Im Supermarkt

 

Warum ich dies alles erdulden muss, weiß ich nicht. Manchmal in schlaflosen Nächten, wenn ich mich auf meinem harten Lager wälze, denke ich daran, morgen einfach wegzulaufen, doch sofort weiß ich: Ich kann nicht aufhören. Und selbst wenn ich es versuchte, er wäre sofort zur Stelle. Diese Vorstellung allein genügt, um den Gedanken an Flucht aus meinem Bewusstsein zu vertreiben, meilenweit wie der kalte Ostwind, der die spärlichen Schneeflocken aufs unendliche Meer hinaustreibt.

Angefangen hat es, als immer mehr Schwerlastwagen durch unsere kleine Stadt fuhren, um auf einem Gelände im Gewerbegebiet Unmengen von Erdaushub fort zu transportieren. Dann kamen Legionen von Betonwagen, aus denen sich – wie ich mich bei einem Abstecher aus dem Weg von der Arbeit nach Hause überzeugen konnte – Betonströme ergossen, um ein Fundament zu schütten, fast so groß wie ein Fußballfeld. Danach ruhten die Arbeiten für eine Woche. Im Vorüberfahren sah ich eines Tages, dass Betonpfähle von Tiefladern abgeladen, mit Hilfe eines Autokrans aufgerichtet und in dafür vorgesehene Löcher gestellt wurden.

Die Bauaktivitäten erinnerten mich an Zeitungsberichte aus dem Vorjahr, denen ich halb amüsiert, halb gelangweilt entnommen hatte, wie sehr die Frage nach der Errichtung eines weiteren Supermarktes die Gemüter unserer Stadtverordneten während vieler Monate zu erhitzen vermochte. Ich hatte Freunden und Bekannten gegenüber in vielen Diskussionen die Meinung vertreten, ein neuer Markt könne nicht schaden, Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft, wir haben sowieso zu wenig Einkaufsmöglichkeiten, die Preise sind viel zu hoch und das Angebot könnte auch besser sein!

Bald war ein großes Gebäude hochgezogen, von ausgedehnten Parkplätzen umgeben, die auch während der dunklen Jahreszeit von starken Flutlichtlampen ausgeleuchtet werden konnten, welche man an schlanken Betonmasten aufhängte.

Die Eröffnung mit all dem unnützen Rummel wurde für einen Sonnabend im Mai angekündigt: Willkommen im Einkaufsparadies, Bratwurst und – nach Landessitte – Glühwein für alle! Ich ging nicht hin, weil ich nichts von fettiger, knorpeliger Bratwurst halte und noch weniger von Glühwein mitten im Mai.

Am Mittwoch darauf trieb mich die Neugierde aber doch auf den Großparkplatz, ich löste einen der nagelneuen Einkaufswagen von der Kette und betrat den Markt durch eine breite, automatisch sich öffnende Glastür. Eine sanfte Musik empfing mich, alles war in helles Kunstlicht getaucht, der Geruch von frischer Farbe noch nicht verzogen.

Eigentlich unterschied sich der neue Markt nicht von den anderen, in denen ich bisher immer eingekauft hatte. Die gleichen Waren, dieselbe Anordnung der Regale, nur von allem mehr, sehr viel mehr. Genauer: Ich hatte noch nie einen solchen riesigen Supermarkt gesehen. Ich schlenderte durch die breiten Reihen, ein wenig mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, die mich immer beschleicht, wenn ich nicht genau weiß, wo ich welche Produkte finde. Das Angebot gefiel mir, Vertrautes fand sich in fast jedem Regal, günstige Sonderangebote lockten; die Obst- und Gemüseabteilung bot Exotisches in Überfluss, die Weinregale versprachen besondere Genüsse, die Feinkostabteilung überraschte mit seltenen Spezialitäten: Ich füllte langsam meinen Wagen. Am Ende des breiten Mittelganges, der den Markt in eine Lebensmittel- und eine Non-Food-Abteilung trennt, stand neben einer Pyramide aus norwegischen Tiefseekrabben ein junger Mann, der mir freundliche zunickte. Sein dynamisches Lächeln ließ mich vermuten, es sei der Filialleiter, der höchst persönlich seinen neuen Kunden aufmunterte, noch mehr zu kaufen, als sie geplant hatten. Ich überzeugte mich noch davon, dass die Regale im Getränkebereich mit mehr als achtzig Biersorten aufwarteten und strebte dann zum Ausgang. Das Mädchen an der Kasse hatte eine Gesicht von einer Ebenmäßigkeit, wie ich es nur vom Fernsehen her kenne, auch sie lächelte mich freundlich an und warf mir, als sie das Wechselgeld herausgab, einen Blick zu, den ich bis in die Fußspitzen spürte.

