Mit der Haubitze nach Russland
Im Wohnzimmer gab es zwei Bilder, die einander gegenüber hingen. Das eine zeigte eine milde italienische Landschaft, das andere war rund und ließ eine schroffe Alpenformation erkennen. Da stürzt ein Bergbach durch eine Schlucht und im Hintergrund droht ein finsteres Felsengebirge, über dem sich dunkelblaue Wolken gesammelt hat. Das Bild war auf einen hölzernen Fassdeckel gemalt, den man mit Sperrholz verstärkt hatte.
Mein Opa wusste, dass dieses Bild von seinem Großonkel stammte, der ein Malergeschäft betrieben hatte und der eigentlich Kunstmaler werden wollte. Aber für ein Kunststudium hatte das Geld seiner Eltern nicht gereicht und so musste er ein Handwerk erlernen. Bekannt wurde er durch seine Malerei, mit der er Hausflure und Gastwirtschaften schmückte; dabei brachte er die Farben nicht auf den frischen, noch feuchten Kalkputz auf, sondern bemalte das schon trockene Mauerwerk. Im vorderen Hausflur konnte ich Reste einer grünen Bemalung erkennen, die wohl noch von diesem Onkel stammte. Er soll auch eine Reihe von Bilden in Öl gemalt haben; in der Familie hat sich nur die runde Alpenlandschaft auf dem Fassdeckel erhalten.
Der Onkel hatte einen Freund, dem erlaubten die Eltern, Kunstmaler zu werden. Als der einmal von einer Italienreise nach Deutschland zurückkehrte, war er Gast im Elternhause seines Malerfreundes. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als die Großeltern meines Großvaters noch lebten. Als Gastgeschenk hat der Kunstmaler damals ein Bild dagelassen, das er von Italien mitgebracht hatte. Auf dem Gemälde wandert ein Angler zu einem stillen See, hinter dem sich ein mildgeformter Berg erhebt. Zwei Pinien, die mächtige Schirme über ihren Stämmen entfaltet haben, rahmen die Szene ein. Immer, wenn ich davor stand, wünschte ich mir, ich könnte in das Bild hineingehen und den Angler zu seinem See begleiten.
Mein Onkel Franz konnte Eier legen, aber nur, wenn er gut gelaunt war. Dann fragte er: „Soll der Onkel Franz ein Ei legen?“
Wenn ich das bejahte, setzte er sich in einen der Sessel in der Wohnstube und begann zu gackern, dann drückte er ganz fürchterlich und tat, als ob er sich anstrengen müsse. Nach einer Weile bekam er einen hochroten Kopf, kakelte ganz aufgeregt, bis er schließlich aufstand. Dann lag das weiße Ei auf dem Sesselkissen. Natürlich wusste ich, dass Eier von den Hühnern im Garten gelegt wurden; ich habe ja jeden Tag mit meiner Oma die warmen Eier aus den Nestern geholt. Doch ganz sicher war ich nicht, ob der Onkel vielleicht nicht doch ein Ei gelegt hatte. Untersuchen durfte ich das Ei nicht, denn er brach den Spaß immer gleich ab und brachte sein Produkt in die Küche. Nur wenn Tante Lotte zu Besuch war, legte Onkel Franz keine Eier.
Einmal zeigte er mir, wie man einen Genickschuss richtig durführte. Er ballte seine rechte Faust, streckte dabei den Zeigefinger nach vorn und drückte damit meinen Kopf nach unten, wie es Frisör Naumann machte, wenn er mir den Halsansatz am Hinterkopf scheren wollte. Dann stach er mit dem steifen Zeigefinger von oben schräg nach unten. „Du musst auflegen und feste drücken und dann abdrücken“, sagte er.
