Das verlorene Paradies

 

Sie setzten ihn auf den reservierten Fensterplatz. Sein Vater hob den kleinen Koffer auf die Gepäckablage und seine Mutter drückte ihn an ihre Brust. Dann verließen sie eilig das Abteil, drängten sich an den Reisenden vorbei, die immer noch nach ihren Plätzen suchten, und sprangen hinunter auf den Bahnsteig.

Die Frau vom Platz gegenüber hatte das Fenster hinunter gedrückt und lehnte sich hinaus. Sie fuhr bis Braunschweig mit und versprach seiner Mutter, auf den Jungen Acht zu geben. Aus dem Lautsprecher drohte eine krächzende Stimme: Türen schließen! Zurücktreten bei Abfahrt des Zuges! Ein langgezogener Pfiff ertönte, dann stampfte die Lokomotive und der Zug setzte sich ruckend in Bewegung.

Er lehnte sich aus dem Fenster, haschte noch einmal nach der Hand seiner Mutter, hörte kaum die Ermahnungen, die sie ihm zurief, ließ ihre Hand los, als sie nicht mehr mit dem schneller werdenden Zug mithalten konnte und winkte, während der D-Zug-Wagen in einer langen Rechtskurve den Bahnhof verließ.

Die Frau fragte ihn, wie alt er sei. Sechs, sagte er. Warum er denn ganz alleine eine so lange Reise in die Zone machen wollte. Da erzählte er ihr seine Geschichte.

Er berichtete, wie sie rüberjemacht hatten, zunächst mit der Eisenbahn nach Westberlin, dann mit dem Flieger nach Memmingen zur alten Tante, dann nach Gießen ins Lager, von wo aus ein Omnibus sie nach Solingen gebracht hatte, in die Stadt, wo die Busse an Oberleitungen hingen.

Der Zug bremste und hielt an einer Station. Er sah Steine aus den Mauern ragen, die einst das Dach über dem jetzt offenen Bahnhof getragen hatten und wunderte sich nicht. Häuserreste, Schutt und Ruinen waren ihm vertraut.

Der Lautsprecher tönte: Wuppertal Elberfeld, hier Wuppertal Elberfeld! Der Halt war kurz und die Fahrt ging weiter. Er sah aus dem Abteilfenster und er hörte das rhythmische Schlagen der Räder, das von vorn nach hinten unter ihm hindurch den ganzen Zug entlang ratterte.

Die Frau hatte ihn sorgfältig von oben bis unten gemustert. Seine kurzen blonden Haare, die links gescheitelt waren und rechts durch eine Klammer gehalten wurden, sein trauriges Gesicht mit den blauen Augen, die immer unstet blickten und irgendetwas zu suchen schienen, sein bunt geblümtes Hemd, über dem er eine graue Strickjacke trug, die kurze, beige Stoffhose mit den beiden Taschen und die weißen Kniestrümpfe, die in braunen Sandalen steckten. Eine Regenjacke oder einen Mantel hatte er nicht dabei.

Vor seiner schmächtigen Brust baumelte ein lederner Beutel, darüber hatten sie ihm ein Pappschild an einem Bindfaden um den Hals gehängt, worauf in großen Druckbuchstaben sein Name und die Adresse seiner Großeltern geschrieben standen.

Als der Schaffner kam, nestelte er einen schmalen Karton aus dem Beutel und streckte seine Fahrkarte zu dem Mann hoch. Der drückte seine Zange und gab sie ihm wortlos zurück.

Zwischen Schwerte und Hamm packte er seine Brote aus, die ihm seine Mutter am Morgen mit Fleischwurst belegt hatte, und trank dazu aus einer kleinen Flasche Apfelsaft. Stolz zeigte er der Frau, dass in seiner Butterbrottasche noch zwei Bananen und eine Tafel Mandelsplitter-Schokolade steckten. Sie zerschnitt einen Apfel und gab ihm einen halben ab.

Nachdem er gegessen hatte, ging er zur Toilette und wusch sich die Hände. Er hörte das Rattern der Räder, wenn sie durch Weichen fuhren und achtete auf die Schienenstöße, die immer wieder wie Wellen von vorn allmählich lauter wurden und bis zu seinem Wagen vordrangen, um dann nach hinten leiser zu verschwinden.

Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und sah aus dem Fenster. Die Telegrafenleitungen senkten sich allmählich, dann sprangen sie am Mast hinauf, um wieder abzusinken, aber nur bis zum nächsten Mast. Dieses Spiel ging fort und fort. Er ließ auch die Signaldrähte an sich vorbeigleiten, bis sie an einer Weiche oder in einem Mast verschwanden. Einmal sah er einen Bauern, der langsam hinter der Maschine über den Acker stapfte und sein Pferd an langen Zügeln führte.

Als der Zug Bielefeld verließ, begann er von seinem Garten zu erzählen. In seinem Garten gab es einen Hühnerstall, das Bienenhaus und die Werkstatt, die sogar vom Haus aus mit Strom versorgt wurde. Im Holzschuppen wohnte Katze Mulle, aber das alte Vieh weigerte sich, mit ihm zu spielen.

In seinem Garten lebten nicht nur Mulle und fünfzehn bis zwanzig braune Hühner, sondern noch viele weitere Tiere. Manchmal besuchte ihn eine Igelfamilie, die am Komposthaufen zu Hause war und sich von Schnecken und Engerlingen ernährte. Die schnauften und schnalzten vor Begeisterung, wenn sie eine fette Schnecke erwischt hatten. Auch husteten sie manchmal, wenn sie den Weg vom Komposthaufen bis zum Sitzplatz entlang huschten.

Und er erzählte von den flinken Mäusen, die sich nur selten sehen ließen, und von allerlei Vögeln, die in den Büschen vor der Planke, die seinen Garten von dem Schulhof trennten, ihre Nester bauten und ihn im Frühling schon um halb fünf durch ihr lautes Geschrei weckten. Am Tage aber beherrschten Tausende von Bienen seinen Garten, denn sein Opa war Imker und sein Onkel half ihm dabei. Die Bienen lebten in grünen Kästen neben dem Hühnerstall; ihre Behausungen waren in Dreierreihen übereinander gestapelt und bildeten die Südwand des Bienenhauses, das man vom Norden durchqueren musste, wenn man die Werkstatt betreten wollte.

Innen, hinter den Kästen, gab es keine Bienen. Die flogen nur vorn aus ihren Löchern hinaus und wieder herein. Da durfte man sie nicht aufhalten, denn sie flogen bei fast jedem Wetter nach draußen. Vor ihren Kästen tropfte Wasser aus einem Holzfass auf ein Brettchen, das den Bienen als Tränke diente. Der breite Gartenweg, der das Haus mit dem Komposthaufen verband, musste auf Höhe des Bienenhauses schnell durchquert werden; oft stand er an der Badewanne, die an dem alten Brunnen aufgestellt war, und beobachtete, was die Bienen gerade machten.

Bei schönem Wetter flogen sie zu Tausenden hin und her, und er konnte ihre Flugbahnen verfolgen, wenn sie in dunklen Streifen zu den Linden am Knochenpark flogen oder nach Osten die Rapsfelder hinter Benneckenbeck besuchten. Sein Garten bot das ganze Jahr hindurch viele Blüten, die Opas Bienen eifrig nutzten. Nur selten verirrte sich eine Wespe in seinen Garten, weil die Bienen genau aufpassten und diese Vagabunden schnell vertrieben. Nur barfuß konnte er da nicht laufen, weil viele alte Bienen sich zum Sterben auf den festgetretenen Bördeboden fallen ließen, wenn ihre Flügel zerschlissenen waren, und dort noch ein paar Stunden herumtaumelten, bevor sie verendeten.

Einmal ‒ so erzählte er ‒ kam ein Mann zu seinem Opa, der sollte alle Haustiere zählen. Nachdem er Trenklers Schwein und die Hühner seiner Oma in eine Liste eingetragen hatte, stand er ratlos vor dem Bienenhaus. Da er von seinem Opa wusste, dass in einem Bienenstock so um die 20.000 Bienen lebten, fragte er sich, wie lange das Zählen dauern sollte. Der Mann trug aber nur 18 Völker in seine Liste ein.

