Mein erster Schultag

 

Mein erster Schultag ließ sich nicht vermeiden. Lesen konnte ich bereits, das hatte ich mir mit Hilfe meines Opas selber beigebracht und befand mich schon seit einem dreiviertel Jahr auf der unendlichen Abenteuerreise ins Land der Fantasie. Ich hatte mit Robinson Crusoe trotz starken Wellengangs den rettenden Strand erreicht, danach die wichtigsten Werkzeuge und Lebensmittel in letzter Minute vom Wrack gerettet und eine sichere Höhle gefunden, die wir gemeinsam wohnlich einrichteten und gegen wilde Tiere befestigten. Im Garten hinter dem Haus meiner Großeltern hatten die meisten meiner spannenden Expeditionen und Weltreisen stattgefunden; hier waren die hohen Berge Zentralasiens, auf die es zu klettern galt; die weiten Steppen Afrikas mit den wilden Löwen und den großen Elefanten; die gefährlichen Jagdgründe der nordamerikanischen Indianer, durch die man nur mit allergrößter Vorsicht reiten durfte; hier lebten auch meine Freude, die großen Abenteurer und Entdecker. Und es gab die endlosen Weltmeere, die mit Segelschiffen erobert werden mussten oder – wenn ein paar Jahre später Jules Verne mit von der Partie war – auch mit hochmodernen Dampfschiffen befahren werden konnten. Sogar im Winter, wenn alle Blätter abgefallen waren und die Bäume ihre Zweige wie Gerippe in den fahlen Himmel streckten, machte ich mich in meinem Garten auf, um an einer Reise zum Südpol teilzunehmen oder um mit der Nanga-Parbat-Expedition einen eisbedeckten Bergriesen im Himalaja zu bezwingen.

Aber mein Opa sagte, man könne in der Schule noch mehr lernen als Lesen, denn mit dem Schreiben tat ich mich noch schwer, und dann gäbe es da noch Rechnen und andere Fächer, von denen ich mir bisher keine Vorstellung gemacht hätte. Und meine Oma sagte kategorisch: „Der Junge muss in die Schule! Basta und Punktum!“

Also wurde ich eines Morgens sauber gewaschen und gekämmt mit meinem neuen Ranzen auf den Weg geschickt. Die Schule lag nur ein paar hundert Schritte um den Block entfernt, und in der Planke, die meinen Garten vom Schulhof trennte, war sogar eine hölzerne Pforte eingelassen, die meine Oma ausnahmsweise einmal aufgeriegelt hatte. Sie war gehbehindert und konnte nicht weiter mitkommen, drückte mir aber eine große Schultüte in den Arm, die ich dann mit einiger Mühe über den grau-bekiesten Schulhof zum Eingang des alten Backstein-Gebäudes schleppte, wo ein Schwarm aufgeregter Mütter mit ihren Kindern summte, wie ich es sonst nur mit den Bienen meines Opas erlebt hatte, wenn sie an schwülen Sommertagen ausschwärmten und sich zu Tausenden im Kirschbaum niederließen.

In der wuselnden Menge erkannte ich einige Kinder, blieb aber am Rand des Geschehens stehen, wartete, bis ein alter Mann meinen Namen aufrief und gesellte mich zur Klasse 1b. Wir mussten uns in Zweierreihen aufstellen, wurden dann ins Gebäude geführt und gingen in unseren neuen Klassenraum. Vorne stand ein Pult und hinten an der Wand hingen Bilder von Stalin, Pieck und Grotewohl, die streng auf uns herabblickten.

Ich setzte mich ganz hinten in die rechte der drei Bankreihen neben Peter Meinecke, der auch bei seiner Oma wohnte. Wir kannten uns vom Versteck-Spielen am Dorfteich und er sagte grinsend, indem er nach hinten zeigte: „Pieck und Grotewohl/ Kloppen sich um Sauerkohl/ Sauerkohl is knapp/ Und du bis app!“ Ich antwortete: „Caterina Valente/ hat 'nen Arsch wie 'ne Ente/ Hat 'nen Maul wie 'ne Kuh/ Und aus bis du!“

Mindestens vierzig aufgeregte Mütter begluckten ihre Kinder. Meine war nicht dabei, denn sie wohnte weit weg im Westen, von wo aus sie mir gelegentlich Bananen, Schokolade und Autos schickte, auf denen „Made in Western Germany“ stand und mit denen ich vor meinen Spielkameraden mächtig angeben konnte. Meine Eltern waren mit mir ein Jahr zuvor „rüberjemacht“, hatte mir aber nach drei Monaten ein Schild um den Hals gehängt, auf dem mein Name stand und die Adresse meiner Großeltern. Seit einigen Monaten bekam ich regelmäßig von meiner Mutti das Micky-Maus-Heft geschickt und war bereits damals begeisterter Donald-Duck-Fan.

