Weinreben

Im Norden meines Gartens führte der Weg an einer Mauer aus Bruchsteinen vorbei zum Hühnerhaus. Sie war mit Weinreben berankt, die mein Opa in den Jahren um 1930 von einer Reise mitgebracht hatte. Er war damals mit seiner Frau und seinem Motorrad den Rhein entlang bis ins Elsass gefahren, hatte die Schweiz erreicht und durchquert und war schließlich bis zum Genfer See gekommen. Von seiner damaligen Reise soll ein Bild stammen, das er nach seiner Rückkehr in sein Haus gemalt hat und das lange Jahre im Wohnzimmer meines Onkels hing. Es zeigt ein Seeufer und ein weit entferntes Schloss; man erkennt auf den ersten Blick, dass es sich um Schloss Chillon handelt. Auch habe ich von meiner Oma ein kleines Holzkästchen geerbt, das auf seinem Deckel genau dieses Motiv zeigt. Das muss er als Gedächtnisstütze bei seiner Kunstaktion benutzt haben.

Auf der Rückfahrt nahm er dann vom Rhein mehrere Reben mit, die gut verpackt und feucht gehalten bis in mein Dorf gelangten. Einige der Reben wuchsen an und gediehen vor der Mauer, die meinen Garten von Thoms Grundstück abgrenzt. In guten Jahren wurden die Trauben im späten September sogar reif und mein Onkel schnitt sie im Oktober ab, presste die Beeren aus und füllte den Saft in große Glasballons, die er aus der chemischen Fabrik mitgebracht hatte, in der er arbeitete. Dann gluckerten einige Tage in der Waschküche des alten Hauses die Gärröhrchen auf den Flaschen und verströmt ihren säuerlichen Geruch. Mein Onkel ließ seinen Wein durchgären; er zog ihn dann auf Flaschen ab, die er mit Naturkorken verschloss. Damit die Hefen ihr Werk auch vollbringen konnten, gab er ihnen in jedem Gärbehälter ein wenig Honig als Extraspeise.

Später nannte mein Opa den Wein „Hummelbrumm“; manche Gäste sagten mir, dass man von diesem Wein starker Kopfschmerzen bekommt. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn ich habe ihn nie trinken dürfen.

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