Manchmal legte Onkel Franz auch ein Ei, wenn Gäste zu Besuch kamen. Gäste hatten wir häufig, und zwar immer dieselben. Das waren Rolf Müller, der Schreiner, Muddel Rüsch, dem das Gartenlokal in Klein-Bördeleben gehörte, Hans Töpfer mit dem kleinen Lebensmittelladen nebenan und – Zippi. Alle kamen mit ihren Frauen, nur Zippi nicht, denn der war nicht verheiratet. Dann sagte Muddel: „Franz, leg mal ’nen Ei!“
Und Franz fing an zu gackern. Wenn alle lachten, sagte Rolf: „Der Franz kann Eier legen, weil er zwei Arschkerben hat.“ Dann lachten alle noch lauter. Das hörte Onkel Franz aber nicht gerne. Mit seinem Hintern hatte es nämlich folgende Bewandtnis, wie es meine Mutter mir einmal erzählte hatte.
Im Krieg erwischte ihn ein Granatsplitter am Hinterteil. Irgendwie haben sie ihn dann im Feldlazarett zusammengeflickt, es war aber eine böse Narbe geblieben, die er natürlich nie jemandem zeigte. Aber beim Duschen ließ sich das Kriegsmal nicht verbergen. Deshalb kannten alle Sportfreunde seinen seltsamen Allerwertesten.
Wenn alle so richtig auf Touren sind, und dazu trägt der selbst gebrannte Kartoffelschnaps von Onkel Franz sein Teil bei, – denn Onkel Franz ist Chemiker und versteht das Destillieren, – dann erzählen sie vom Krieg. Sie sitzen im kleinen Wohnzimmer, die Schnapsgläser vor sich, die Frauen trinken selbst gemachten Wein, mit Honig gesüßt, Marke 47er Hummelbrumm. Der wächst im Garten an der Mauer und über dem Hühnerstall.
Im Zimmer ist es schummrig, weil nur zwei Birnen eingeschraubt sind (Stromsparen!, sagte meine Oma ständig) und weil alles vom Tabaksqualm verräuchert ist. Den Tabak hat mein Vater im Garten angebaut, auf der Wäscheleine getrocknet und ihn dann mit Honig fermentiert, denn Honig ist für alles gut, sagte mein Opa, und ich kriegte einen fetten Klacks in die Milch gerührt, wenn ich erkältet war.
Wenn alle besoffen sind, muss Onkel Franz von seinem Ritterkreuz erzählen. „Erzähl man, Franz, wiede das jekricht has!“
Und Franz erzählt, wie er sich mit der 30. Infanteriedivision bei Utrecht in Holland auf die Operation Seelöwe vorbereitete und England erobern wollte. Und alle stimmten das Lied „Denn wir fahren gegen Engelland“ an:
Heute wollen wir ein Liedlein singen,
Trinken wollen wir den kühlen Wein,
Und die Gläser sollen dazu klingen,
Denn es muss, es muss geschieden sein.
Gib mir deine Hand,
Deine weiße Hand,
Leb' wohl, mein Schatz, leb' wohl,
Denn wir fahren gegen Engelland.
Unsre Flagge und die wehet auf dem Maste,
Sie verkündet unsres Reiches Macht,
Denn wir wollen es nicht länger leiden,
Dass der Englischmann darüber lacht.
Gib mir deine Hand,
Deine weiße Hand,
Leb' wohl, mein Schatz, leb' wohl,
Denn wir fahren gegen Engelland.
Kasperl flüsterte mir ins Ohr: „Wir müssen eine Kanone von Holland nach Russland bringen.“ Ich spanne zwei Pferde vor einen Rollwagen, lade eine Kiste auf und befestige ein Stück Rohr mit Gummiringen daran. Das ist unsere 15-cm-schwere Feldhaubitze. Gewicht in Fahrstellung 6304 kg und in Feuerstellung 5512 kg. Mit dem Zug geht es zunächst nach Insterburg in Ostpreußen. Abladen, fertigmachen, Pferde vorspannen, los!
