ein paar aufgetakelte ältere Frauen glotzten aus ihren Medaillons zu mir herab. Sogar die einfachen Gardinen hatten sich elegant um ihre Fenster drapiert. Ein Glasschrank wartete auf mich, und immer, wenn wir Tante Emmy besuchten, musste ich hineinblicken. Da sah ich Kinder in weißen Kleidern, die sich auf grünen Gläsern Bälle zuwarfen, und schöne Frauen, die ihre kurzen Porzellan-Röckchen langsam drehten. Sammeltassen prahlten mit ihrer goldenen Bemalung und chinesische Elfenbeinschnitzereien auf dunklen Holzsockeln führten mir mit durchbrochen Täfelchen eine fremde Landschaft vor: Ich sah einen Tempelberg und viele kleine Chinesen, die mit ihren Booten vor Felsen mit knorrigen Bäumen entlang ruderten.

Daneben stand eine lächelnde Figur, über deren Kopf eine Elfenbeinkugel schwebte, die außen von einem Drachen bewacht wurde, der sich zwischen Wolken um das Rund wandte und die weitere Kugeln beschützte, die mit verschiedenen Mustern bedeckt im Inneren der großen Kugel wohnten. Wie der Schnitzer das gemacht hat, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.

 

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