Ich beschloss, auch den Wochenendeinkauf hier zu tätigen.

Am Freitag hatte ich mir einen lange Einkaufsliste zusammengestellt, um nichts zu vergessen und weil mich ein ungeplanter Einkauf recht bald erschöpfte. Die Gänge waren mir bereits vertrauter, der Filialleiter grüßte fröhlich und nickte mir freundlich zu; ich schwebte durch die Reihen; bald war der Zettel abgehakt und der Wagen voll.

Ob es die beschwingte Musik war, ob die fröhlichen Mienen der anderen Kunden oder das schöne Gesicht einer anderen Kassiererin, die mich ganz in der gleichen Art anblickte, wie Ihre Kollegin am Tage meines ersten Besuchs, – gar nicht erschöpft, sondern recht heiter verließ ich den Supermarkt, verstaute den Einkauf im Auto und fuhr nach Hause.

In der nächsten Woche erfasste mich bereits am Montag während des Frühstücks eine starke Sehnsucht nach dem Supermarkt; der Gedanke, mit dem Einkaufswagen eine Runde durch die Regale zu fahren, erschien mir während des ganzen Vormittags sehr angenehm; am Nachmittag wuchs dieser Drang immer stärker, und nach Dienstschluss steuerte ich mein Auto nicht nach Hause, sondern auf den großen Parkplatz, nahm mir einen Einkaufswagen und erschien mit einstündiger Verspätung bei meiner Frau, die sich wunderte, da ich sonst Montags nie zum Einkaufen fuhr.

Am Dienstag wurde der Wunsch noch mächtiger, am Mittwoch unerträglich, und ich sah mich gezwungen, jedes Mal nach Dienstschluss sofort zum Supermarkt zu fahren. Diese Besuche vermittelten mir eine angenehme Entspannung, die aber nicht allzu lange anhielt.

Am Freitag ertappte ich mich dabei, dass ich eine zweite Runde durch die Lebensmittelabteilung drehte, und am Schluss musste ich mit einem Scheck bezahlen, das das Haushaltsportemonait mit dem Wirtschaftsgeld für diesen Monat längst leer war.

Am Ende der ersten Woche des neuen Monats – ich hatte schon das gesamte Wirtschaftsgeld ausgegeben – begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Doch der Drang, den Supermarkt zu besuchen, hielt unvermindert an. Längst kreiste ich täglich bis zu dreimal von der Gemüseabteilung bis zu den Getränken, vorbei am Filialleiter, der mich immer an der selben Stelle durch ein freundliches Nicken begrüßte, - die Pyramide aus norwegischen Tiefseekrabben war allerdings durch einen mächtige Palette mit argentinischem Cornedbeef ersetzt worden -, schließlich hin zur Kasse, wo ich in froher Erwartung die Waren auf das Band legte, bis sich die hübsche Kassiererin – es gab davor eine ganze Reihe – zu mir wandte, mit das Wechselgeld herausgab und mich verheißungsvoll anlächelte.

Ich hatte bereits an zwei Tagen meinen Arbeitsplatz unter einem Vorwand eine Dreiviertelstunde vor Dienstschluss verlassen, weil ich die endlosen Stunden bis zum Betreten des Supermarkts nicht mehr aushalten konnte.

Je öfter ich in den darauf folgenden Tagen den Markt betrat, desto angenehmer und begehrenswerter erschienenen mir die Besuche. Ich eilte von Regal zu Regal, verweilte bei den Nudeln, beäugte Pasta und Tortellini, erfreute mich an siebenundzwanzig Essigsorten und überlegte, ob ich statt der Färberdistelöls nicht besser Traubenkernöl für den Salat nehmen sollte. Ich durchstöberte die Gewürzabteilung, bis ich Kardamom und Sternanis gefunden hatte, und stellte fest, dass wenigstens zwanzig verschiedene Senfsorten zu haben waren.

Kaum war ich aber draußen, so senkte sich meine Stimmung, ein Anflug von Depression überkam mich, meine Hände zitterten, leichte Kopfschmerzen meldeten sich und mein Gang wurde unsicher. Zuhause dachte ich nur noch an den Supermarkt, stellte mir das freundliche Gesicht des Filialleiters vor, die hellen Gänge, das pralle Warenangebot und das Lächeln der Kassiererinnen.