Franz erzählte weiter: „Mitte Juni 1941 überschritten wir die Grenze nach Litauen, marschierten durch Lettland und erreichten bei Ludsen, das liegt ca. 180 km von Riga entfernt, die russische Grenze. Stalin begrüßte uns von einem Foto herab in der CCCP, wie auf dem Schild stand, in den ‚Sojus Sowjetzkich Sozialistitscheskich Republiken‘. Wir sind sofort weiter nach Nowortscheff marschiert, wo wir zum ersten Mal auf sowjetische Soldaten trafen. Da hab ich ꞌnen EK 1 gekriegt.“
„Und das Ritterkreuz?“, fragte Muddel.
„Das war später. Erstmal ging es zurück zum Fronteinsatz. Meiner Einheit stand mittlerweile bei Kalinin an der Wolga, ganz in der Nähe von Moskau. Die Männer hatten ihre Stellung nördlich der Bahnlinie Staraja-Russa – Waldaj gegraben. Als wir unter Granatbeschuss gerieten, musste ich mit ein paar Mann als Beobachter direkt an die Front. Die Russen sickerten trotz großer Verluste in kleinen Trupps durch unsere Stellungen, weil die in großen Abständen lagen, und sammelten sich hinter unseren Linien. So konnten sie uns da einkesseln. Hat ihnen aber nichts genützt, denn wir konnten im Februar 43 ausbrechen.“
„Und das Ritterkreuz?“, fragte Muddel wieder.
Zippi mischt sich ein: „Warte doch må ab, Muddel. Erst må soll er von dem „Kartoffel-Iwan“ erzählen!“
„Kenn wer doch schon“, warf Franz ein.
Aber Zippi konterte: „Hör ich aber immer wieder jerne.“ Und die anderen brummten Zustimung.
Franz ließ sich nicht länger bitten und begann mit seinem sorgfältig eingeübten Vortrag, von dem ich später ein Manuskript fand:
Die Russen haben wir eigentlich nur als den Gegner kennen gelernt, auf den wir schießen mussten, weil sie auf uns schossen. Die Zivilbevölkerung, meistens waren das die Bauern in unserer Umgebung, war geflohen und versuchte, aus der Hauptkampfzone wegzukommen und sich ins rückwärtige Gebiet in Sicherheit zu bringen. Im Demjansker Kessel waren aber einige Dörfer in die Frontlinie geraten und ein paar Bauern schafften es nicht, sich rechtzeitig abzusetzen. Ein älterer bärtiger Bauer aus dem Dorf Samoschka, zwei Kilometer südlich der Bahnstrecke Staraja Russa-Waldaj, war mit seiner Frau, die an einer Gehbehinderung litt, in seinem Haus geblieben.
Die Alte erinnerte mich an meine Mutter, die ja auch immer humpelt; ihren Mann aber nannten wir „Iwan“, wenn er beim Holzsammeln bis nahe an unseren Stützpunkt herankam. Wir wurden dann immer unruhig, weil wir höllisch auf russische Spähtrupps achten mussten, die im Winter auf Skiern die zugefrorenen Sümpfe überquerten und plötzlich vor unserem Stützpunkt erschienen. Einmal konnten sie unseren vorgeschobenen Beobachtungsposten überrumpelt und kampflos gefangen nehmen.
Die beiden Alten haben im Winter 1941/1942 jedenfalls ebenso an Hunger gelitten wie wir. Eines Tages erzählte ein Kamerad aus Oberschlesien, der ein wenig Polnisch sprach und etwas Russisch verstand, der Iwan wüsste von einem Versteck ganz in der Nähe von unserem Stützpunkt, wo er im Sommer drei Säcke Kartoffeln vergraben hatte. Die wollte er nun suchen, verlangte aber einen Sack für sich.
