Die Regentänzerin

Die Regentänzerin glaubt, dass ihr Tanz den Regen bringt.

Den ganzen Tag schaut sie nach Wolken aus, und wenn sie nur den feinsten Dunstschleier erahnt, der Erquickung von der heißen Sonnenglut verspricht, bereitet sie sich sofort auf ihren Tanz vor. Ihre Kleidung hat sie mit Bedacht gewählt. Die darf sie nicht in ihren Bewegungen hindern, soll aber ihrem Körper einen gewissen Schutz gegen den Regen gewähren. Sie bevorzugt eng anliegende Stoffe und pastellfarbige Schleier, die mit der Stimmung der jeweiligen Tageszeit harmonieren.

Sie sucht sich einen Standort, von dem aus sie gut gesehen werden kann. Denn den Regen, den sie herbeitanzt, will sie uns allen schenken. Den Kindern erzählt sie, dass es die Pflanzen sind, die mit ihren Ästen und Blättern den Wind erzeugen. Deshalb bittet sie auch die Bäume, mitzuhelfen und die hellen Quellwolken herbeizuholen.

Sie hebt die Arme über ihren Kopf, winkelt die Hände ab, stellt die Handflächen wagerecht und dreht sich langsam gegen den Uhrzeigersinn. Dann beginnt sie den Regentanz; sie kreuzt ihre Beine, hockt sich nieder und wirbelt in plötzlicher Aufwärtsdrehung ihre Arme gen Himmel.

Wenn dann die ersten dunklen Wolken aufziehen, singt sie ein altes Beschwörungslied. Dabei wiederholt sie ihre drehenden und streckenden Bewegungen viele Male und wird nicht müde, schmeichelnde Worte zu den Wolken hinauf zu rufen.

Immer mehr von ihnen ziehen sich zusammen, verdunkeln zunächst die Sonne, lassen es aber noch nicht abkühlen. Tiefer und tiefer drückt die Wasserlast, und sobald die ersten dicken Tropfen herunterplatschen, gipfelt der Gesang der Regengtänzerin schließlich in einem Triumphschrei.

Wenn der Regen dann herunterrauscht, schweigt sie und schließt die Augen, um – wie sie erklärt – dem einsamen Gesang des Himmels zu lauschen. Manchmal sinkt der Regen sanft zu Boden, manchmal regnet es stärker, dann verschwindet ihre farbige Gestalt hinter dichten Wasserschleiern. Sie lässt es zu, dass ihre Haare triefnass werden und fordert uns auf, den Regen zu spüren, wie er wieder und wieder an uns herabfließt. Fühlt doch, ruft sie, wie euch die Himmelstränen streifen, sie werden nicht immer herunterfallen! So wie der Tag zu Ende geht, zerfließen alle Dinge und dann verschwinden sie!

Bei Starkregen meint man, die Welt müsse untergehen, dann erhofft sich niemand Hilfe von ihr, da sie ja immer nur Regen bringt. Und wenn gar ein Gewitter tobt, wenn Hagelkörner die Vegetation zerschlagen, dann sucht sie Schutz in einem Unterstand und lacht. Ist das Gewitter vorüber, springt sie brünstig hervor und will sich mit dem Regenbogen vermählen, den sie mit ihren wehenden Schleiern aber nie erhaschen kann.

Spät in der Nacht erst geht sie nach Hause; sie murmelt dann, sie habe eine Stimme gehört, die sie nach Hause rufe. Ihr müsse sie nun folgen, da sie ihren richtigen Namen kenne.

Wenn es einmal zuviel geregnet hat, wollen einige die Regentänzerin in einem Nachen gesehen haben, auf dem sie ins Meer hinaustreibt; aber sie gleitet nicht allein vorüber, sondern eine dunkle Gestalt steht bei ihr, die langsam ein schweres Ruder führt.

Und wenn der Morgen dämmert und die ganze Welt wieder da ist, als ob nichts geschehen wäre, dann meint mancher, ein leises Echo ihres Gesangs aus dem kühlen Dunst zu vernehmen, der sich über der Nässe gebildet hat und der von der Sonne schnell aufgeleckt wird.

 

 

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