Weltuntergang
Als Johannes am Nachmittag des 27. September von seiner Gartenarbeit aufsah, erblickte er quer über den Himmel mit ungeheuren Buchstaben geschrieben: „Heute Weltuntergang!“
Auch wiederholtes Wegschauen und wieder Hinsehen änderten nichts an der Schrift. Sie sah aus, als sei sie aus Wolken geformt, auch brachen feine rote Blitze aus dem quirlenden Gewölk hervor. Johannes konnte keinen Donner hören, in der Ferne schwoll aber ein schauriges Getön an, das sich wie eine Vielzahl im gleichen Moment angeschlagener Glocken erhob, dann aber nicht mehr abschwoll, sondern mit gleicher Intensität weiter tönte.
Da fiel Johannes das Wort „Menetekel“ ein, und er wurde an eine ähnliche Schrift erinnert, die er einige Wochen zuvor an der gleichen Stelle des Himmels gesehen hatte. Sie war bei einem schweren Sommergewitter urplötzlich aus pechschwarzem Gewölk herausgezüngelt, aber Johannes konnte damals die seltsamen Buchstaben nicht lesen. Sie gemahnten ihn an alte Inschriften, die er im Museum gesehen hatte, und gleich war ihm das Wort „Menetekel“ ins Bewusstsein gestoßen, aber er hatte sich nicht entsinnen können, warum. Auch hatte er alles schnell wieder vergessen.
Johannes wurde von plötzlichem Grauen erfüllt, ließ seinen Garten im Stich und schweifte ruhelos die Straße entlang. Er wunderte sich, dass niemand zu sehen war; die Häuserzeilen warfen regungslos ihre langen Schatten im Schein der untergehenden Sonne, und kein Vogel flog mehr vom Meer zum Land wie sonst um diese Zeit.
Vom Osten her näherte sich ein unheimliches Krachen, ein Jaulen und Heulen, das immer mehr anschwoll. Johannes glaubte, am Firmament einen Drachen zu erkennen, dann aber quirlten die Erscheinungen wild durcheinander und ließen Pferde, Reiter und jaulende Hund erahnen.
Vor einem dornigen Gebüsch, das blattlos inmitten eines rostigen Eisengeländers stand, verharrte knurrend ein grausiger Hund, der von jener wilden Meute herab gesprungen schien, starrte Johannes mit feurigen Augen an und kläffte mit blecherner Stimme. Dann duckte
er sich und verschwand urplötzlich im Boden. Johannes erkannte beim Näher kommen, dass sich am Fuße des Gitters eine Öffnung aufgetan hatte, aus der milchiges Licht hervorquoll.
Von einem unbegreiflichen Drang bestimmt stieg er die glatten Stufen hinab, die ihn in ein niedriges Gewölbe führten, das keine erkennbaren Lichtquellen aufwies, das aber dennoch genügend Helligkeit absonderte, damit Johannes sich zurechtfinden konnte. Als er die letzten Stufen herabgestiegen war, befand er sich in einem düsteren, turmartigen Gelass, von dem ein trüber Gang in eine unbestimmte Ferne führte. Dort schien es heller zu werden, und dorthin lenkte Johannes seine Schritte, da er den Hund hatte dort hindurch jagen sehen. Der Gang öffnete sich plötzlich in eine weite Halle, deren hohes Deckengewölbe wegen der unter ihr schwebenden Rauchschwaden nicht zu erkennen war. Vor der Fenstergalerie der hinteren Seitenwand hatte sich ein Spalt aufgetan, der in einen bodenlosen Abgrund stürzte und aus dem grelle Flammen aufloderten. Der Hund ließ sich unter Jaulen in die unergründliche Tiefe fallen, aus der faulige Gerüche heraufdrangen.
Johannes stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, dass er keinen Zwang mehr spürte, dem Untier weiter zu folgen und blickte sich neugierig um. Zur Seite hin führten Öffnungen unter Arkaden aus der Halle hinaus, die nicht durch Tore verschlossen waren; dorthin lenkte er seine Schritte und trat in einen neuen Saal, durch dessen Fenster ein seltsamer Schein drang. Johannes forschende Blicke vermochten die Tiefe des Saales und die durch seine weit geöffneten Durchgänge schimmernden Hallen nicht zu ergründen; aus der Ferne vernahm er unheimliche Geräusche, die wellenförmig heran drangen und aus größerer Tiefe zu kommen schienen. Das schien ein Stampfen und Schlagen, bald auch ein Brüllen und Kreischen zu sein
doch alles wob undeutlich durcheinander.
Eine dumpfe Furcht vor einem Erdbeben trieb ihn den selben Weg zurück, den er gekommen war. Nach wenigen Minuten bereits war er die Treppe hinaufgestürzt und stand bebend neben dem rostigen Gitter. Aus dem Dornbusch zuckten violette Flammen, vor denen er zurückwich, aber Johannes fand sich zu seinem nicht geringen Erstaunen in einer nie geschauten Architektur von bizarren Palästen und ausgefallenen Triumphbogen wieder.
Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen; ein Blick an den Himmel zeigte, dass die Buchstaben noch immer ihre ungeheure Botschaft verkündeten; ihr schwefelgelber Schein hob sich stärker denn je vom stumpfen Blau des Himmels ab, der nach Süden zu in beinahe schwarze, unendliche Tiefen zurücktrat.
Überall ragten exzentrische Türme in den nächtlichen Himmel, an dem keine Sterne zu sehen waren, und standen wie drohende Male vor dem ungewissen Schein des Verderbens.
Zur Seite konnte man weit in eine Ebene hinausblicken, und vom Horizont her leuchtete ein flackernder roter Schein herüber, der von brennenden Städten stammen mochte. Große Mauermassen versperrten Johannes die Sicht nach vorn, dahin, woher er gekommen zu sein glaubte, aber Johannes meinte, das dumpfe Krachen einstürzender Häuser und ein vielstimmiges Wehgeschrei zu vernehmen.
Dann hörte er ein fernes Schrillen und Bimmeln, das von mehreren Stellen gleichzeitig auszugehen schien. Johannes lief so schnell er konnte in die Richtung der ihm vertrauten Gebäude; jetzt erst fiel ihm seine Frau ein, die ja noch in der Küche ihres Hauses sein musste, wo er sie vor nicht einmal einer Stunde noch gesehen hatte. War sie nicht in Gefahr, wenn es überall brannte?
Eine entsetzliche Angst überkam ihn, einer der Hunde könnte sich knurrend aus jener Meute lösen, könnte für einen Augenblick still verharren, dann seinen stieren Blick in die Ferne richten, könnte sein Opfer wittern, sich in Bewegung setzen, schleichend zunächst, dann kräftiger mit den Läufen ausholend, könnte seine Frau hetzen, könnte sie niederwerfen, sich mit seinen schaumtriefenden Lefzen über die Schreiende beugen und sie zerfleischen.
Dieser Gedanke lähmte seine Schritte. Unter aller Anspannung seiner Kräfte gelang es Johannes dennoch, sich vorwärts zu schleppen und er brüllte gegen die Finsternis, die nun ganz heraufgezogen war: „O du entsetzlicher Hund, warum bist du gekommen?“
Das Schrillen wurde lauter, dann konnte er eine Sirene hören, dann noch eine, dann immer mehr. Bald klagte ein Chor von Sirenen über der Stadt, von deren Zentrum her ein scharfer Brandgeruch zu Johannes herüber wehte.
„Ja“, sagte sich Johannes, und seine Worte fielen wie Erleichterung von seiner Seele, „das ist das Bimmeln der Feuerwehr. Dann wird alles, alles gut!“