Wenn geschleudert wurde, mussten große Eimer mit Honig an einer Sammelstelle abgeliefert werden. Dafür bekam sein Opa bares Geld und mehrere Säcke mit Zucker, der für die Fütterung im Winter gebraucht wurde. Der Rest des Honigs durfte privat verkauft werden. In guten Jahren verkaufte sein Opa mehr als 300 Gläser Honig. 

Er schwieg, holte eine der Bananen aus seiner Butterbrottasche, die ihm schon zum Kindergarten begleitet hatte, schälte sie vorsichtig und aß Bissen für Bissen. Die Frau nahm ihm die leere Schale weg und stopfte sie in den Aschenbecher unter dem Abteilfenster. Dann wische sie ihm die Finger mit einem Tusch ab.

Er entspannte sich und erzählte weiter. In seinem Garten standen viele Obstbäume; neben knackigen Süßkirschen wurden im Juli auch dunkle Schattenmorellen reif, deren säuerlicher Saft ihm am besten spät abends vor dem Schlafengehen mundete, und an der Mauer zu Thoms Grundstück ragten die Zweige einer Glaskirsche herüber, von denen er sich im späten Frühling die Backen vollstopfte und die Kerne auf den Weg spuckte.

Die Pflaumen begannen mit den Mirabellen, die alle in großen Weck-Gläsern eingemacht wurden, und endeten mit blauen Pflaumen, deren Zweige sich über dem Hühnerstall wölbten und aus denen seine Oma Pflaumenkuchen buk. Bei denen musste er aufpassen, dass er keine Maden mitaß, denn über die Hälfte war von den ekligen Würmern befallen. Besonders schmeckten ihm die Renekloden, die im Dorf von allen „Reine Clauden“ genannt wurden.

Und er berichteten weiter: Das Apfel-Jahr begann mit dem Weißen Klarapfel, der auf den Bäumen wuchs, die am Weg zum Bienenhaus standen. Davon aß er drei oder vier zum Auftakt der Apfelsaison und überließ den Rest seiner Oma, die Apfelmus daraus kochte. Den gab es zu Kartoffelpuffern oder zu Vanillepudding. Dann allerdings streute er sich groben Zucker darüber.

Zu den frühen Äpfeln gehörte auch der Gravensteiner, den er von seinem Kletterbaum pflückte und direkt im Baum verspeiste. Außerdem ernteten sie Gelben Boskoop, Cox Orange, Französische Goldrenetten, Goldparmänen, Ingrid Marie und eine lagerfähige Rubinette. An Birnen gab es Alexander Lukas, Klapps Liebling und Gellerts Butterbirne.

Wer im Herbst durch seinen Garten streifte, der hob automatisch alle Äpfel oder Birnen auf, die von ihren Bäumen gefallen waren. Die Verschimmelten wurden auf den Komposthaufen geworfen; alle anderen aber, auch wenn sie wurmstichig waren oder kleinere Faulstellen aufwiesen, legten sie in den großen, flachen Korb, der auf ihrer Terrasse stand. Von da nahm sich seine Oma das Fallobst mit in ihre Küche und verarbeitete es weiter. Jeden Abend gab es ein paar Birnen und Äpfel, die sie sorgfältig zerschnitten und von ihrem Gehäuse, von Wurmgängen und faulen Stellen befreit hatte. Die leckeren Spalten lagen auf einem gläsernen Teller und sie wurden zum Abendbrot immer schnell weggespachtelt.

Wenn größere Mengen anfielen, verarbeitete sie alles zu Apfelmus, in das manchmal auch ein paar Birnen wanderten, und das abgekühlt in einem großen Kochtopf auf einem Brett im Abgang zum Keller wartete. Wer Lust hatte, holte sich da einen großen Nachschlag. Dort stand auch die Puddingschüssel, aus der jeder sich bedienen konnte.

Im Oktober wurden die besten lagerfähigen Äpfel und Birnen vorsichtig von ihren Bäumen gepflückt, in einen Korb gelegt und dann in den Keller unter dem alten Hausflur getragen, wo sie auf Holzregalen lagerten.

