Der kleine Häwelmann. Ein Kindermärchen

 

Geschrieben wurde Der kleine Häwelmann 1849; gegen Ende dieses Jahres erschien er in Karl Biernatzkis Volksbuch, umrankt von einem „biedermeierlichen“ Kranz einzelner Szenenillustrationen; eine Handschrift ist nicht erhalten. In den Fassungen, die Storm in die Ausgaben Sommer-Geschichten und Lieder (1851), die Sammlung In der Sommer-Mondnacht (1860) und in die Ausgabe seiner Schriften (1861) aufnahm, wurden eine Reihe kleinerer, aber nicht unwesentlicher Änderungen vorgenommen. Das in den späteren Ausgaben gestrichene Motto »Weil's doch jetzt Zeit ist, Märchen zu erzählen« spielt auf diese auch ihn selbst unmittelbar betreffenden Zeitumstände an. Zugleich eröffnet es eine zusätzliche, aus dem erzählten Geschehen selbst nicht ableitbare politische Deutungsperspektive des Textes: als einer – auf die Repression der Schleswig-holsteinischen Demokraten durch die dänische Monarchie beziehbaren – Allegorie von Selbstüberhebung und Scheitern (vgl. Lohmeier, LL 4, 579). Dank zahlreicher Einzelausgaben als Kinder-, zumeist als Bilderbuch in Deutschland und in einer Fülle von Übersetzungen wurde Der kleine Häwelmann einer der weltweit wirkungsmächtigsten Texte Storms überhaupt.

Schon durch die Überschrift gibt sich der Text als ein Kindermärchen im strikten Sinne zu erkennen. »Häwelmann« ist die in Schleswig-Holstein zur Zeit Storms gebräuchliche Bezeichnung für ein »Hätschelkind«. Es ist also kein individueller Name, sondern meint das (hier wie in Hans Bär wieder männliche) Kleinkind schlechthin. Wie in Hans Bär, so geht es auch hier um die Allmachtsphantasien eines frühkindlichen Narzissmus – und, anders als dort, um ihr Scheitern und um ihre Bearbeitung im Modus des Geschichtenerzählens selbst. Wie in der realen Entstehungsgeschichte, so ist das Märchen auch in der textinternen Kommunikation als mündliche Erzählung eines Vaters an das eigene Kind markiert. Im Gegensatz aber zum programmatisch monologischen Hans Bär wird dabei die monologische Erzählinstanz produktiv distanzschaffend aufgespalten.

Zwölf Jahre nach Hans Bär hat Storm eine neue Schreibposition erreicht. Nun erzählt er seine Geschichte als Ehemann und Vater eines kleinen Jungen, dessen erste Sozialisation er aufmerksam beobachtet und dem er den Namen »Hans« gegeben hat. Es sei, schreibt er in einem Brief vom 14.10.1850, »das Romantische, was ich ihm mit seinem Namen habe anlaufen lassen«; im selben Brief nennt er seinen Sohn »Dieser kleine Hävelmann« (an Laura Setzer, Storm-Brinkmann, 24). Das Märchen schildere, so hat Gerhard Kaiser pointiert bemerkt, »Urerlebnisse eines Sohnes, der nun selbst zu einem Sohn spricht« (Kaiser 1979, 428). Als analytischer Beobachter ebenjenes Endes der frühkindlichen Einheitserfahrung, um das sein Frühwerk mit Texten wie Hans Bär und den Buchan-Gedichten kreiste, gewinnt Storm nun erzählend Distanz zu den dort überwältigenden traumatischen Erfahrungen und reflektiert über die therapeutischen Möglichkeiten des Erzählens selbst.

Das Häwelmann-Märchen erscheint retrospektiv wie eine Entfaltung von Arthur Drummonds viktorianischem Gemälde, auf dem zwei Londoner Polizisten den Straßenverkehr aufhalten, damit eine Kinderfrau mit einem kleinen Kind die Straße überqueren kann: »His Majesty the Baby«. Freud zitiert diesen Titel 1914 in seiner Studie Zur Einführung des Narzißmus als Illustration des »primären Narzißmus« (Freud 1997,57).

