Das Handbuch der Artis Magicae - eine Anleitung zum Aberglauben?

 

 

Angelika Schoder: Das Handbuch der Artis Magicae

Wie sieht eigentlich der Höllenhund Cerberus aus? Wie muss man sich das Ungeheuer vorstellen, das den Ausgang des Fegefeuers bewacht? Und wie heißt der Oberste der bösen Geister? Über all dies und auch darüber, wie man das Reich der Dunklen Magie heraufbeschwört, gibt ein österreichisches Manuskript aus dem Jahr 1775 Auskunft. Es trägt den Titel „Compendium rarissimum totius Artis Magicae sistematisatae per celeberrimos Artis hujus Magistros. Anno 1057.“ Und weil mit Magie ist nicht zu spaßen ist, wird hier warnend ergänzt: „Noli me tangere“ – also bitte nicht anfassen!

Die Publikation ist scheinbar ein Handbuch, das für Anfänger der Schwarzen Magie gedacht ist. Natürlich ist es aus Sicherheitsgründen aber nur unter der Anleitung eines fachkundigen „veisen Mago“ anzuwenden, wie der Titel betont. Dieser kann dann mit Hilfe des Buches einführen in die nekromantische Manipulation von Gehängten, in die Ausführung von Tieropfern oder in den Konsum psychedelischer Substanzen, wie etwa Nachtschattengewächse wie Schierling und Alraune. Durch diese Prozesse sollen den Schutzgeistern verborgene Schätze entrissen werden, um das höchste Ziel des Schwarzmagiers zu erreichen: eine höllische Verklärung und Vereinigung mit dem Teufel.

Das Handbuch der Dunklen Magie ist übrigens nicht nur über die Sammlung der Londoner Wellcome Collection zugänglich, sondern auch als Reproduktion erhältlich. Die beiden Okkultismus-Experten Hereward Tilton und Merlin Cox haben das Manuskript ins Englische übersetzt mit Kapiteln wie „Über die Gerinnung. Narkose“ und „Kompendium der Operation“, aber auch „Namen der bösen Geister, die beschworen werden sollen“ oder „Über den Pakt zwischen dem Teufel und dem Menschen in der Nigromantie“. Schließlich erfährt man noch alles Wissenswerte „Über die schwarze Magie im Allgemeinen“ sowie „Über den kako-magischen Spiegel“.

Die Erläuterungen von Hilton und Cox geben auch Auskunft über die skurrilen Bilddarstellungen von Dämonen im Manuskript. So sind etwa auf einer Illustration zwei Männer dargestellt, die bei ihren Grabungsarbeiten von einem riesigen Dämon aufgeschreckt werden. Die nackte Gestalt mit einem roten gehörnten Kopf und Schnabel, grauen Flügeln und tierartigem Körper pinkelt nicht nur in die Feuerschale der grabenden Männer, sondern reißt einen der beiden auch an den Haaren, woraufhin dieser sein Buch mit magischen Sprüchen fallen lässt. Das Bild ist mit dem Text überschrieben: „Frevelhaftes Schatzgraben ohne Käntnis der Operation.“

Wie in der Einleitung zur Publikation mit dem Titel „Touch Me Not“ von Hereward Tilton erklärt wird, handelt es sich bei den beiden dargestellten Männern um Schatzgräber. Die magische Schatzsuche war im 18. Jhd. in Österreich ein weit verbreitetes Verbrechen. Der Aberglaube besagte, dass man bei diesen Vorhaben die Schätze von Schutzgeistern erbeuten konnte. Wie die Illustration im Manuskript zeigt, hatten die beiden Männer offensichtlich keine Ahnung, auf was sie sich bei ihrer Grabung einlassen und haben einen Dämon aufgeschreckt, der sie angreift.

Magisches Horror-Comic

Das Manuskript warnt, dass die Grenze zwischen Guter und Böser Magie dünn wie eine Spinnwebe ist und es gefährlich sei, sich mit der Magie einzulassen. Die einzige Möglichkeit, sich sicher mit dieser „Wissenschaft“ zu beschäftigen, ist es von einem erfahrenen Magier die nötige Vorbereitung und Theorie zu erlernen. Ein solches Lehrbuch könnte das „Compendium rarissimum totius Artis Magicae“ sein, das laut Titel ja systematisch das Wissen „von den berühmtesten Meistern dieser Kunst im Jahre 1057“ bündeln würde.