Äpfel legte seine Oma mit dem Stiel nach unten und kontrollierte sie alle 2-3 Wochen, entfernte angefaulte Exemplare und nahm mit, was sie für ihren sagenhaften Apfelkuchen brauchte. Der wurde im Gasofen gebacken und während der letzten halben Stunde mit den Pergamentpapieren abgedeckt, in denen vorher die Butterstücke eingewickelt waren. Die kratzte seine Oma immer sorgfältig mit dem Messer ab, glätte und stapelte sie dann in ihrem Küchenschrank. Wenn der Kuchen abkühlte, streute sie mit Zimt vermischten Zucker darüber.

Zwischen Hannover und Braunschweig aß er seine Schokolade auf und erzählte der Frau von den Erlebnissen im Barackenlager auf dem Rangierbahnhof, wo Tag und Nacht endlose Güterzüge ein und aus fuhren und wo hunderte der grauen Wagons verschoben wurden. Hier schliefen sie in einem ganz kleinen Zimmer, in dem man sich am Tage nicht aufhalten konnte. Er spielte daher mit den Lokomotiven, die zwischen den Baracken hin und her dampften und deren Schienenwege er und seine Freunde überqueren mussten. Das waren kurze Rangierlokomotiven ohne Tender, die schwarzen Qualm und fette Dampfwolken ausstießen.

Sie hatten bald herausgefunden, dass es böse Drachen waren, die aus den nahen Nebelbergen in das Land am breiten Fluss eindrangen, um eine der Prinzessinnen zu rauben, für deren Sicherheit sie verantwortlich waren. Alle waren bereit, tapfer gegen sie zu kämpfen und ihr Leben für jede der Prinzessinnen zu riskieren. Sie beratschlagten also, was zu tun sei und stellten fest, dass sie mit ihren Speeren, die sie sich aus Haselnusstrieben geschnitzt hatten, wenig gegen die schwarzen Ungeheuer ausrichten konnten.

Deshalb wollten sie die Scheusale so erschrecken, dass sie in Panik gerieten und sich vor Angst in den breiten Fluss stürzten, wo ihr inneres Feuer erlöschen musste und sie ertrinken sollten. Wieder und wieder stürmten die Drachen heran und bliesen in kurzen Stößen mächtige Rauchwolken in den trüben Himmel. Er hatte sein Pferd gesattelt und griff furchtlos an.

Er dufte nicht rückwärts reiten, wenn er einem dieser dampfenden Ungetüme ausweichen wollte, denn dann kreuzte er einen anderen Schienenstrang, auf dem unversehens ein weiteres Scheusal heranschnaubte, und er konnte von Glück sagen, wenn ihn ein schriller Pfiff warnte. Allerdings gab es Schreckhafte unter ihnen, meistens waren es Mädchen, die keine Prinzessin sein wollten, denen eine solche gut gemeinte Warnung überhaupt nichts nutzte, denn sie erschraken bei jedem Pfiff und liefen blind vor Angst nun erst recht nach vorn und beinahe in ihr Verderben.

Er aber sprang geschickt von Gleis zu Gleis, er gewann schon nach wenigen Tagen eine prächtige Übersicht und wusste, wann einer der Drachen von Westen nahte und wann einer von Osten. Da er bald abschätzen konnte, wie lange es dauern würde, bis das Untier oder der von ihm geschobene Waggon die Stelle erreicht hatte, an der er über das Gleis reiten wollte, zögerte er seinen Sprung immer mehr hinaus und überquerte die Schienen erst kurz bevor die Bestien vorbeiratterten. Natürlich sicherten er und seine Freunde sich vor solchen riskanten Manövern ab, indem sie genau beobachteten, was sich auf den anderen Gleisen abspielte, die vor oder hinter ihrem Standort verliefen. Auch konnten sie sich auf ihre edlen Pferde verlassen, die jede Gefahr schon von weitem witterten.