 


Arthur Drummond (1871-1951): “His Majesty The Baby”

Storms idealtypischer Häwelmann erlebt den Schlaf der bis dahin unbedingt verfügbaren Mutter als erste narzisstische Kränkung, aus der ihm die Vaterinstanz des guten Mondes heraushelfen soll (der im Deutschen, anders als in den meisten anderen Sprachen, grammatisch männlich ist). Doch die Triangulierung misslingt. Die durch den väterlichen Schutz ermöglichte Passage führt durch das enge Schlüsselloch hinaus aus der Mutter-Kind-Dyade in eine Differenzierung von Selbst und Objekt: in die Welt. Die Überkompensation der ursprünglichen Verlusterfahrung aber erzeugt ein narzisstisches Größen-Selbst, das sich in zunehmend hybriden Allmachtsgefühlen bestätigen will: alle Menschen der Stadt, alle Tiere des Waldes, schließlich alle Sterne des Himmels sollen ihn sehen, wie er in seinem Rollbett in komisch-majestätischer Grandiosität vorüberfährt. Jeder neue Bestätigungsversuch aber führt nur in weitere Kränkungen: Die schlafende Stadt ist menschenleer, im Wald ruhen die Tiere, die Sterne fliehen vor Häwelmanns Wildheit aus dem Himmel –, bis das letzte Aufbegehren ihn schließlich an den Rand eines Selbstverlustes führt, der als gewaltsamer Tod erzählt wird: Die aufgehende Sonne wirft den Empor-Kömmling ins Meer, und – wie die Erzählstimme sarkastisch kommentiert – »[d]a konnte er schwimmen lernen« (LL 4,24). In der kosmischen Steigerung seines Größenverlangens hat das Kind auch die einzig hilfreiche Objektbeziehung zum Vater zerstört, erfahrt sich als isoliert und ohnmächtig, bis am Ende die nun ihrerseits ins Kosmische gesteigerte Mutterinstanz die traumatische Ausgangserfahrung wiederholt. Und diesmal wird die Zurückweisung, die dort nur schmerzhaft war, tödlich. (Die Konstellation von gütig-starkem Vater und tödlicher Gewalt der Mutter ist dieselbe wie in Hans Bär.) Mehr noch: Mit Häwelmanns Verlassenheit im Himmel überschreitet Storms Text für einen Augenblick die Grenzen des »Kindermärchens« und zeigt ein Bild metaphysischer Obdachlosigkeit, das an die nihilistische Märchenparodie über das Kind im leeren Himmel in Büchners Woyzeck ebenso erinnert wie an Nietzsches Parabel Der tolle Mensch (1882).

So ist es Häwelmanns Unfähigkeit, seinen Narzissmus zu überwinden, die ihn zugrunde gehen und seine Welt zerbrechen lässt – allerdings nur beinahe. Denn in einer romantisch-ironischen mise-en-abyme öffnet sich die Erzählung in den letzten Zeilen zur Erzählsituation. »Und dann?«, fragt eine bislang unbekannte zweite Stimme gleichsam in den Text hinein, und der nun erst als Figur in einem Dialog erkennbare Erzähler antwortet: »Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!«. Die mit diesen Sätzen angedeutete Erzählsituation zwischen Eltern und Kind führt die Rettung herbei, die in der erzählten Welt unmöglich schien. Die Erzählung rettet das Kind, indem sie es als gerettetes und zur Rettung anderer fähiges, gereiftes – und damit dem erzählten Häwelmann schon überlegenes – Kind voraussetzt. (Die selbstironische Reflexion, das Spiel mit logischen Unstimmigkeiten der erzählten Welt, der humoristische Tonfall und das Hervortreten des Erzählers in expliziten Leseranreden verdanken sich Storms früher Lektüre der Kunstmärchen Hans Christian Andersens, der lebenslang einer seiner Lieblingsautoren blieb; dazu Lehmann 2007, 129; Detering 2011). Mit seiner metafiktionalen Schlusswendung zielt das Märchen direkt auf eine Stärkung des realistischen Selbstkonzepts. Im gemeinsamen aktiven Eingreifen werden Selbst- und Objektbeziehung integriert, sind gleichstark und gleichberechtigt.