Der Alte kam tatsächlich zu unserem Stützpunkt und schaute von unten zu uns empor. Dann ging er langsam die schräg ansteigende Seite hinauf, wo der Schnee schon weg geschmolzen war. Mit leicht zusammengekniffenen Augen suchte er den Hügel ab, starrte eine Weile auf den aufgeweichten Lehm und schien sich daran zu erinnern, wo er die Säcke vergraben hatte. Dann lief er den Hügel hinauf und stach mit seinem Stock mehrmals tief in den Boden. An einem Ende war eine lange eiserne Spitze, an der Iwan schnüffelte, wenn er das Gerät vorsichtig wieder aus dem Boden herausgezogen hatte. Dann murmelte er enttäuscht: ‚Nitschto.‘
Einige von uns wurden langsam ungeduldig und meinten, wir seien einem Betrüger aufgesessen; ich aber hatte den Vorgang genau beobachtet und sah, dass es dem alten Mann sehr ernst war. Er versuchte, mit der Spitze seines Stocks die Kartoffeln zu treffen, die er mindestens anderthalb Meter im Boden vergraben haben musste. Langsam arbeitet er sich weiter nach oben, drückte seinen Stock noch einmal tief in den aufgeweichten Boden, zog ihn vorsichtig wieder heraus und schnüffelte noch einmal an der Spitze. Da sprang er vor Freude in die Luft und rief triumphierend: „Kartoschki! Kartoschki!“
Ein paar Männer holten Spaten herbei und gruben an der von Iwan bezeichneten Stelle ein Loch von ca. einem Quadratmeter. In ca. 1,20m Tiefe stießen sie tatsächlich auf drei Säcke, die mit Kartoffeln gefüllt waren. Wir teilten wie abgemacht und Iwan schleppte seinen Sack glücklich nach Hause. Wir aber konnten endlich wieder einmal unseren Hunger stillen.
„Und das Ritterkreuz?“, fragte Muddel zum dritten Mal.
„Das war Ende '44 beim Rückzug in Kurland. Da sind wir eingekesselt worden, habe die russischen Panzern aber noch kräftige Verluste zugefügt. Mitte November habe wir mehr als zwanzig mit unserer Haubitze gestoppt.“
Soweit die Erzählung meines Onkels.
Für das Stück, das ich später mit Kasperl inszenierte, übernahm ich die Regie und verwendete Briefe, die mein Onkel noch in Russland an seine Eltern und an meine Mutter geschrieben hatte. Ich fand sie in der großen Kiste mit Familiendokumenten, darunter war auch das Manuskript für den Vortrag, aus dem ich oben zitiert habe. Vielleicht plante mein Onkel damals, diese Erinnerungen einmal zu veröffentlichen, was aber in der DDR in den 1950er Jahren völlig ausgeschlossen war.
Als ich ihn nach der Wende einmal in Bördeleben besuchte, erklärte er mir, dass er mit all dem, was damals passiert war, nichts mehr zu tun haben wolle.
Ich gebe hier die Ausschnitte wieder, die ich Kasperl vor jeder Szene laut unseren Zuschauern von der Bühne herab vorlesen ließ:
Mein liebes Schwesterlein,
Wir marschierten in unerträglicher Hitze zwei Tage in das riesige Sowjetreich ein und erreichten nach etwa 50 Kilometern Opotschka. Auf einem großen Hof in der Nähe des Dorfes fanden wir für unsere Pferde Wasser und flüchteten uns erschöpft in den Schatten. Ich blickte auf das Dorf, das in der flimmernden Hitze friedlich dalag und zog ein Buch aus meinem Tornister, das ich mir in einer Utrechter Buchhandlung gekauft hatte. Es stammt von Iwan Turgenjew und enthält Gedichte in Prosa. Das erste Gedicht heißt „Das Dorf“ und beginnt so:
„Der letzte Tag im Juli; auf tausend Werst im Umkreise rings Russland – der heimatliche Boden. Der ganze Himmel strahlt in einfarbigem Blau; droben ein einzelnes Wölkchen – halb schwimmend, halb zerfließend. Windesstille, brütende Hitze ... die Luft – würzig wie frisch gemolkene Milch! Die Lerchen trillern; die Turteltauben gurren; lautlos gleiten die Schwalben umher; die Pferde schnauben und kauen; die Hunde bellen nicht, stehen da und wedeln friedfertig mit dem Schwanze. Und nach Rauch riecht es, und nach Gras – und auch nach Teer ein wenig – und ein wenig nach Leder. – Der Hanf auf den Feldern ist schon hoch aufgeschossen und strömt seinen schweren, aber süßen Duft aus.“
Plötzlich heulte und krachte es entsetzlich und vorbei war es mit der sommerlichen Idylle: Erde spritze hoch, Qualm stieg auf und bald standen die Häuser lichterloh in Flammen. Unsere Infanterie wurde von einer russischen Batterie beschossen. Menschen konnte ich nicht sehen, die müssen schon alle vorher geflohen sein. Als wir an den Dorfrand nachgerückt waren und das Feuer erwiderten, brannte das ganze Dorf. Wir beklagten keine Verluste, aber die Russen hatten ihr eigenes Dorf vernichtet. Ein Stück von dem Russland war untergegangen, das Turgenjew so treffend beschrieben hatte.
