Viele Väter

 

Als ich einmal ganz krank war und mit keinen Kindern spielen durfte, kam Helga öfter zu uns. Die hatte schon Masern gehabt und konnte sich nicht bei mir anstecken. Helga spielte mit mir im Garten Mann und Frau und Krankenhaus. Dann musste ich mich ins Gras legen und Helga pflegte mich gesund. Sie nahm meine Hand und führte sie sachte zwischen ihre Beine. Wenn ich Helga dann langsam kribbelte und kraulte, griff sie durch das eine Bein der Leserhose, was ein warmes Gefühl erzeugte. Helga war gerade 15 und hatte kleine, feste Brüste. Die musste ich auch vorsichtig anfassen. − Von Helga weiß ich, dass mein Vater nicht mein Vater ist: „Der kann doch keine Kinder mehr machen, dem ham' se die Eier wegjeschossen. Dich ham die Russen jemacht!“

Die Russen kannte ich. Die fuhren in ihren grünen Autos manchmal durch unser Dorf und wohnten draußen in Krakau hinter einer Schranke. „Åber was håbn die mit meine Mutti jemåcht?“, fragte ich Helga. Die lag eine Weile still im Gras und sagte dann: „Darfste aber kei'm erzählen, dass ich dir das jesacht hab', verstehste!“ − „Jroßes Jeheimnis!“, versprach ich und Helga erzählte: „Wir sin damals gerade hier anjekomm‘ von Polen, verstehste? Auf die Flucht vor die Russen, wo meine Mutti un all die andern umjekommen sind! Und über die Brücke ham mers noch jeschafft, bevor die se jesprengt ham. Wumm! war se wech. Und so ville noch drübn! Zwei Tanten von mir sin noch in Polen. Dann warn 'mer in Sicherheit, weil die Amis uns jut behandelt ham. Die sin nich so wie die Russen! − Aber hier sin se dann doch wieder weckjezoren, die Amis. Das war, wie du noch nich uffe Welt warst. Dann ham alle jesacht: Die Russen komm‘! und ich hatte schon de Sachen jepackt. Wollte mit Robert weiter nach Westen. Das jing aber nich, denn ich krichte Masern, so wie du se jetze has. Und als de Russen kam'n, ham wir Mädchen und Frauen uns alle verkrochen. − Deine Mutti und Emma Knochenmuß ham se aber in euerm Hühnerstall jefund'n und mitjezerrt. Rüber zu Thomsens Scheune, da ham se sich orndlich een uff de Lampe jejossen.

Und dein Onkel hat versucht, seine Schwester mit ‘nem Liter Schnaps freizukofen, se ham ihm aber uff‘n Schädel jeschlagen und die Flasche leerjesoffen. Dann ham se jetanzt und die Männer ham jejröhlt. Wir ham Emma und deine Mutti zuerst noch schreien jehört, dann aber warn se still. Alle Mann sind se drüberjerutsch, fuffzehn oder zwanzich Mann. Die Emma haben se dabei totjemacht, deine Mutti aber hat's überstanden. Und im Jahr drauf biste uff de Welt jekomm'n. Und als deine Mutti schon 'nen dicken Bauch hatte, hat se den Piesepampel jeheiratet, damit du 'nen richtigen Vati hast, verstehste?“

Und dann musste ich die Helga noch einmal zwischen den Beinen befummeln, und sie sagte nichts mehr. Einmal hat meine Mutti uns so gesehen und danach durfte Helga nicht mehr zum Spielen kommen.

Damit, dass der Russe mein Vater sein sollte, habe ich damals gar nichts anfangen können. Aber gewurmt hat es mich doch, was der meiner Mutti angetan hatte. Der Russe soll auch Fahrräder und Uhren auf offener Straße geklaut haben, sagte meine Oma. Für den Russen hatte ich ab jetzt nichts mehr übrig. Der konnte mir gestohlen bleiben. Den Ami kannte ich noch nicht, aber das sollte sich bald ändern.