Tatsächlich war das Manuskript aus dem 18. Jhd. vermutlich aber nicht wirklich als Lehrbuch der Dunklen Künste gedacht, sondern eher als eine Art Horror-Comic, das sein Publikum mit schaurigen Bildern und Texten unterhalten sollte. Damit wäre das „Compendium rarissimum totius Artis Magicae“ etwas anderes als die sogenannten „Höllenzwänge“. Dies waren Zauberbücher, die zwischen dem 17. und 19. Jhd. entstanden und die Idee verfolgten, dass man mit alt-orientalischer Magie die Dämonen der Hölle zwingen könnte, die Wünsche des Magiers auszuführen, der diese durch bestimmte Riten anruft. An diese Werke war das vorliegende Manuskript vermutlich angelehnt, vielleicht aber auch als Satire darauf gedacht.

Über die Entstehung des „Compendium rarissimum totius Artis Magicae“ ist leider nur wenig bekannt. Das Buch auf Deutsch und Latein, das mit 31 Wasserfarben-Zeichnungen von Dämonen und drei Seiten mit magischen und kabbalistischen Zeichen und Sigeln versehen ist, wurde 1928 von der Wellcome Library von einem Antiquar namens V. A. Heck erworben. Woher die Publikation ursprünglich stammt, bleibt aber bis heute rätselhaft.

https://musermeku.org/handbuch-magische-kuenste/

 

 

 

Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung magischen „Wissens” seit dem 18. Jahrhundert. Phil. Diss., Hamburg 2005.

 

Zusammenfassung und Ergebnisse (S. 203-206)

 

Die Entscheidung, Zauberbuchtexte in den Mittelpunkt einer Studie zu stellen, führte zur Untersuchung über den Umgang mit Schriften, denen der Ruch des Abseitigen und Obskuren anhaftet. Die Beschäftigung mit abgelegenen und wenig erschlossenen Materialien sollte allerdings zu dem Ziel führen, das der englische Historiker Richard J. Evans als Ergebnis mikrohistorischer Forschung formuliert hatte, nämlich „zu zeigen, daß die detaillierte Rekonstruktion von scheinbar trivialen Erscheinungen aus archivalischen Quellen Argumente revidieren kann, die soziologischen Theorien, der Geschichtsphilosophie und anderen übergreifenden Interpretationen der Vergangenheit entspringen”.743 Abseits und schwer zu greifen sind die hier behandelten magischen Texte auch deshalb, weil ihre bibliothekarische Erfassung und der Zugriff auf sie durch die gängigen bibliographischen Verfahren nicht immer gewährleistet ist. Hier konnten nun durch intensive Bibliotheksrecherchen zahlreiche Handschriften erstmals in den Blick gerückt werden. Die Analyse von Bibliotheksbeständen, Bücherverzeichnissen und Verkaufslisten konnte zeigen, daß im Bereich der Grimoiren wesentlich mehr Titel und Titelvarianten im Umlauf waren als die bisherige Forschung gesehen hatte. Dadurch wurde der Kenntnisstand über Zauberbücher erweitert. Es zeigte sich, daß unter ein- und demselben Titel heterogene und variantenreiche Inhalte versammelt worden sind. Umgekehrt galt für die Ausgestaltung der Grimoiren, daß identische Inhalte unter verschiedenen Titeln auftauchen konnten. Zudem wanderten die Inhalte zwischen Handschriften und Druckschriften hin und her, Manuskripte und Drucke speisten sich gegenseitig. Insgesamt erwies sich die inhaltliche Gestaltung der Zauberbücher als die immer neue Zusammenstellung einer bestimmten Überlieferung aus den Wissensbeständen der Magie. Dieses Verfahren wurde als ein magisches Baukastensystem beschrieben.

Als entlegen und abseits sind auch einige der Quellen zu qualifizieren, die herangezogen wurden, um über eine bibliographische Erfassung hinaus die Alltagsbedeutsamkeit von Zauberbüchern zu belegen: ältere Jahrgänge regionaler volkskundlicher Zeitschriften, juristische Periodika oder die vermischten Seiten von Tageszeitungen. Diese Schriften erwiesen sich als „Quellenminen”,744 durch deren Prospektion und Abbau jene Mosaiksteine gewonnen werden konnten, aus denen hier ein Bild der Verbreitung magischen Wissens zusammengesetzt wurde, das zwar zugegebenermaßen einige unausgefüllte weiße Flecken aufweist, die wesentlichen Prozesse aber deutlich werden läßt.