Wir blieben zwei Tage bei Opotschka liegen und marschierten dann rund 60 km weiter bis nach Nowortscheff, wo wir in schwere Kämpfe verwickelt wurden.
Ich schoss, während Kasperl vorlas, dreimal mit der Haubitze und zeigte unseren Zuschauern – die fünf Wehrmachtssoldaten aus Elastolin hatte ich aus ihrer Schachtel geholt und in der ersten Reihe aufgestellt –, wie das russische Dorf lichterloh brannte. Dazu zündete ich fünf oder sechs von den Streichhölzern an, die ich nach und nach aus den Schachteln meiner Großmutter entwendet hatte und eigentlich für den Hohlschlüssel brauchte, mit dem ich hin und wieder laute Explosionen erzeugen musste.
Meine liebe Alice,
Wie liegen jetzt vor einem kleinen Dorf namens Wyssotschek mit niedrigen Holzhäusern, die von Feldern umgeben sind. Die leer geräumten Felder müssen den dichten Wald fernhalten, der sich rings um das Dorf erstreckt. Jetzt im Winter sehen sie wie die zuckerbestäubten Hexenhäuschen aus, die zu Hause der Bäcker Rogge im Schaufenster seines Ladens aufgestellt hat. Der Schnee auf den Feldern kommt mir vor wie die weiße Tischdecke, auf der unsere Mutter zu Weihnachten immer die Backwaren und unser Spielzeug gestellt hat: Alles wird von kleinen Holzzäunen umgrenzt und so vor den dunklen gefahren beschützt, die aus dem nahen Wald drohen.
Gestern haben die Russen mein idyllisches Dorf zerstört, als sie es mit Granaten beschossen. Der weiße Zuckerschnee ist jetzt überall mit Unflat befleckt. Ich musste mit zwei Kameraden mit einem Funkgerät hinaus und einen Beobachtungsposten ausbauen, den wir mit kleinen Baumstämmen abdeckten. Wir konnten unsere Beobachtungen zwischen zwei Stützpunkten unweit der Frontlinie nach hinten melden. Wir können mit unseren Kräften keine durchgehende Frontlinie aufbauen und müssen die einzelnen Posten in Abständen von 250 Metern anlegen. Die Männer sagen: „Loch an Loch und es hält doch!“
Immer wieder flogen russischen Kleinflugzeuge über uns hinweg und warfen Bomben auf die vermuteten Geschützstellungen ab; sie trafen aber nicht.
Ich ließ die Wehrmachtssoldaten die Haubitze in Stellung bringen. Mi musste im hohen Bogen über die Bühne fliegen und Nüsse über uns abwerfen, die russische Bomben darstellten und auf die ich so fest trat, dass es krachte. Dann zerdepperte ich mit gezielten Schüssen die russische Stellung.