In der vierten Woche fuhr ich erst gar nicht mehr ins Büro, sondern gleich um 8 Uhr zum Supermarkt. Hier hielt ich mich den ganzen Vormittag auf, bis es mir endlich unter Aufbietung aller Kräfte am frühen Nachmittag gelang, meinen Dienst aufzunehmen. Am Donnerstag schaffte ich auch das nicht mehr.

Als ich mich am Freitag mit einem vollen Warenkorb dem Kassenbereich näherte – Geld hatte ich keines mehr, und auch die Schecks waren alle –, öffnete sich an der rechten Seite eine Tür, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte. Daraus trat ein großer Mann hervor, stellte sich mir in den Weg und nötigte mich mit einigem Nachdruck, ihm in den Raum dahinter zu folgen. Dort nahm er mir den Einkaufskorb ab und deutete stumm auf eine zweite Tür, durch die ich mich zu entfernen hätte. Mich beschlich einige Sorge, wollte man mich etwa eines Diebstahls bezichtigen? Hatte er Kenntnis davon erhalten, dass ich – bar jedes Zahlungsmittels - mit vollen Wagen auf den Kassenbereich zustrebte? Seine herrischen Gesten duldeten keinen Protest, aus dem haarlosen mächtigen Schädel drang der stechende Blick seiner befehlsgewohnten Augen hervor, der mich tief im Inneren traf. Der Große ließ mir keine Wahl und ich trat durch die Tür, auf die er gewiesen hatte.

Mit einiger Erleichterung erkannte ich, dass ich mit im Eingangsbereich des Supermarkts befand. Der vertraute Drang bestimmte meine Schritte sogleich zu einem Einkaufswagen, und ich betrat den Markt erneut.

Ich benötigte drei Rundgänge, um mein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, dreimal lächelte der Filialleiter mir freundlich zu, aber dann trat der Große in meinen Weg, deutete auf die Tür und zwang mich, ihm den Wagen zu überlassen.

Auch diesmal wagte ich keinen Widerspruch, denn sein Auftreten erdrückte jeden selbständigen Gedanken in mir, ich öffnete die Tür und stand – auf dem Parkplatz. Dieser unerwartete Ort irritierte mich nur Bruchteile von Sekunden, dann stieg eine panische Angst in mir hoch und trieb mich zu meinem Auto. Zum ersten Mal seit Wochen empfand ich Erleichterung, als ich den Supermarkt verließ.

Am nächsten Morgen war es wie zuvor. Schon um zehn vor acht stand ich ungeduldig vor der gläsernen Eingangstür und schob, sobald die lächelnden Kassiererinnen den Weg freigegeben hatten, meinen Einkaufswagen durch die Gänge.

Nach etwa einer Stunde fing mich der Große ab, nahm mir den Wagen weg und bestimmte mit stummem Blick, dass ich von neuem anzufangen hätte. Das wiederholte sich mehrere Male, bis ich Hunger verspürte. Ich wollte den Markt verlassen und versuchte, gegen den Strom der Einkaufenden von der Eingangsseite her an die Kassen zu gelangen, doch der Große wartete bereits vor dem Kassenbereich auf mich und stellte sich mir mit verschränkten Armen in den Weg. Ich floh vor seinen stechenden Augen in den hintersten Winkel des Supermarktes und wusste doch, dass ich mich seinem alles durchdringenden Blick nicht entziehen konnte. Noch zweimal versuchte ich, den Kassenbereich zu gewinnen, alles vergeblich. Auch wenn ich den Großen nirgendwo erspähen konnte, trat er mir sogleich in den Weg, wenn ich nur die erste Bewegung machte, die mir den Weg hinaus eröffnen sollte. So verging der Tag, ich hatte bereits zum wiederholten Male den vollen Korb in die Obhut des Großen geben müssen und fand mich sogleich im Eingangsbereich wieder. Dort aber zwang mich der unwiderstehliche Drang dazu, mit einem anderen Wagen den Rundgang erneut zu beginnen. Der Hunger machte sich immer stärker bemerkbar. Als ich heimlich in geschlossener Faust eine Erdnuss öffnete, die ich im Gemüsebereich an mich genommen hatte, stand der Große sofort vor mir und blickte mich von oben streng an. Er schien gewachsen zu sein, beugte sich etwas herab, sah mich missbilligend an und ging dann fort. Ich wagte den Versuch nicht noch einmal, ja selbst den Gedanken an Essen versuchte ich zu vertreiben, denn immer, wenn mich mein zunehmender Hunger veranlasste, Möglichkeiten zu erwägen, wie ich heimlich etwas Essbares zu mir nehmen könnte, ein paar Erdbeeren vielleicht, eine Möhre, ein Stück Wurst oder Käse, Marzipanriegel, Schokolade oder doch wenigstens ein paar Brotkrümel, tauchte der Große wie aus dem Nichts vor mir auf und erinnerte mich an meine Ohnmacht. So musste ich den ganzen Tag hungern.

