Die Treppe

 

Wenn ich Tante Emmy besuchte, was freilich selten vorkam, musste ich eine steile Wendeltreppe hinaufsteigen. Der Zugang zu Tante Emmys Wohnung befand sich auf dem Hof hinter dem Kaufhaus. Zunächst gab es keine Schwierigkeiten, denn das Tor war nur angelehnt und einen Hund wie bei Preschers gab es nicht. Dann jedoch, wenn ich mich durch die schwere Eisentür gezwängt hatte, die gleich danach wieder ins Schloss fiel, stand ich im Dunkeln. Hier konnte ich nicht darauf hoffen, dass sich meine Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnen würden, dann die wenigen Lichtstrahlen auffingen und mir den Weg zur Treppe und die Treppe hinauf wenigstens in schummrigen Umrissen andeuten würden. Wenn sich die schwere Tür geschlossen hatte, war es dunkel und blieb es dunkel. Es war die absolute Finsternis. Licht würde ich erst wieder erblicken, wenn die Tante oben die Tür öffnete und so ein wenig Dämmerlicht aus ihrer Küche in diesen lichtleeren Raum fallen würde, der einzig dazu bestimmt zu sein schien, die Wendeltreppe aufzunehmen.

Eigentlich war es eine Spindeltreppe, über deren eiserne Stufen man sich zweieinhalb Mal gegen den Uhrzeigersinn drehen musste, bis man die obere Plattform erreichte. Es waren genau dreißig Stufen, ich hatte sie immer wieder gezählt, wenn ich im Dunkeln hinaufsteigen musste. Oben war eine zweite Tür, wieder aus Eisen, sich nur von innen öffnen ließ. Neben der Tür befand sich der Klingelknopf.

Den Weg nach oben musste ich mit den Händen ertasten. Angst verspürte ich in dem dunklen Raum keine, oder fast keine, denn die seltsame Treppe übte einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, vor allem auf dem Rückweg von Tante Emmy nach Hause; dann schaute ich von der obersten Plattform mit einem langen Blick auf die steilen Stufen, die sich in den kahlen Raum hinunterschraubten und deren filigrane Metallkonstruktion keine Schatten in der Dämmerung warfen. Der Flur schien allein für dieses technische Wunderwerk gebaut worden zu sein. Die Tante blieb so lange oben stehen und hielt die Küchentür auf, bis ich mich in dem schwachen Lichtschein langsam Stufe für Stufe hinuntergetastet hatte, und von unten hinauf vernehmlich „Ich bin unten!“ hinauf gerufen hatte. Sobald meine Füße festen Boden erreicht und Tante Emmy die obere Tür wieder geschlossen hatte, öffnete ich die untere Tür und lief hinaus auf den Licht überfluteten Hof.

Einmal, ich sollte einen Korb mit Walnüssen von Tante Emmy abholen, war ich – wie schon so oft zuvor – durch die untere Tür eingetreten, erreichte mit drei, vier raschen Schritten die Wendeltreppe, während hinter mir die Tür langsam zuging, und hielt mich mit der rechten Hand am unteren Ende des Geländers fest, um in der Dunkelheit die Orientierung nicht zu verlieren. Die Tür hatte sich geschlossen und um mich herum breitete sich eine unendliche Stille aus. Die Dunkelheit war so vollkommen, dass ich keinen Unterschied feststellen konnte, ganz gleich, ob ich die Augenlider geöffnet oder geschlossen hatte. Als ich Schritt für Schritt hinauftastete, dachte ich mir, wie schön es doch wäre, wenn man in diesen Treppenturm Fenster eingelassen hätte, die Licht von draußen hineinfluten ließen, und wenn ich die seltsame Treppe einmal ganz genau – und nicht nur im schemenhaften Halbdunkel beim Hinabsteigen – betrachten könnte. Ich malte mir aus, wie ich beim schnellen Hinauflaufen den Kopf nach hinten zurücklegen würde und durch die Eisenroste der Stufen über mir das Ende der Treppe näher kommen sähe. Aber in Wirklichkeit tastete ich mich Schritt für Schritt und Stufe für Stufe hinauf und ließ dabei die Innenfläche meiner rechten Hand die gleichmäßige Rundung des eisernen Handlaufs hinauf gleiten. Wieder und wieder ertastete ich, einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, die nächste Stufe und dann auf die nächste und wieder die nächste. Als ich die neunundzwanzigste Stufe gezählt hatte, erwartete ich jeden Moment, die obere Plattform zu erreichen, die mir durch das Ende des Handlaufs angekündigt wurde, der abrupt an eine senkrechte Stange stieß. Aber Stufe folgte auf Stufe, und der Handlauf endete an keiner Stange.

Jetzt hatte ich das Gefühl, mich statt der gewohnten zweimal bereits mindestens vier- oder fünfmal um die Spindel gedreht zu haben, und noch immer war der Handlauf nicht zu Ende. Zu zählen hatte ich vor Überraschung längst aufgehört; ohne innezuhalten tastete ich mich Schritt für Schritt weiter nach oben; wieder und wieder erwartete ich das Ende der Treppe, aber nach jeder Stufe konnte ich eine neue erfühlen, und so fort und so fort.