Mein liebes Schwesterlein,
In den letzten Tagen haben die sowjetischen Infanterie-Einheiten unsere Stellungen angegriffen. Aber wir haben sie immer wieder zurückgeschlagen, denn sie waren nach dem Marsch durch hohen Schnee so erschöpft, dass sie kaum noch kämpfen konnten. Du kennst das ja, wie es ist, wenn wir als Kinder durch den hohen Schnee gelaufen sind. Hier wird erzählt, dass sie trotz ihrer vergeblichen Vorstöße dann von ihren Kommissaren mit unglaublich brutaler Sturheit immer wieder aufs Neue in den Kampf geschickt wurden. Dennoch konnten wir einige von ihnen gefangen nehmen.
Ich befahl meinen Indianern, die russischen Soldaten darzustellen und zerknüllte ein paar Zeitungsseiten und warf sie ihnen vor die Beine, um ihren Vormarsch zu erschweren. Zum Schluss lagen sie vor der Bühne, zu schwach um noch irgendetwas zu tun. Ich sperrte fünf von ihnen in einen kleinen Drahtkäfig, der zwischen den leeren Einmachgläsern auf dem Boden herumstand.
Liebe Eltern, liebes Schwesterchen!
Gestern hat mir unser Kommandeur vor versammelter Mannschaft das Ritterkreuz umgehängt, das mir der Führer für besondere kampfentscheidende Tapferkeitstaten verliehen hat.
Wie es dazu kam, muss ich euch erzählen. Nach wochenlangen, für den Gegner äußerst verlustreichen Angriffen wurde es hier plötzlich ruhig. Doch dann meldeten unsere nach links und rechts sichernden Posten nachts merkwürdige Geräusche. Zu sehen war nichts, auch Leuchtraketen brachten keine Aufklärung. Später stellte sich heraus, dass hier Nacht für Nacht kleine Trupps unterwegs waren, die den Auftrag hatten, zwischen den deutschen Stützpunkten hindurch lautlos ins Hinterland zu gelangen, sich tagsüber in den Wäldern zu verstecken und zu größeren Einheiten zusammenzufinden. Diese Einheiten sollten dann – unterstützt von Verbänden, die mit Schlitten und Skiern über den zugefrorenen Ilmensee und die Seligerseen fast widerstandslos in den Rücken der deutschen Front vorgestoßen waren – den ganzen Frontabschnitt von seiner Versorgung abschneiden.
Als die Division von den Sowjets weiter in Richtung Westen zurückgedrängt wurde, versah ich auf einer Anhöhe bei der 3. Batterie meinen Dienst. Die Batterie stand in vorderster Feuerstellung, denn bei dem ständig anwachsenden Feinddruck musste die Hauptkampflinie zwangsläufig zurückgenommen werden.
Nachdem verschiedene Feindangriffe erfolgreich abgewehrt werden konnte, erfolgte in den Morgenstunden des 19. Septembers ein weiterer Angriff mit Panzern und begleitender Infanterie links der Batteriestellung. Wegen der Flankenbedrohung erhielt ich den Befehl, zwei in Bereitstellung stehende Sturmgeschütze heranzuführen und links von der Batterie einzusetzen.
Auf meinem Weg dorthin erkannte ich, dass die Russen sich anschickten, die Anhöhe einzukesseln. Ich erkannte die drohende Gefahr und dirigierte die zwei Sturmgeschütze zur Abwehr dieses Angriffs nach rechts um in der Hoffnung, dass die 3. Batterie mit dem Angriff von links allein fertig würde. Glücklicherweise konnten durch diese gefechtsentscheidende Handlung die Feindangriffe links und rechts der 3. Batterie mit Erfolg abgewehrt werden.
Jetzt könnte ihr stolz auf euren Franz sein!
Euer Sohn und Bruder Franz
Von oben senkte sich das Ritterkreuz, das ich aus Silberpapier gebastelt hatte, langsam auf die Feldhaubitze nieder. Alle Zuschauer bildeten einen Halbkreis vor der Bühne und applaudierten minutenlang.
Mein liebes Schwesterlein,
ganz schnell einen gefechtsmäßigen Bericht von mir. Es geht mir noch gut und ich blicke voller Zuversicht in die Zukunft. Wir stehen im Abwehr und Angriffskampf und werden die Kiste schon schaukeln.
