Bürgers Übersetzungen und Erweiterungen

 

1. Bürger hat die Anzahl der Geschichten vermehrt und schon dadurch dem Buch mehr Gewicht gegeben. Die neuen Geschichten waren ihm entweder ge­läufig oder er hat Bekanntes leicht verändert. Zu den 17 Geschichten des Vade Mecum kamen 8 eigene Geschichten hinzu, die sich vortrefflich in den Rahmen der vorhandenen Jagd- und Kriegsgeschichten einfügten und mit diesen zu einer Einheit verschmolzen. Die neuen Geschichten betreffen:

 

1. Ausgabe 1786

1. den Entenfang mit Speck

S. 26-27

2. den Arm, der nicht aufhören wollte zu hauen

S. 51

3. den Ritt auf der Kanonenkugel

S. 52-53

4. den Sprung mit dem Pferd durch die Kutsche

S. 54

5. die Rettung aus dem Morast am eigenen Zopf

S. 54

6. den Bärenfang an der Deichsel

S. 59

Zu der zweiten Hälfte, den Seeabenteuern, hat Bürger gleich am Anfang den hübschen Scherz von dem englischen Hofkutscher, der mit seiner Peitsche die in sich verschlungenen Initialen des engl. Königs knallen konnte, eingestreut, und zum Schluß

7. die Geschichte von den 5 sehr brauchbaren Subjekten erzählt

S. 81-86 (5. Seeabenteuer), und

8. das fünfte Seeabenteuer erfunden

S. 91-103.

 

 

2. Bürger hat die einzelnen, von Raspe knapp und trocken erzählten Geschichten zum sehr großen Teil bedeutend erweitert und Übergänge geschaffen; die Geschichten sind dadurch interessanter geworden und bekamen mehr Leben. Der breitere Fluß der Erzählungen macht auch den Erzähler wirklich glaubhaft.

3. Bürger hat einen ganz besonderen Grundton in die Geschichten hineingebracht. Durch eine blumenreiche und lebendige Sprache, reich an volkstüm­lichen Redensarten und Wendungen: Weg und Steg, Aut oder Naut, das Gras wachsen hören, Hohl mich der Teufel usw. – wirken die Geschichten volkstümlich, ganz ungekünstelt und ungedrechselt und wecken das Interesse des Lesers. Durch mitunter nur winzige Zutaten werden die Lügen dem Menschlichen wieder angenähert. Zum Beispiel: die englische Erzählung, wie Münchhausen seinen Reisemantel einem Bettler schenkt, ist an sich gar nicht lustig und wirkt eben wie eine besonders gute Tat. Der arme Mann dauert uns, und wir loben die Großherzigkeit des Barons. Bei Bürger heißt es: Der arme Teufel dauerte mich von ganzer Seele. Ob mir nun gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über ihn her. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Himmel, die dieses Liebeswerk ganz ausnehmend herausstrich, und mir zurief: „Hohl mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergessen bleiben!“ Mit dem zweimaligen Zitieren des Teufels, besonders in der Einfügung des kräftigen, herzlichrauhen Fluches der Stimme vom Himmel holt Bürger die ausnehmend gute Tat wieder auf die Erde zurück.

4. Durch Einstreuen von witzigen und satirischen Anspielungen, die dem Leser damals leicht verständlich waren, hat Bürger die Geschichten stärker in der Zeit verankert und den Leser zum Schmunzeln gebracht. Auch sozialkritische Anmerkungen fehlen nicht. Als Beispiele seien erwähnt:

die Chausseefürsorge der hochpreislichen, wohlfürsorgenden Landes-Regierungen (S. 17),

die ,höflichen‘ deutschen Postmeister (S. 18),

die französischen Schöngeister und Haarkräuseler (S. 24),

die bärbeißigen Gelehrten und Philosophen (S. 36).

Den quantitativen Anteil Bürgers lassen die folgenden Zahlen erkennen. Bürgers erste Ausgabe zählt 2302 Zeilen. Davon gehören Bürger 706 Zeilen allein an; das sind fast 31 Prozent.

Wackermann 1869, S,41ff.