Dann hielt ich an. Eine geraume Weile dachte ich nach: Von den intensiven Vorstellungen abgelenkt, die ich mir von dem beleuchteten Treppenhaus eingebildet hatte, musste ich mich verzählt haben; sollte ich umkehren und hinuntersteigen, obwohl ich jetzt vielleicht nur eine oder zwei Stufen vor der oberen Plattform entfernt war, und die Tür nach außen öffnen, hinausgehen, mir auf dem Hof einen Stein suchen, mit seiner Hilfe die Tür in geöffnetem Zustand fixieren, damit Licht in das Treppenhaus fallen konnte, und dann erneut hinaufsteigen, nun aber mit voller Sicht auf das Ziel, die obere Plattform und die Klingel, die neben der Tür dort oben angebracht war?

Ich verwarf diese Möglichkeit sofort wieder, denn der Weg nach oben war ja um ein Erhebliches kürzer sein, als der hinunter, den ich ebenso Schritt für Schritt ertasten mußte, wie ich es beim Hinaufsteigen getan hatte. Der Gedanke, diesen ganzen langen Weg noch einmal gehen zu müssen, nun aber hinunter statt hinauf, schien mir um ein Vielfaches unangenehmer, als die Vorstellung, nach einem, oder zwei, höchstens aber wenigen Schritten die Plattform erreichen zu können. Also tastete ich mich weiter hinauf. Jetzt zählte ich wieder meine Schritte. Als ich vorsichtig fünfzehn weitere Stufen hinaufgestiegen war, die allein mich nach meiner Schätzung ungefähr auf die halbe Höhe des ganzen Treppenturmes hätten bringen müssen und die zu den vorher bereits hinaufgestiegenen Stufen hinzugerechnet erheblich mehr als die zwei Etagen überwinden sollten, die jene obere Tür von der unteren trennten, blieb ich erneut stehen. Was jetzt tun? Noch ein paar Stufen hinaufsteigen, denn jede weitere Stufe musste unweigerlich die letzte sein, oder den Rückweg antreten?

Ich entschied mich, weiter hinaufzusteigen. Als ich die einunddreißigste Stufe gezählt hatte, musste ich stehen bleiben, weil mir die Beine zitterten. Mindestens sechzig Stufen hatte ich errechnet. Ein tiefer Schrecken durchfuhr mich, dass das Hinauftasten im Dunklen nie ein Ende haben würde.

Ich beschloss, hinunter zu steigen.

Ich ging langsam hinab und zählte dabei sorgfältig die Stufen. Mehr als neunundzwanzig konnten es nicht sein, das wusste ich genau, da die ganze Treppe ja nur dreißig Stufen aufwies. Als ich aber nach der dreißigsten wieder eine Stufe ertastete und danach wieder eine und noch eine und so fort, bis ich mit dem Zahlen bei hundert angekommen war, wurde ich in Angst und Schrecken versetzt.

Wieder blieb ich stehen. Sollte ich weiter hinuntersteigen? Ja, das war der vernünftigste Weg, denn selbst wenn ich bei früheren Besuchen die Länge der Treppe unterschätzt und die Zahl ihrer Stufen um ein Vielfaches zu gering angesetzt hatte: Jetzt musste ich mich mehr in der Nähe des unteren Endes als des oberen Absatzes befinden, das war gewiss. Also tastete ich mich weiter hinab. Das Zählen hatte ich längst aufgegeben, denn mein banges Herz pochte so laut, dass seine schmerzhaften Schläge im Halse alle Zählversuche übertönten.

Dann rannte ich in panischer Angst nach oben und immer weiter nach oben, wie lange, weiß ich nicht mehr. Es kam mir vor, als seinen Stunden vergangen, und noch immer hatte ich die Plattform nicht gewonnen. Aber nur wenige Augenblicke später stürzte ich verzweifelt nach unten. Längst achtete ich nicht mehr darauf, ob mein nächster Schritt noch das feste Gitter der Treppenstufe betreten würde, nur hinab, hinab oder hinauf; laut tönte das Echo meiner hallenden Füße von der Decke und den Wänden zu mir zurück. Endlos und endlos lief ich hinauf und hinauf und hinab; an ein Ende dieses ungeheuren Laufs wagte ich schon nicht mehr zu denken.

Da wurde es plötzlich hell und Tante Emmys kleine Augen beugten sich über mein Gesicht. Ich lag auf der Plattform oben, ganz nahe der Tür, durch deren Spalt warmes Licht aus der dahinter liegenden Küche fiel.

„Na, mein Junge, warum hast du nicht geklingelt?“ fragte die Tante. Mir aber versagte die Stimme.

Später gab sie mir den Korb mit den Nüssen und führte mich, wie sie es immer getan hatte, durch die Tür auf die gegitterte Plattform, wartete, bis ich mit der schweren Last die Eisenstufen hinuntergegangen war, dreißig Stufen, ich habe sie genau gezählt, und verabschiedete sich stumm von mir, als ich die untere Tür erreicht und „Ich bin unten!“ hinauf gerufen hatte, indem sie in ihre Küche zurücktrat und die obere Tür mit einem leisen Krachen in die Angel schob.

 

 

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