Als eher entlegen haben wohl auch einige der hier zitierten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zu gelten, die mit ihren häufig der Volksaufklärung verpflichteten Ansichten über Aberglauben und Aufklärung zu Wort kamen. Jedoch erwiesen sich gerade ihre Argumente, Ansichten und Einsichten als keineswegs überholt, vielmehr waren sie von einer erfrischenden Klarheit und Deutlichkeit. Die Aufklärer hatten erkannt, daß die seit dem 18. Jahrhundert in handschriftlicher, später in gedruckter Form kursierenden Anweisungstexte für magisches Handeln das Resultat von Zerschreibungen waren, selbstverständlich untauglich für den behaupteten Zweck, so daß sie zu Enttäuschungen bei denen führen mußten, die sie aus menschlich verständlichen Motiven anwenden wollten. Grimoiren dienten einem ökonomischen Ziel: denjenigen reicher zu machen, der die Skrupellosigkeit besaß, die Schriften selbst oder eine auf sie aufbauende Dienstleistung feilzubieten. Dämonenbeschwörung und Schatzgräberei, nicht selten in engem Verbund mit Betrug, laienmedikale Praktiken und alle damit verbundenen Folgen, Heil- und Segensprechen, das verhängnisvolle Treiben der Hexenbanner: All das waren Tätigkeiten, die den Vorgaben der Zauberbücher folgten. Manchmal eigneten sich die magischen Dienstleister das Gelesene kreativ an, nicht selten jedoch setzten sie es eins zu eins in die Tat um. Die Aufklärer sahen die Folgen für die, die bereit waren, das angebliche magische „Wissen” für unverhältnismäßig viel Geld zu erwerben ebenso wie für die, die nicht in der Lage waren, das Zauberbuchwissen selbst umzusetzen, sondern sich als Rat- und Hilfesuchende einem magischen Dienstleister auslieferten.

Nicht zuletzt diese Schriften des 18. Jahrhunderts eröffneten eine Blickrichtung, um die Vermittlungswege magischen Wissens in einer historischen Langzeitperspektive bis in die Gegenwart zu verfolgen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg tauchten handschriftliche Zauberbücher vermehrt auf. In dieser Zeit waren die Manuskripte noch rar und begehrt, ihre Qualität hing nicht zuletzt von den Kenntnissen und Fähigkeiten des Kopisten ab. Nach 1800 stieg die Zahl der Drucke, aber auch der für den Hausgebrauch von Hand kopierten Zauberbücher deutlich an. Seit 1900 gab es eine schier unüberschaubare Vielfalt von auflagenstarken Titeln, deren Erfolg zum Teil bis heute anhält. Den Verlegern, die im 19. und 20. Jahrhundert zu deutlich erschwinglicheren Preisen Magica produzierten, standen vornehmlich jene Schriften und Abschriften zur Verfügung, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden waren. Zudem konnte jeder Druck, den die Zauberbuchverleger auf den Markt warfen, irgendwo wieder als Vorlage einer Abschrift dienen, jede Abschrift konnte wieder Vorlage für einen Druck werden. Dennoch - oder gerade deswegen - hält der Erfolg der Zauber- und Beschwörungsbücher bis heute an. Während in den Diskussionsforen des Internet nach wie vor über die alten Titel, etwa das 6. und 7. Buch Mosis debattiert wird, tauchen die Inhalte nur geringfügig transformiert in neuen Kompilationen auf, die im einschlägigen Buch- und Versandhandel oder auf den allerorts stattfindenden Esoterikmessen vertrieben werden. Nach wie vor hält die Szene ein Versprechen für ihre Kunden bereit: „Sex Intelligenz Reichtum”.745

Die Untersuchung der Produktionsbedingungen von Zauberbüchern in einer historischen Langzeitperspektive, die Frage nach den ökonomischen Motiven ihrer Nachfrage und Distribution und den konkreten Umständen ihrer Anwendung ergab eine Differenz zu jenen Arbeiten über Magie und Aberglauben, die selbst dem Zauber der kleinen Leute erlegen sind. Eine ehrfürchtige Zurückhaltung gegenüber „dem Eigenwert der volksmagischen Kultur”746 wollte sich selbst bei intensivster Beschäftigung mit ihr nicht einstellen, ich muß auf die Erfahrung verzichten, die nicht zuletzt einige der nach 1968 sozialisierten Kulturwissenschaftler auf ihrer Suche nach einer „‘wilden’ und ‘eigensinnigen’ Volkskultur”747 machten. Weder das Konstrukt einer eingeborenen Volksmagie noch die Vorstellung universal-menschlichen Magiegebrauchs erscheinen mir zielführend für eine Analyse meines Forschungsgegenstandes. Erfolgversprechender sind Ansätze der neueren Volkskunde und der religionsgeschichtlich orientierten Frühneuzeitforschung. Magie erscheint in diesen Kontexten als spezifisch abendländisches Sinn- und Wissenssystem, das im 15. Jahrhundert mit der Neuaneignung hermetischer antiker Traditionen entstand, mithin eine „Denkform der abendländischen Neuzeit”748 darstellt. Magie ist demnach ein autonomes Gedankenkonstrukt, das in spezifischer, gegenüber anderen Wissenssystemen abgegrenzter und unterscheidbarer, Weise fähig ist zur Beschreibung des Universums, der dort wirkenden Kräfte und der Stellung des Menschen. Magie ist in der Lage, wenn nicht in einem empirisch-rationalen, so doch in einem spekulativ-philosophischen Sinn, mit ihren akkumulierten Wissensbeständen in eigenständiger Weise Auskünfte und Antworten zu erteilen.749