Die Erzählung unterstellt und vollzieht damit selbst im Erzählakt das gelungene Ergebnis des Entwicklungsprozesses, an dem der kleine Häwelmann scheitert. Erst dieses Umkippen von der erzählten Psychologie in die Psychologie des Erzählens hebt Storms Kindermärchen über eine vergnüglich kindgemäße Darstellung des primären Narzissmus hinaus und macht es zu einer Modellerzählung auch über das Verhältnis von Kinderpsychologie und Erzählverfahren.

Literatur

Börner, Mareike: Mädchenknospe – Spiegelkindkind. Die Kindfrau im Werk Theodor Storms. Würzburg 2009.

Detering, Heinrich: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das Ende der Romantik. Heide 2011.

Dimitropoulou, Dimitra: Bürgerliches Erziehungsverhalten und Persönlichkeitsformung im Spätwerk Theodor Storms. Berlin 2004.

Eversberg, Gerd (Hg.): Storms erste große Liebe. Theodor Storm und Bertha von Buchan in Gedichten und Dokumenten. Heide 1995.

Fasold, Regina: Narzißmus und Formdrang in Theodor Storms Novelle »Auf dem Staatshof« (1859). In: David A. Jackson/Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm - Narrative Strategies and Patriarchy/ Theodor Storm - Erzählstrategien und Patriarchat. Lewiston, N. Y. 1999,23-47.

Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. In: Ders.: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe, Bd. III. Frankfurt a. M. 1997,37-68.

Goldberg, Arnold: Selbstpsychologie und narzißtische Persönlichkeitsstörungen. In: Otto Kernberg (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart/New York 1996, 255-264.

Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. v. Heinz Rölleke, Bd. 1-3. Stuttgart 1980.

Hansen, Hans-Sievert: Narzißmus in Storms Märchen. In: STSG 26(1977), 37-56.

Kaiser, Gerhard: »Aquis submersus« - versunkene Kindheit. Ein literaturpsychologischer Versuch über Theodor Storm. In: Euphorion 73 (1979), 410-434.

Kernberg, Otto (Hg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart/New York 1996.

Kohut, Heinz: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a. M. 1973.

Lehmann, Wilhelm: Erinnerung und Landschaft. Zu Theodor Storms hundertfünfzigstem Geburtstag. In: Ders.: Essays II. Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 7. Hg. v. Wolfgang Menzel. Stuttgart 2007,127-131.

Lohmeier, Dieter: Kommentar zu »Hans Bär«. In: LL 4, 575-578.

Lohmeier, Dieter: Kommentar zu »Der kleine Häwelmann«. In: LL 4, 579-581.

Roebling, Irmgard: Prinzip Heimat - eine regressive Utopie? Zur Interpretation von Theodor Storms »Regentrude«. In: STSG 34 (1985), 55-66.

Rölleke, Heinz: »Hans Bär«. Theodor Storms früheste Märchendichtung intertextuell. In: STSG 51 (2002), 69-72.

Schärer, Hans-Rudolf und Peter: »Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt«: Literaturwissenschaft und Narzißmustheorie. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXV/1 (1993), 25-86.

Thompson, Stith (Hg.): Motif-Index of Folk-Literature. Bd. 1. Kopenhagen 1955.

Trende, Frank: »Dem Zauber des Märchens gibt sich jeder willig hin«. In: Ders. (Hg.): Schleswig-Holsteinisches Märchenbuch aus der Müllenhoffschen Sammlung. Heide 1997, 163-189.

 

Heinrich Detering. In: Christian Demand/ Philipp Theisohn (Hrsg.): Storm Handbuch. Leben – Werk – Wirkungen. Stuttgart 2017, S. 94-96.