Als er nach einigen Tagen den Bogen raus hatte und kaum ein Lokomotivführer es noch für nötig hielt, ihn durch ein kurzes Reißen am Seil seiner Pfeife zu warnen, verlor er den Spaß an der Sache und begann sich zu langweilen. Allerdings widerstand er der Versuchung, eigenhändig die eine oder andere Weiche umzulegen, wie er es bei den Männern gesehen hatte, die an Ketten befestigte Bremsklötze vor die schweren Räder warfen. Er versagte sich damals schweren Herzens die Erfahrung, die Bestien nach seinen Vorstellungen umzuleiten und tröstete sich mit der Hoffnung, dass die meisten der Prinzessinnen das Land am breiten Fluss bald verlassen würden.

 

Er schwieg und trank etwas von seinem Apfelsaft; die Frau merkte, dass ihn das Erzählen angestrengt hatte, dann aß er seine zweite Banane und schaute anschließend wieder aus dem Fenster.

In Braunschweig stieg die Frau aus. Sie wünschte ihm eine gute Reise und schenkte ihm einen Apfel. Im Abteil blieben ein Mann und eine Frau zurück, die nichts sagten.

Als der Zug in Helmstedt mit quietschenden Bremsen anhielt, stiegen uniformierte Männer zu und kontrollierten die Reisenden. Einer fragte ihn, wo denn seine Mutter sei, worauf er stolz erklärte, ganz allein zu fahren. Er holte aus seinem Brustbeutel den Interzonenpass und die Aufenthaltsgenehmigung hervor, und der Beamte überprüfte die Angaben, bevor er alles zurückgab. Das werden die sich drüben in der Ostzone auch alles genau ansehen, sagte er, und wünschte ihm eine gute Reise zu Oma und Opa.

Er wusste von seiner Mutter: Wer nach West-Berlin oder Bahnhöfen des sowjetischen Besatzungsgebietes reisen will, braucht einen gültigen Interzonenpass, in dem der Zielbahnhof der Reise und beide Zonenübergangsbahnhöfe (West und Ost) vermerkt sein mussten. Für die Einreise in das sowjetische Besatzungsgebiet brauchst du außerdem eine Aufenthaltsgenehmigung, die von der für den Aufenthaltsort in dem sowjetischen Besatzungsgebiet zuständigen Kreispolizeibehörde ausgestellt wird.

Dafür hatte sein Opa gesorgt, er führte alles in seiner Brusttasche mit und verspürte daher keine Furcht vor dem Grenzübertritt. Der Zug hielt in Marienborn und eine Lautsprecherstimme sagte etwas, das er nicht verstand. Als der Mann und die Frau mit ihrem Gepäck ausstiegen, kletterte er auf den Sitz, nahm seinen Koffer von der Ablage herunter, hängte sich seine Butterbrottasche um und folgte ihnen auf den Bahnsteig. Eine dicke, uniformierte Frau fragte ihn, wo denn seine Mutti sei. Da erzählte er ihr, dass er ganz alleine nach Magdeburg fahren sollte.

Sie nahm ihn an der Hand und ging mit ihm in eine der Baracken. Hinter einem Schalter saß eine zweite Frau, der gab er seine Papiere.

Na, Kleener, fährste janz alleene nach deine Omi? – Sie studierte die Papiere genau. – Aus Bördeleben kommste? Biste mit deine Eltern rüberjemacht, un nu fährste wieder zurück nach Hause zu die Jroßeltern? Und een Roller hat dein Vati im Jepäckwåren aufjejeben. Is der mit Ballonreifen? Er nickte.

Dann wollte sie seinen Koffer sehen, öffnete ihn und zählte alles, was darin war: vier Unterhosen und vier Unterhemden, ein Nachthemd, drei Paar Strümpfe, eine Lederhose mit Hosenträgern, ein Paar Schuhe, zwei bunte Hemden und ein Pullover. Dann war auch noch eine hölzerne Marionette darin: Is en Ami, hat mir meine Oma aus Amerika jeschickt, sagte er. Und ein rotes Aufziehauto, das hieß „Made in Western Germany“, is en Jeburtståchsjeschenk von mein Vati.