 

Vorwort und Inhalt des 6. Bandes von Raspes Munchausen, den Bürger für die Übersetzung seiner 2. Auflage verwendet hat:

 

Bürgers zweite Ausgabe. Während Dieterich die erste Ausgabe von 1786 gut verkaufte und zweimal nachdrucken mußte, erschienen in England in kurzen Abständen neue Ausgaben. Es wurde schon berichtet, daß Bürgers Freund Georg Friedrich Lichtenberg sich um die Besorgung einer neuen, der dritten, englischen Ausgabe bemüht hatte (S. 40). Inzwischen war in England schon die 'Fifth Edition' mit der Vorrede vom 22. Nov. 1786 erschienen. Von dieser Aus­gabe bekam Bürger ein Expl. und benutzte es für seine neue (zweite) Ausgabe. Dabei hielt er sein 2 Jahre zuvor in dem Vorwort zur deutschen Übersetzung gegebenes Versprechen: „ ... dürfte bei einer künftigen Neuauflage leicht noch um ein beträchtliches vermehrt werden“. Schon bei der 1. Ausgabe 1786 hatte er die 17 von Raspe erzählten Geschichten des Vade Mecum um 8 eigene Erzählungen vermehrt; jetzt kamen wieder 7 neue Geschichten hinzu.

 

 

Seitenzählung der 2. Ausgabe von 1788

1.       Der alte Schnapsgeneral

18 unten-21 Mitte

2.       Die Hühnerjagd mit dem Ladestock

25,6-26,2

3.       Die Rettung mit dem gefrorenen Harnstrahl

32,1-33,19

4.—6. Die Taten des Hühnerhundes Piel

36,3-40 oben

7.       Kriegs- und Liebestaten seines Hengstes

46 oben-49 oben

 

Alles ist wieder vortrefflich, ganz im Ton der alten Geschichten, erzählt. Das zeigt doch sehr deutlich, daß Bürgers Interesse an diesem Stoff noch recht wach war; es zeigt weiter, daß Bürger noch genügend neuen Stoff in sich trug oder doch greifbar hatte, der sich in das Buch einfügen konnte. Dabei soll auch die leicht erotische Note in einigen der neuen Zutaten nicht übersehen werden. Die zweifache Erweiterung hatte den Umfang des ersten, von Raspe übernommenen Teiles: des Freyherrn eigene Erzählung – fast verdoppelt; dieser Teil blieb auch in sich geschlossen bestehen. Darauf folgen „Des Freyherrn von Münchhausen See-Abentheuer“, beginnend mit der Reise nach Ceylon (1. See-Abentheuer), die mit Anspielungen auf den Kurfürsten von Hessen und andere gewürzt ist; darauf folgen unverändert die bisherigen See-Abentheuer 2 bis 7.

 

Raspes fünfte Ausgabe enthielt 10 neue Kapitel (Chapter X—XX). Von diesen hatte Bürger 2 Kapitel nicht übernommen. Das 12. Kapitel hatte nur für die Londoner lokales Interesse, und das 16. Kapitel zielte auf den Patriotismus der Engländer. Vier Kapitel, das 10., 11., 15. und 19. hat Bürger dem bisherigen Text geschlossen und als „Fortgesetzte Erzählung des Freyherrn“ angehängt; darauf folgen Raspes Kapitel 13, 17 und 18 als 8. bis 10. See-Abentheuer; letzteres mit dem Untertitel: Eine zweyte Reise nach dem Monde.

Zum Schluß bringt Bürger Raspes Kapitel XX als selbständigen Abschnitt: Reise durch die Welt nebst ändern merkwürdigen Abentheuern. Auch dieser letzte Abschnitt läßt Bürgers Hand bzw. Feder erkennen. Die Geschichte von der Schleuder hat er von Raspe übernommen, jedoch ausgezeichnet ausgearbeitet, so daß sie (so Hans v. Müller) „fast wie etwas ganz Neues wirkt“. In ähnlicher Weise hat er das Leben der Fische mit grotesker Anreicherung dargestellt (123, 8-124, 11).

 

Einige satirische Anspielungen gehen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf die Mitwirkung von Lichtenberg zurück. Dies stellte schon Ellissen 1849 fest. Er schrieb dazu: „Daß zu einigen Zusätzen in Bürgers Übersetzung auch Lich­tenberg das Seine beigetragen oder doch Bürger an die Hand gegeben, erkennen wir gleichfalls als sehr wahrscheinlich und haben es jedesmal, wo be­sondere Gründe dafür zu sprechen schienen, angemerkt" (Nr. 1.34, S. XIX). Die Anmerkungen stehen dort als Fußnoten mit z. T. längeren Erläuterungen zum Aufhellen der Zusammenhänge.