Jetzt ist aber der Moment gekommen, wo ich mit dem Erzählen innehalten muss, denn die Russengeschichte ging mir damals nicht mehr aus dem Kopf. Ich sehe mich als gerade Sechsjährigen, der noch mit Leibchen, Strickhosen und langen Strümpfen bei Wind und Wetter zwischen Hof und Garten hin und her tollt, bei schönem Wetter Äpfel aufsammelt, mit denen er sich in sein Versteck hinter dem Bienenhaus zurückzieht oder – wenn es regnet, leise durch den Alten Hausflur auf den Dachboden steigt, um dort hinter der Treppe − einen Apfel nach dem anderen kauend – darüber nachsinnt, wer denn sein Vater sein könnte.

Dabei kamen mir allerlei Möglichkeiten in den Sinn; von Onkel Tist über Zippi bis zum Dorftrottel Detlev malte ich mir aus, ob es nicht diesen oder jenen Vorteil für mich bringen würde, aber bei reiflicher Überlegung strich ich alle drei Kandidaten wieder von meiner Liste. Onkel Tist mit dem großen Geldsack war viel versprechend, denn er schenkte mir ab und zu eine Mark. Allerdings war er fett und kam nur Sonntags zu Besuch. Dann tätschelte er meiner Mutti auf Gesicht und Schultern, zog sie zum Abschied dicht an sich heran, um ihr einen Kuss zu geben − was sie immer entrüstet abwehrte −, blieb der Familie aber auf freundschaftlicher Distanz verbunden, so dass ich mir nicht näher ausmalen wollte, ihn dauernd zu Hause zu haben. Ich glaube, er stank auch nach Schweiß; meine Mutti jedenfalls mochte ihn nicht, sie atmete nämlich auf, wenn er gegangen war: „Die olle Nappsilze tut sich immer frech ranvettermicheln!“

Bei Zippi war das anders. Der wohnte gleich nebenan bei Gehrs in der ersten Etage und pfiff immer lustige Lieder. Geld gab er mir nie, aber er war fröhlich. Zippi war immer beschwingt, ansteckend aufgeräumt. Wenn Zippi zu uns ins Haus kam, war gleich was los. Nicht, dass er Witze erzählte, nein, es genügte, wenn er nur kam und irgendetwas in betont ordentlichem Deutsch sagte, wie: „Die gnädige Frau Biederitz schält die Kartoffeln aber wieder elegant heute! Papierdünn ist die Schale, wirklich papierdünn!“ Oder: „Was hat unsere Alice aber heute wieder ein hübsches Kleid an, nein, wie elegant das ist!“, und schon lachten die Frauen und so schallend, dass ich mitlachen musste. Zippi hatte immer Hunger und saß meistens auch bald vor „irgend einer klitzekleinen Schweinerei, nur für den hohlen Zahn, und ich muss auch gleich wieder!“

Wenn Zippi so am Wohnzimmertisch saß, durfte ich auf die Klaviertasten drücken, nicht zu laut, sonst guckte er missbilligend zu mir herüber, ganz zart und leise, wie er es mir vorgemacht hatte. Manchmal dreht er den Klavierhocker für mich hoch, verbeugte sich lachend und sagte: „Hoppla, Majestro!“ Dann kletterte ich auf den Hocker, setzte mich auf die aus Leder geprägte Lyra und begann vorsichtig, die schwarzen Tasten zu streicheln, bis zarte Töne das Zimmer erfüllten. Meine Oma hatte längst die Küchentür geschlossen, Zippi bediente sich ungeniert an meiner Mutti üppigen Brüsten und griff wohl auch unter ihren Rock. Manchmal hörte ich sie leise stöhnen: „Nicht vor dem Jungen, nicht vor dem Jungen!“

Da ich sonst nicht ans Klavier durfte – „Jehört Tante Resi, un die wird böse, wennes kaputt machst!“ − ließ ich die beiden am Tisch und auf der Chaiselongue gewähren, kümmerte mich wenig um das Getatsche und Gestöhne und versank ganz langsam in die Welt der sanften Töne, die ich in immer anderen Wellen aus dem schwarzen Kasten streichelte. Manchmal schlug ich auch die weißen Tasten an, aber nur ganz vorsichtig und leise, meistens aber blieb ich auf der linken Seite bei den schwarzen.