Indem man der Magie diesen Rang einräumt, eröffnet sich ein Horizont, der es erlaubt, von Zauberbüchern als „Anleitungen zum Aberglauben” zu sprechen. Wie andere Wissenssysteme, Naturwissenschaft oder Religion etwa, verliert auch die Magie ihre Fähigkeit, einen Beitrag zur Bewältigung der menschlichen Existenz zu leisten, wenn die spezifischen Wissensbestände und Axiome popularisiert, fragmentiert und trivialisiert werden. Genau dies jedoch ist mit der Darstellung von Elementen aus dem magischen Wissenssystem in Zauberbüchern geschehen. Das Kapitel über den Aufbau dieser Schriften nach Art eines magischen Baukastens hat die Fragmentierung belegt. Die Ausführungen über user und provider sowie das Kapitel über die paradoxen Auswirkungen der Aufklärung haben gezeigt, daß die Geschichte der Zauberbücher eine Geschichte fortschreitender Popularisierung von einstmals streng gehüteten und nur Eliten zugänglichen Wissensbeständen ist. Die Trivialisierung dieses Wissens schließlich wird deutlich, wenn man den Blick auf die Alltagsnutzung von Zauberbüchern richtet. Kommt es, wie es mit der Magie in Zauberbüchern geschehen ist, zur Fragmentierung, Trivialisierung und Popularisierung von Wissenssystemen, dann ist meiner Ansicht nach der Schritt zum Aberglauben vollzogen. Meinem Verständnis von Aberglauben liegt also weder eine Gegenüberstellung des wahren und des falschen Glaubens zugrunde noch braucht sie einen spezifischen Sachhorizont. Im Übrigen ist dieser Definitionsansatz offen genug, um zu erkennen, daß jedes Sinn- oder Wissenssystem zum Aberglauben werden kann, wenn es fragmentiert, trivialisiert und popularisiert wird. Dem daraus resultierenden Handeln zur Bewältigung krisenhafter Lebenssituationen fehlt die Fähigkeit, die konsistente Wissenssysteme, seien es Religion, Naturwissenschaft, Philosophie oder Magie, gewährleisten könnten. Insofern halte ich es, wenn die Kennzeichen Fragmentierung, Trivialisierung, und Popularisierung von komplexen Wissensbeständen vorliegen, für legitim, von Aberglauben zu sprechen, insofern sind Zauberbücher, in denen diese Magie fragmentiert, trivialisiert und popularisiert wurde, tatsächlich Anleitungen zum Aberglauben.

 

Anmerkungen

743 Evans, Richard J.: Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe, 1800-1914. Reinbek 1997. S. 358.

744 Tschohl, Peter: Der Pochtekenbericht in Sahaguns „Historia General”. Berlin 1998 (= Indiana., Beiheft 14). S. 355.205

745 So formuliert auf einer Einladung zu einer Veranstaltung der Gruppe „GMP - Meditation für dieses Zeitalter”, die am 26. Oktober 2001 im Rahmen der Münchener Esoteriktage stattfand.

746 Labouvie: Verbotene Künste. S. 14.

747 Kaschuba, Wolfgang: Volkskultur - kein Glaubensbekenntnis. In: Salzburger Volkskultur 19 (1995). S. 8-12, hier S. 10.

748 Neugebauer-Wölk, Monika: Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne. In: Zeitschrift für historische Forschung. 27 (2000) 3. S. 321-364, hier S. 337.

749 Vgl. Harmening, Dieter: Artikel „Aberglaube”. In: Kindlers Enzyklopädie Der Mensch. Band VI: Sprache, Kunst und Religion. Zürich 1983. S. 707-718, hier S. 715-717; Schlieben-Lange, Brigitte: Aufklärung und Magie. Überlegungen zu eine Rekonstruktion des aufklärerischen Diskurses über Magie und Semiotik. In: Lange-Seidl, Annemarie (Hrsg.): Zeichen und Magie. Akten des Kolloquiums der Bereiche Kultur und Recht der Deutschen Gesellschaft für Semiotik. Tübingen 1988 (= Probleme der Semiotik, Band 8). S. 37-47, hier S. 38-39.