Als ich recht erschöpft kurz vor Kassenschluss wieder einmal den Weg durch die Tür in den Raum des Großen gehen musste, wies der auf eine Tür, die ich bisher noch nicht gesehen hatte. Ohne Widerstand trat ich hindurch. Dahinter lag ein kleiner Raum, kärglich mit Tisch, Schemel und Pritsche möbliert. Von der Decke hing eine Blechlampe, die spärliches Licht verströmte. Die Tür schlug hinter mir zu, ich war in dem fensterlosen Raum allein.

Auf dem Tisch fand ich etwas zu Essen, das ich sofort verschlang: schwarz gewordene Bananen, eine Schale angeschimmelte Erdbeeren und ein Becher Joghurt, dessen Haltbarkeitsdatum überschritten war. Dann überkam mich der Drang, den Ort sofort zu verlassen. Ich öffnete die Tür – ihr Anblick versprach nichts Gutes: es war eine schwere Eisentür mit einem Guckloch in der oberen Hälfte – und stand auf dem Parkplatz. Schnell fuhr ich nach Hause, unfähig jemandem von meinem Erlebnis zu berichten.

Auch am nächsten Morgen zwang mich ein unwiderstehliches Gefühl, in aller Frühe zum Supermarkt zu fahren, dort füllte ich Einkaufswagen um Einkaufswagen, genoss die sinnlichangenehme Atmosphäre und das ewige Lächeln des Filialleiters, folgte dem stummen Befehl des Großen, musste meinem Kaufdrang erneut und erneut nachgeben, bekam Hunger, wagte nicht, auch nur ans Essen zu denken, fürchtete mich vor Ihm und wurde am Abend erlöst und belohnt, indem ich in jenem kahlen Zimmer Essbares vorfand, das ich verschlang, obwohl manches davon die Grenzen des Genießbaren bereits bedenklich überschritten hatte. Dann war der Weg frei, die Angst kam und jagte mich zu meinem Auto, das mich nach Hause brachte, wo ich erschöpft in lähmenden Schlaf fiel.

So geht es seit Monaten; längst hat mein Chef mir gekündigt, meine Frau mit den Kindern hat mich verlassen; ich warte auf die Scheidung. Einmal, vor ein paar Wochen, habe ich abends den kahlen Raum, in dem mein Essen auf mich wartet, nicht mehr verlassen. Später hörte ich, wie ein Riegel vorgeschoben wurde. Ich schlief auf der harten Pritsche einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen trieb jener Drang mich wieder auf die endlose Bahn durch die Regale.

Abends wartet mein Essen: schimmliges Brot, zerbeulte Dosen, Quark aus zerbrochenen Schalen. Der Raum ist ungeheizt, kaum wärmt mich die zerrissene Decke. Morgens beginnt mein endloser Gang durch die Reihen, der Filialleiter lächelt mir jeden Tag viele Male freundlich zu. Der Große braucht nicht mehr zu erscheinen: gehorsam vergesse ich meinen Hunger, den Wagen liefere ich in stündlichem Rhythmus ab. Meinen ungastlichen Raum verlasse ich nachts nicht mehr.

Beim dem Versuch, eine Kundin anzusprechen, die mit starr lächelndem Gesicht scheinbar ziellos immer wieder durch die Gänge des Supermarktes strebte, erstarben mir die Worte zwischen den Zähnen, bevor ich sie aussprechen konnte. Flüchtig sah ich, wie sie am Abend in einem Raum neben meiner Zelle verschwand.

Tür an Tür reiht sich im schlecht beleuchteten Gang, der täglich wächst oder sich gar verzweigt. Manchmal weckt mich nachts das Klappern von Schlüsseln; Riegel werden zurückgeschoben, Türen schlagen und Schritte hallen; gestern glaubte ich, aus der Tiefe der Gänge entsetzliche Schreie zu hören.

 

 

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