Viel Freude brachte mir gestern Abend Dein lieber Brief. Dass Du so viel Freude über das Ritterkreuz hast, freut mich ja am meisten. Gelacht habe ich ja über die 100 RM die ich nun mehr an Sold bekommen soll. Davon habe ich bisher noch nichts gehört und ich muss gestehen, dass ich mich dafür auch noch nicht interessiert habe. Ich bin nun mal kein Materialist.
Auch von einem Sonderurlaub hat man hier noch nichts gehört. Das ist nun wieder eine Enttäuschung für mich. Um mich mach Dir keine Sorgen, ich komme schon durch, ich habe einen treuen Schutzengel, der mich bewacht und heil nach Hause zurückführt. Die Krise unserer Kriegsführung ist nun bald überwunden. Den Tiefpunkt haben wir sicher überschritten. Bis Ende Dezember müssen wir die drohenden Durchbrüche im Westen und Osten verhindern. Dann geht es wieder aufwärts. Es muss!
Lass es Dir gut gehen und grüße unsere Eltern.
Dein Bruder Franz
P.S. Wir singen manchmal das Englandlied und die letzte Strophe lautet:
Kommt die Kunde, dass ich bin gefallen,
Dass ich schlafe in der Meeresflut,
Weine nicht um mich, mein Schatz,
und denke Für das Vaterland da floss sein Blut.
Gib mir deine Hand,
Deine weiße Hand,
Leb' wohl, mein Schatz, leb' wohl,
Denn wir fahren gegen Engelland.
Ich dirigierte und alle sangen die letzte Strophe; aber es war eigentlich nicht nötig, denn mein Onkel Franz war nicht in Russland gefallen, sondern er hatte Glück im Unglück, wie er manchmal sagte. Ein (diesmal größerer) Granatsplitter zerfurchte seinen Hintern und das, sagte er, habe sein Leben gerettet. Denn er wurde er kurz vor der Kapitulation in ein deutsches Lazarett bei Magdeburg gebracht und konnte aus seinem Krankenbett in aller Ruhe verfolgen, wie die Großdeutsche Wehrmacht den Krieg verlor. Er hörte davon, wie sich die Heeresgruppe Nord aus Riga nach Kurland zurückzog und wie die Rote Armee zur Mündung der Memel vorstieß. Dann meldete der Großdeutsche Rundfunk, dass die Offensive der Roten Armee in Ostpreußen nach anfänglichen Erfolgen vorerst zum Erliegen gekommen war.
Und so sagten mir später die Geschichtsbücher, wie es weiter ging: Die Panzerspitzen des Generalobersten Iwan D. Tschernjachowski schoben sich Richtung Königsberg bis Gumbinnen, Goldap und Nemmersdorf vor, konnten jedoch von der 4. Armee zeitweilig zurückgedrängt werden. Mein Onkel Franz sah aber nicht die Bilder von durch sowjetische Truppen verübten Gräueltaten, die aus propagandistischen Gründen von der Deutschen Wochenschau der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Damit sollte der Kampfgeist und Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung gestärkt werden.
Mitte Januar 1945 wusste mein Onkel, dass die Rote Armee aus dem Weichselbrückenkopf bei Baranów mit der breit angelegten Weichsel-Oder-Operation und weiter südlicher mit der Westkarpatischen Operation begonnen hatte. Die Rote Armee stieß von Warschau aus nach Norden vor und schnitt damit Ostpreußen vom Rest des Reiches ab. Man munkelte, dass die deutsche Bevölkerung floh und verbreitete Gerüchte über Plünderungen, Morde, Brandschatzungen und Vergewaltigungen durch die Rotarmisten.