Endlich verwies Lehrer Wastrack alle Mütter des Klassenzimmers, ließ ein Mädchen ihre Schultüte hochheben und malt deren Umrisse mit langen Kreidestrichen an der Tafel nach. Dann drehte er die Zeichnung um, fügte im oberen Teil einen Querstrich hinzu und sagt: „Das ist ein A.“ Danach malte er zwei umgekehrte Schultüten links vom A und sagt: „Das ist ein M.“ Karla Braune dreht sich zu mir um und sagt: „AA“, dann streckte sie mir die Zunge raus. Wir mussten beide Buchstaben im Chor wiederholen. Danach malte Lehrer Wastrack noch drei Schultüten und las uns vor: „MAMA.“ Und wir riefen: „Mama, Mama, Mama!“ Da wurde die Tür aufgerissen, aber unser Lehrer beruhigt die herein quellenden Mütter wieder: „Ihr müsst draußen bleiben!“ – „Wie die Hunde beim Fleischer Heynecke“, grinste Udo, der am Denkmalplatz wohnte. Wir lachten, denn wir nannten unsere Mamas „Mutti“. Dann mussten wir unsere Schiefertafeln und die Griffel aus den Ranzen holen und alles von der Tafel abmalen. Als Hausaufgabe sollten wir die ganze Schiefertafel voller MAMAs malen. So lernte ich unter Stalins strengen Augen das Schreiben.

Dann durften wir unsere Sachen einpacken und es wurde ein Klassenfoto gemacht. Ich fragte Karla: „Kommste nachher auf'n Denkmålplatz?“ Karla streckte mir die Zunge raus. Als das Foto fertig war, nahmen alle Muttis ihre Kinder wieder mit nach Hause. Sogar Peters Oma war da, nur ich trottete ohne Mutti alleine zum Haus meiner Großeltern zurück. Dort tröstete ich mich mit dem Inhalt meiner tiefen Schultüte, die mir meine Mutti aus dem Westen geschickt hatte und den ich besonders schätzte, nachdem mir Frau Helmecke auf dem Hof verraten hatte, dass in den meisten Schultüten meiner neuen Klassenkameraden unten Kartoffeln drin waren und „oben druff nur ‘nen påår Bollchen, weil Süßes inne Zone so teuer is“. In meiner fand ich feine Katzenzungen und Mandelsplitter-Schokolade.

Meine Lehrer gaben sich große Mühe, mir etwas Ordentliches beizubringen, nur meine Freunde, die großen Abenteurer und Entdecker, fand ich dort nicht. Aber wenn die Schule aus war und ich eilig meine Hausaufgaben gemacht hatte, dann vergaß ich die Lehranstalt und stürzte mich mit voller Wucht in ein neues Abenteuer. Dazu nahm ich manchmal auch Schulkameraden mit, zuerst nur Peter und Wolfgang, der schon die dritte Klasse besuchte, später auch Karla, als sie mir nicht mehr die Zunge rausstreckte.

Mein Opa hatte mich auf den Unterricht vorbereitet. „Ich habe dir erklärt“, sagte er, „dass der Engländer James Watt die Dampfmaschine erfunden hat.“ Ich nickte. „In der Schule aber wird man es dir anders beibringen. Merke dir Folgendes: Die Russen sind jetzt unsere Freunde. Sie sagen: 'Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.' Daher wird man dich unterweisen, dass die Dampfmaschine von dem Russen Wladimir Puffpuff erfunden wurde.“ Ich nickte wieder und sagte: „Die Dampfmaschine hat Wladimir Puffpuff erfunden.“ „So ist es recht“, sagte mein Opa, „denn Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält. Darum gibt‘s in der dritten Dekade auf die Marken statt Margarine nur Marmelade.“ Und er sang mit mir das Lied der FDJ „Jugend Erwach!“ Den Refrain konnte ich bald mitsingen:

 

Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf,
Freie Deutsche Jungend, bau auf.
Für eine bessre Zukunft
Richten wir die Heimat auf!

 

Ich habe in der Schule nichts von einem Russen Puffpuff gehört, aber ein Gedicht aus dem Lesebuch gelernt, das meine spätere Berufswahl beeinflussen sollte:

 

Mein Bruder ist ein Traktorist
in einem Dorf in Sachsen,
er leistet, was nur möglich ist,
damit die Halme wachsen. –

Er rechnet oft und überlegt:
Kann ich’s noch besser machen?
und wie er seinen Traktor pflegt –
das Herz kann einem lachen!

Er kämpft dafür, dass Frieden ist,
mit starken Eisenpferden.
Mein Bruder ist ein Aktivist!
Und ich will einer werden.

 

Ab jetzt wollte ich Aktivist werden.

 

Am Nachmittag spielen Erwin, Udo, Ulrich, Karla und ich Verstecken auf dem Denkmalplatz; wir zählen ab: „Ene mene mopel, wer friss‘ Popel? Süß und saftich, eene Mark und achtzich, eene Mark und zehn, und du muss‘ jeh'n!!“ Erwin versteckt sich mit mir auf unserem Hof. Der alte Helmecke ist dabei, Feuerholz zu hacken. Ihn stört es, dass wir Jungen uns hinter die Aschentonne ducken. Erwin streckt ihm die Zunge heraus. Darum wirft Helmecke mit dem Beil nach uns und trifft Erwin. Dem fehlt nun ein Schneidezahn und er muss meine Oma beruhigen, die gleich angehumpelt kommt: Am Beil steckt zum Glück noch der Holzscheit . Aber das Spiel ist aus; sie schickt Erwin nach Hause, damit ihm seine Oma das blutende Gesicht versorgen kann.