Ein Gastgeschenk

Im Wohnzimmer gab es zwei Bilder, die einander gegenüber hingen. Das eine zeigte eine milde italienische Landschaft, das andere war rund und ließ eine schroffe Alpenformation erkennen. Da stürzte ein Bergbach durch eine Schlucht und im Hintergrund drohte ein finsteres Felsengebirge, über dem sich dunkelblaue Wolken gesammelt hatten. Das Bild war auf einen hölzernen Fassdeckel gemalt, den man mit Sperrholz verstärkt hatte.

Mein Opa wusste, dass dieses Bild von seinem Großonkel stammte, der ein Malergeschäft betrieben hatte und der eigentlich Kunstmaler werden wollte. Aber für ein Kunststudium hatte das Geld seiner Eltern nicht gereicht und so musste er ein Handwerk erlernen. Bekannt wurde er durch seine Malerei, mit der er Hausflure und Gastwirtschaften schmückte; dabei brachte er die Farben nicht auf den frischen, noch feuchten Kalkputz auf, sondern bemalte das schon trockene Mauerwerk. Im vorderen Hausflur konnte ich Reste einer grünen Bemalung erkennen, die wohl noch von diesem Onkel stammte. Er soll auch eine Reihe von Bilden in Öl gemalt haben; in der Familie hat sich nur die runde Alpenlandschaft auf dem Fassdeckel erhalten.

Der Onkel hatte einen Freund, dem erlaubten die Eltern, Kunstmaler zu werden. Als der einmal von einer Italienreise nach Deutschland zurückkehrte, war er Gast im Elternhause seines Malerfreundes. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als die Großeltern meines Großvaters noch lebten. Als Gastgeschenk hat der Kunstmaler damals ein Bild dagelassen, das er von Italien mitgebracht hatte. Auf dem Gemälde wandert ein Angler zu einem stillen See, hinter dem sich ein mildgeformter Berg erhebt. Zwei Pinien, die mächtige Schirme über ihren Stämmen entfaltet haben, rahmen die Szene ein. Immer, wenn ich davor stand, wünschte ich mir, ich könnte in das Bild hineingehen und den Angler zu seinem See begleiten.

 

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