Na, ich komme von Diesdorf. Is ja nich weit weg! Sie schloss den Koffer und stellte ihn neben den Jungen auf den Boden. Dann strich sie ihm mit ihrer Hand über den Kopf. Holꞌn se dich in Måchdeborch von der Båhn ab? – So, hier haste die Ausweise wieder. Stecke se man jut weg.

Sie drehte sich um und sagte zu ihrer Kollegin: Såch doch mal Williꞌn Bescheid, vielleicht lässt er den Kåhlen uf der Lock mitfåhrn.

Die Uniformierte nahm ihn an der Hand, und sie gingen hinaus. Die letzten Kilometer durfte er im frischen Fahrtwind auf der Lokomotive mitfahren.

Es war eine der alten Vorkriegs-Lokomotiven, wohl zwanzig Jahre älter als er, von der Firma Schwartzkopff, die einst zum besonderen Kader der Reichsbahn gehörte. Diese Loks bekamen eine Stromlinienverkleidung ‒ zunächst vollständig, dann mit ausgespartem Triebwerksbereich ‒ und waren für den hochwertigen Fernzugdienst vorgesehen. Später hieß es, dass sie überarbeitet und auch ihrer Hülle beraubt worden seien, wo dann gut der querliegende Vorwärmer über der Rauchkammertüre zu sehen war. Manch einen Eisenbahnfan faszinierte dieser Umbau, manch andere hielten ihn für einen ästhetischen Fehlgriff.

Seinen Koffer stellten sie auf der Lokführerseite an den Führerstand, wo die Messgeräte zu sehen waren. Dann erklärte der Lockführer ihm die Hebel, mit denen er hantierte. Er beobachtete an der Lokführerseite das Kesselmanometer und das Hilfsabsperrventil und beugte sich aus dem Seitenfenster hinaus, sah nach den Signalen und achtete darauf, dass ihm seine Lockführermütze nicht vom Fahrtwind fortgerissen wurde. Wenn es erforderlich war, ließ er die Pfeife schrillen.

Er sah dem Heizer bei seiner mühseligen Arbeit zu und durfte, wenn die Feuertür sich rasselnd öffnete, an die Schaufel fassen, die der kräftige Mann leicht handhabte, und ein paar Kohlenbrocken eigenhändig in die Glut werfen. Dabei schlug ihm die Lohe ins Gesicht, dass ihm die Stirn glühte und er seine Augen schließen musste.

Im Kampf gegen die Hitze versöhnte er sich mit den Drachen, da er feststellte, dass sie von Prinzessinnen überhaupt nichts wussten.

Es dauerte nicht lange und der Zug fuhr in den Magdeburger Hauptbahnhof ein. Der Heizer nahm ihn mit seinen starken Armen hoch und setzte ihn auf dem Bahnsteig ab. Der Lockführer stellte seinen kleinen Koffer daneben. Dann brachte ihm ein Bahnbeamter seinen Roller mit den Ballonreifen. Die drei Männer wünschten ihm eine gute Weiterreise und stiegen wieder in ihren Zug.

Er stand da und suchte nach seinem Opa. Viele Menschen stiegen aus den Wagen, einige wurden von Verwandten oder Freunde erwartet, man begrüßte sich, einige umarmten einander. Dann kündigte der Lautsprecher die Abfahrt des Zuges an. Er sah die beiden Männer von der Lokomotive herunter winken. Als die schwere Maschine schnaufend und stoßend anrollte stieß sie einen schrillen Pfiff aus.

Der Bahnsteig leerte sich, aber kein Opa war zu sehen. Bald stand er allein neben den Gleisen. Eine uniformierte Frau fragte ihn, ob denn niemand da sei, ihn abzuholen. Er schüttelte den Kopf und schluchzte. Sie sagte ihm, er solle doch die Treppe hinunter in die Unterführung gehen. Sie ständen bestimmt an der Sperre.

Er nahm seinen Koffer und seinen Roller, lief zur Treppe, stieg hinab und durchquerte die gekachelten, dunklen Gewölbe. Als er zur Sperre kam, sah er dort seinen Opa stehen. Er lief zu ihm und ließ sich umarmen.