London, Abbey Road NW 8, August 2010

 

    

Wenn man im Londoner Stadtteil St. John’s Wood (Stadtbezirk City of Westminster) die Grove End Road nach Norden hinaufgeht, trifft man auf die Abzweigung der Abbey Road. Linkerhand liegen die berühmten Aufnahmeräume der Electric and Musical Industries (EMI), die nach dem Erfolg des Albums einfach nach dem Straßennamen in „Abbey Road-Studios“ umbenannt wurden. Die Beatles haben dort zwischen 1962 und 1970 mehr als 200 Songs aufgenommen, wie es heißt an dem einzigen Ort, an dem sie für einige Jahre nur Musiker sein durften.

Diese unscheinbare Straße in London wurde durch ein Foto berühmt, das in den späten 1960er Jahren um die Welt ging. Es zeigt die vier Beatles, wie sie am Freitag, dem 8. August 1969 um 11.30 im Gänsemarsch eine Straße überqueren und ziert den Umschlag des Albums Abbey Road, das am 26. September desselben Jahres im Vereinigten Königreich veröffentlicht wurde und schnell zu einem Welterfolg werden sollte.

Über die Umstände, unter denen das Bild entstand, sind viele Details bekannt. So kletterte der Fotograf Iain Macmillan auf eine kleine Stehleiter, nachdem ein Bobby den Verkehr kurzfristig gestoppt hatte. Danach mussten die Vier mehrmals die Straße hin und her überqueren. Die Beatles sollten im Gleichschritt marschieren, was aber nicht so ohne Weiteres klappte, wie die anderen erhaltenen Fotos der Serie belegen.

Vorn läuft John Lennon, dahinter Ringo Starr, dann folgt Paul McCartney; das Schlusslicht bildet George Harrison. Neben der Dynamik des Schreitens zeigt die Haltung der Boys eine gewisse Lässigkeit, die vor allem durch Lennons rechte Hand bestimmt wird, die er in die Jackentasche gesteckt hat. Außerdem hält McCartney eine Zigarette zwischen den Fingern und geht barfuß, denn er hatte an diesem warmen August-Vormittag seine Sandalen weggeworfen.

Die Idee zu diesem „Event“ stammte von Paul; die Jungs bereiteten sich nicht besonders vor und trugen ihre Alltagskleidung, in der sie an diesen Tagen im Studio arbeiteten. Man weiß sogar, dass der Fotograf eine Hasselblad-Kamera mit 50 mm Weitwinkelobjektiv verwendete und die Aufnahmen mit der Blende 22 und der Verschlusszeit 1/500 aufnahm.

Später soll Paul auf einen symbolischen Zusammenhang zwischen dem Foto und „The End“ hingewiesen haben, dem vorletzten Song auf dem Album: „Wir haben unser letztes Album aufgenommen, sind rausgegangen und haben uns getrennt.“ Aber die angebliche „cryptic message“ dieses Liedes ist nur eine Legende, denn von den sechs Fotos, die Iain Macmillan schoss, zeigen nur drei, wie die Beatles die Straße von links nach rechts überqueren, während die Gruppe auf den anderen in gleicher Reihenfolge von rechts nach links läuft. Es kam ihnen bei der Produktion des Cover-Fotos also gar nicht auf die Marschrichtung an. Die Auswahl des Fotos mit der Richtung „vom Studio fort“ erfolgte, weil die Vier nur einmal den Gleichschritt hinkriegten. Auch fand an diesem Tag kein Abschied statt, denn die gemeinsame Arbeit an den Songs für das Album Abbey Road dauerten noch bis zum 20. August. In den folgenden acht Monaten schleppte sich die gemeinsame Arbeit wegen vieler Differenzen und Eskapaden einzelner Bandmitglieder eher schlecht als recht hin, und die auseinander strebenden Tendenzen der Gruppe verstärkten sich. Der eigentliche Tag, an dem Paul McCartnry das Ende der Beatles verkündete, war der 10. April 1970. Immerhin handelt es sich bei dem berühmten Cover-Foto um das vorletzte Bild, das die Fab Four gemeinsam zeigt.

Auf der Rückseite des Albums kann man eine weite Aufnahme Macmillans sehen, auf der ein altes Straßenschild abgebildet ist. Durch das in gleicher Schrift montierte Wort „Beatles“ und ein zufällig in die Aufnahme hineingeratenes Frauenbein, das den Zusatz des Straßennamens „NW 8“ fast ganz verdeckt, entsteht der Namenszug und Titel des Albums. Später haben gierige Souvenirjäger sämtliche Schilder in der Abbey Road abmontiert, so dass überall gegen Abschrauben gesicherte moderne Stahlplatten befestigt werden mussten.