− Also Zippi, den konnte ich mir als Vater schon vorstellen, der war lustig, und wenn er kam, war meine Mutti froh und lachte, ich aber durfte ans Klavier. Eines Tages kam er nicht mehr, dann hieß es, er sei krank, sehr krank; kurze Zeit später muss er gestorben sein, an Leberzirrhose, wie ich viel später erfuhr, denn er trank.

Meinen Vater Detlev dachte ich mir immer nur aus, wenn ich mich geärgert hatte oder zornig war. Den wünschte ich meiner Mutti dann als Mann. Detlev kannten wir Kinder ganz genau. Wenn es nach einem ordentlichen Regenguss schönes Wetter gab, gingen wir auf den Denkmalplatz und sahen der blöden Dorfjacke, wie Udo ihn nannte, im Schatten der Robinien beim Malen zu. Detlev hatte eine rote Fresse und abstehende Ohren, konnte aber aufregend zeichnen. Er hielt einen Stock in der Hand und beugte sich über eine mehrere Quadratmeter große Fläche blanken, schwarzen Börde-Bodens, die er vorher sorgfältig von Blättern, Stöcken und Steinen gereinigt und mit seinen Quadratlatschen platt getrampelt hatte. Dann grub er mit dem Stock in schnellen Zügen die groben Umrisse eines Segelschiffs in die noch feuchte Erde. Jetzt zeichnete er die Masten, die Mastkörbe und dann − viel langsamer und bedächtiger − Segel auf Segel.

Wir schauten zu und staunten; das konnte keiner von uns. Bald waren alle Segel gesetzt und das Vollschiff ging vor den Wind. Wir hatten bisher zugeguckt; nun aber wagte der Mutigste von uns, Erwin, den ersten Angriff. Schnell sprang er vor und löschte ein Focksegel weg. Schon war er einige Meter zur Seite gelaufen und hatte sich hinter dem Denkmal versteckt. Detlev schrie auf, starrte wild umher, machte eine Bratschlabbe und ließ Schaum vom Mund tropfen. Der Krieg war erklärt. Wir zogen uns einige Schritte zurück. Langsam bildeten wir einen großen Kreis. Die Wölfe umringten ihr Opfer. Detlev stand dicht neben seinem Schiff und verteidigte Masten und Segel. Wir, manchmal fünf oder sechs Jungen, selten waren Mädchen dabei, suchten eine Gelegenheit anzugreifen. Sobald Detlev sich herabbeugte, unartikulierte Laute ausstieß und sabbernd das ausgelöschte Segel wieder flickte, sprang ein anderer vor und wischte rasch ein Stück Segel aus. Da hieß es schnell zurückspringen, denn Detlev hatte nur darauf gelauert, jaulte wie ein geprügelter Hund und schlug mit dem Stock um sich. Manch einer fing so einen schmerzhaften Hieb, aber Segel um Segel verschwand, und die Meute blieb Sieger. Wenn Detlev mit der Schiffsreparatur nicht mehr nachkam, wenn sein verzweifeltes Schlagen keinen abschreckenden Erfolg mehr zeigte, zerstörten wir binnen Sekunden große Teile des Kahns, an dem er eine ganze Stunde und mehr gearbeitet hatte, dann hielt Detlev mit dem Schlagen inne, dann sabberte er noch mehr als sonst, gab tierische Laute von sich, brabbelte Unverständliches und trabte schließlich mit seinem Stock zum Dorfteich, die Straße hinunter und dann nach rechts zum Spittel, wo er mit seiner alten Mutti wohnte. Wir waren Sieger, das stolze Schiff wurde in Grund und Boden getrampelt und endgültig versenkt.

Detlev war ein Vater, den ich mir wirklich manchmal wünschte, nur um meine Mutti zu ärgern. Aber schon war mir der Gedanke zuwider, denn was hatte ich von diesem Vater? Und nur, damit sich meine Mutti ärgern musste, das Opfer war mir denn doch zu groß.