S. 10: die Geschichte mit der abnehmbaren silbernen Hirnschale. Dazu führt Ellissen aus, daß der Göttinger Professor Richter in seinem Lehrbuch der Wundarzneikunst den französischen Chirurgen ähnliche Fälle wie diesen mit zu großer Leichtgläubigkeit nacherzählt hatte. Lichtenberg und Bürger wollten gegen diese leichtgläubigen Kollegen einen versteckten Hieb führen.

S. 79: Im 4. See-Abenteuer gibt es scharfe Ausfülle gegen den französischen Luftschiff er Blandiard. Dieser kommt auch in anderen Schriften von Lichtenberg schlecht weg.

S. 113: Anmerkung zu dem von Münchhausen bewirkten Brand im feindlichen Lager bei der Belagerung von Gibraltar. Diese Belagerung und das Mißgeschick dabei findet sich bei Lichtenberg anderweitig, in der burlesk-poetischen „Relation von den curieusen schwimmenden Batterien etc.“

S. 122: Anmerkung zu dem Bericht über die Erziehung der jungen Fische. Seitenhieb auf Basedow's Erziehung; wahrscheinlich von Lichtenberg.

S. 149: Im 10. See- Abenteuer eine Anspielung auf Lavater und seine Physiognomik, die sicher auf Lichtenberg zurückgeht. Dieser hatte schon in einem Aufsatz gegen Lavater geschrieben.

Ferner: Die im 1. See- Abenteuer erzählte Schnurre von dem englischen Kutscher, der mit der Peitsche die Initialen des englischen Königs knallen konnte. Dieses allerliebste Einschiebsel kann wohl nur vom Verfasser der ,Briefe aus England‘ herrühren.

Zum Schluß sei noch auf die volkstümlich-kräftigen, teils auch derben Scherze hingewiesen, die Bürger – offenbar mit großem eigenen Gefallen – in den Münchhausen hineinbrachte. Zum Teil sind sie schon in der l, Ausgabe von 1786 enthalten, wurden aber in der 2. Ausgabe von 1788 noch vermehrt. Ge­nannt seien:

Münchhausens Zeugung in der Austernnacht (1. Ausg. S. 113/114),

die „a posteriori und a priori applizirten Feuersteine" (1. Ausg. S. 36),

der „Hintertheil seines halbierten Wunderpferdes, der sich auf der Weide mit einer Beschäftigung amüsierte, die so gut gewählt war, daß bis jetzt noch keinmaitre des plaisirs mit allem Scharfsinne im Stande war, eine angemessenere Unterhaltung eines kopflosen Subjects ausfindig zu machen" (2. Ausg. S. 47 — 48). Wird dann noch breiter ausgeführt und nimmt mehr als 22 Zeilen ein.

Münchhausen füllt ein großes Leck im Schiff aus, indem er sich mit seinem Liebwerthesten daraufsetzt. Er betont dann, er hätte auch ausgelanget, wenn die Öffnung noch größer gewesen wäre, da er auf beiden Seiten von holländischen, wenigstens westphälischen Vorfahren abstamme (2. Ausg. S. 74/75). Scherze dieser Art, die noch ähnlich auftreten, sind vor allem der Grund dafür, daß später so viele besondere (= kastrierte) Ausgaben für die Jugend erschienen sind.

Von der Sprache her verdient Bürgers Arbeit an der zweiten Ausgabe min­destens das gleiche Lob wie die an der ersten Ausgabe. Mit dieser Ausgabe hat der deutsche Münchhausen seine endgültige Fassung erhalten.

Bürgers zweite Ausgabe zählt 4113 Zeilen. Hiervon gehören ihm durch die zweimaligen Einfügungen in der ersten und zweiten Ausgabe 1371 Zeilen allein an; das ist fast ein Drittel; genau 30 Prozent des Buches.

Wackermann 1969, S. 46ff.

 

Tabellarische Übersicht nach Müller 1906, S. 211.

 

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799 in Göttingen) war ein Physiker, Naturforscher, Mathematiker, Schriftsteller und der erste deutsche Professor für Experimentalphysik im Zeitalter der Aufklärung. Lichtenberg gilt als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus. Mit Bürger befreundet.