Ein Wolkenbruch

Wenn an einem heißen Nachmittag im Juli oder August die schweren Gewittertürme von Südwesten heranzogen, dann suchte ich mir einen etwas erhöhten Aussichtsplatz, der mich aber vor Regen und vor allem vor den Blitzen schützen konnte, denn ich durfte bei Gewitter nicht draußen sein und musste mich, wenn einmal ein überraschendes Unwetter kommen sollte, in einem Gebäude unterstellen. Dass ich dummen Sprüchen wie „Buchen sollst Du suchen und Eichen musst Du weichen“ nicht trauen durfte, hatte mir mein Opa mit folgenden Worten erklärt: „Jeder Baum, ganz gleich welcher Art, stellt eine Erhebung dar und ist daher besonders in Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden. Du solltest daher alle Bäume bei Gewitter meiden!“ Das tat ich auch.

Einen sicheren Platz glaubte ich am Hoftor zu Alfred Knochenmuß' Klempnerei gefunden zu haben, von dem aus ich über den Denkmalplatz nach Süden schauen konnte. Der runde Torbogen gewährte mir Schutz und notfalls konnte ich noch immer unter den überdachten Anbau hinten auf dem Hof laufen, wo die erste Etage des alten Tanzsaales mehr als ein Meter überstand.

Von meinem Standort aus konnte ich sehen, wie sich die drohende schwarze Wolkenfront ziemlich schnell heran schob. Ab und zu zuckten Blitze aus den Wolkenrändern und ihr Donner verriet mir, dass sie noch fünf bis sechs Kilometer entfernt sein mussten. Noch war es fast windstill, dann verdunkelte sich der Himmel, schlagartig verschwand die Sonne und es kam ein starker Wind auf, der Staubwolken über den Platz wirbelte. Immer noch fiel kein Regen. Die Blitze erhellten die einbrechende Dunkelheit und der Donner krachte in gefährlicher Nähe. Plötzlich schlug der Regen herab, erst nur in Tropfen, dann in Strömen, die von den Böen fast senkrecht über den Platz getrieben wurden. Es roch nach fettem Bördeboden. Um Roseburgs Hausecke verschwand ein schwarzer Vogel und suchte Schutz unterm Dach.

Ich sah einen grellen Blitz und hörte gleichzeitig den Donnerschlag, Das Gewitter musste genau über mir ein. Jetzt war es ganz dunkel geworden, nur die Blitze ließen mich die Häuser auf der gegenüber liegenden Straßenseite erahnen. Der Regen hörte nicht auf und fiel wie Bindfäden senkrecht vom Himmel. Aus einer Dachrinne sprudelte das Wasser in eine hölzerne Regentonne, die bereits überlief. Dann platschte Wasser direkt aus der Traufe von Knochenmuß' Haus auf die Straße. Ich blickte hinauf und konnte im Halbdunkel sehen, wie vom Dach ein Wasserfall auf der ganzen Breite über die Traufe im Bogen herunterstürzte. Plötzlich stand ich in einem Bach, der vom Hof her unter dem nur angelehnten Tor hindurch auf die Straße floss. Dort vereinigte er sich mit dem anderen Bach, der den Rinnstein entlang rauschte, und beide Gewässer stürzten sich vereint die Teichstraße hinunter zur Pferdeschwemme. Die ganze Straße glich einem Fluss, der sein Wasser in die Teichstraße spie; überall entstanden Stromschnellen und die Wassermassen gurgelten bis in den Teich. Ich hatte einige Mühe, gegen die Strömung auf den Hof zu waten und den schützenden Überstand zu erreichen.

 

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