Ende März hatte sich der Zustand meines Onkels so weit gebessert, dass er für mehrere Stunden täglich sein Bett verlassen konnte. Die deutsche 4. Armee, die Ostpreußen verteidigte, wurde in der Schlacht um Ostpreußen vernichtend geschlagen. Die Rote Armee brachte rund 2,5 Millionen Soldaten mit über 6000 Panzern sowie 7500 Flugzeugen für den Angriff auf Berlin in Stellung. Ihnen gegenüber standen rund eine Million deutsche Soldaten mit knapp 800 Panzern.
Was in der Magdeburger Börde los war, weiß ich von meiner Mutter. Sie hat aufgeschrieben, was sie im Frühjahr 1945 erlebte; ihre mehrseitige maschinenschriftlicher Bericht, aus dem ich zitiere, befindet sich heute in meinem Familienarchiv.
Schon am frühen Morgen des 11. April erzählte man sich, dass die Amerikaner bereits in Bördeleben wären. Das wurde natürlich von den Nazis strikt verneint.
Ich musste von meiner Arbeitsstelle beim Reichwirtschaftsamt zu Fuß nach Hause laufen, weil keine Straßenbahnen mehr fuhren. Am Nachmittag heulten die Sirenen ununterbrochen, was Feindalarm bedeutete. Als ich um die Ecke zum Breiten Weg biegen wollten, hörte ich ein nahes Zischen. Eine Granate, durchfuhr es mich und ich hockte mich auf die Straße an einem Trümmerhaufen, mit Blick zu den Kaufhäuser Lemke und Klavehn. Meine Augen blieben gebannt an einem Fenster haften. Die Granate fuhr hinein und wirbelte eine riesige Staubwolke auf. Der Staubnebel verhüllte dann Haus, Straße und Kirchturm. Ich sprang auf und eilte weiter den Breiten Weg runter. Erst zum Abend war es möglich, den Heimweg bis nach Bördeleben zu wagen. An der Endstation der Straßenbahn am Kroatenweg in Sudenburg waren Volkssturmmänner dabei die Panzersperre zu schließen. Straßenbahnwagen wurden aus den Gleisen gehoben und vor die Sperre gestellt. Mich wollte man nicht mehr durchlassen, aber ich konnte mich über einige Grundstücke durch Georgshöhe schlagen und erreichte die Chaussee wieder im Westen. Kurze Zeit danach setzte Artilleriefeuer aus Richtung Bördeleben ein. Ich lief die Halberstedter Chaussee bis Klein Bördeleben entlang, als ich über mit ein lautes Gezwitscher hörte. Da sah ich, dass auf dem Hohendodelebener Weg Fahrzeuge Richtung Sudenburg fuhren, die aus ihren Geschützen in Richtung Bukau feuerten. Ich lief und lief um mein Leben. Wie ich unser Haus erreichte, weiß ich nicht mehr.
Soweit der Bericht meiner Mutter. Nachzutragen habe ich noch, was weiter geschah und was später in den Geschichtsbüchern zu lesen war:
Die in Bördeleben eingedrungenen Panzerverbände der 2. US-Panzer-Division bezogen am Abend des 11. April 1945 an der Stadtgrenze Stellung und eröffneten das Feuer auf die Straßensperren in Richtung Sudenburg. Bis zum 19. April dauerte der blutige Kampf um Magdeburg, dann hatten die Amerikaner gesiegt.
Am 5. Mai erschienen die Spitzen der 69. Armee der sowjetischen Streitkräfte in Magdeburg Ost und die hier her geflüchteten Reste der deutschen Armee Wenck gingen in russische Kriegsgefangenschaft, da sie nicht über die Elbe konnten, um sich dort lieber in amerikanische Gefangenschaft zu begeben. Deutsche Soldaten hatten die Brücken Magdeburgs komplett gesprengt.
Am 1. Juni wurden die letzten Einheiten des 117. US-Infanterie-Regiment in Magdeburg durch englisch-schottische Truppen abgelöst. Gemäß der Festlegungen und Einigungen aller alliierten Mächte, rückten am 1. Juli 1945 sowjetische Truppen in Magdeburg West ein und die US-Truppen bzw. britischen Truppen verließen die Stadt.