Abbey Road ist das elfte Album der Beatles und entstand in einer kritischen Phase, die der Trennung vorausging. Die Songs zeichnen sich durch komplexe Kompositionen aus und weisen gegenüber den früheren Liedern einen gesteigerte Klangqualität auf. Das Album war das letzte, das George Martin mit den Beatles produzierte, und es war auch das letzte, an dem die Beatles als Gruppe gemeinsam arbeiteten. Der Musikkritiker und Songschreiber Richard Wright, unter dem Namen Rick Wright Keyboarder und Sänger der Rockband Pink Floyd, bewertete das Album folgendermaßen: „Die letzten Tage der Beatles waren hochproduktiv, wie es sich für eine Topband gehört, die gerade im Begriff ist, sich aufzulösen. Nach dem etwas schlampigen aber liebenswerten Let It Be-Album unternahmen die Beatles noch eine letzte Kraftanstrengung und machten Abbey Road zu ihrer meistverkauften Platte. Obwohl alle vier auf der ersten Seite mit ihrem Beitrag vertreten sind, sind es doch die Lennon-Songs ‚Come Together‘ und ‚I Want You (She´s So Heavy)‘, die den stärksten Eindruck hinterlassen. Eine Reihe von Liedfragmenten führte zu einem Medley, das die zweite Seite fast gänzlich einnimmt. Die ominöse, bewegende und offizielle Schlussnummer ‚Golden Slumbers‘/‘Carry That Weight‘/‘The End‘ wird in Beatles-typischer Manier auf hübsche Weise heruntergespielt von McCartneys Lästerliedchen ‚Her Majesty‘.“

„Octopus's Garden“ ist nach „Don’t Pass Me By“ die zweite und letzte Komposition, die Ringo Starr in einem Beatles-Album veröffentlicht hat. Interessante Harmonien prägen George Harrisons „Here Comes the Sun“, das er im Garten seines Freundes Eric Clapton schrieb und auf einer von dessen Akustik-Guitarren komponierte, als eine Winterdepression seine Kreativität gelähmt hatte und er dem ganzen Studio-Rummel für eine Weile zu entfliehen suchte. So fand er zumindest musikalisch den Frühling, der in jenem Jahr in England auf sich warten ließ.

Auf einem Platz in der Straßenmitte steht das Denkmal des Bildhauers Edward Onslow Ford, der mit all dem, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seinem Stadtteil Aufregendes passiert, nichts mehr zu tun hat. Stellt der Besucher sich aber auf diese Insel im regen Straßenverkehr, kann er Beatles-Touristen beobachten, die zu den Abbey Road-Studios pilgern, dort die Mauern mit Graffitis bemalen und das Treiben neben und auf dem weltberühmten Zebrastreifen fotografieren. Beatle-Fans haben die Mauern zu eines Art Schrein gemacht, auf denen sie sich ihre naiven Reliquien selber pinseln, die dann von ihren Nachfolgern gelesen werden: „Jenny was in Abbey Road“, „And in the end/ The love you take/ Is equal to the love you make“ oder „With our love …/ we could change/ the world ...“

Den ganzen Trubel kann man auch in Amateurfilmchen bei Youtube betrachten oder ihm Tag und Nacht über eine Livecam unter http://www.abbeyroad.com/visit/ zusehen. Touristen und Fans lassen sich bei der Überquerung in Beatles-Posen fotografieren, manchmal gehen vier im Gleichschritt und ahmen die Posen ihrer Idole nach. Das Ganze hat natürlich parodistische Züge und wird von den meisten Fans als Gag inszeniert. Von dem Platten-Cover gibt es mehr als 100 Parodien, die aus Montagen oder mehr oder wenig gekonnt inszenierten Fotografien bestehen. Die Jungs der kalifornische Funk-Rockband „Red Hot Chili Peppers“ sind sogar nackt über den Zebrastreifen gelaufen. All das und viel mehr ist bereits im Internet dokumentiert worden.

Abbey Road gilt als eines der besten Beatles-Alben, die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ setzte es 2007 in seiner „Liste der 500 besten Alben der Rockmusik“ auf Platz 14. Es lohnt sich auch, McCartneys schräge Ballade „She Came In Through The Bathroom Window“ genauer anzuhören, die durch den Einbruch weiblicher Fans in sein nahegelegenes Haus angeregt wurde. Die rätselhafte erste Strophe lautet:

She came in through the bathroom window
protected by a silver spoon
But now she sucks her thumb and wonders
By the banks of her own lagoon

Folgt man dem Weg, den die Beatles scheinbar einschlagen, als sie sich für ihre Werbeaktion von den Arbeitsplätzen entfernen, in denen sie sieben Jahre Welterfolge produzierten, gelangt man in weniger als fünf Minuten zur Cavendish Avenue. Dort steht das Haus Nr. 7, das bis heute Paul McCartney gehört. Das würfelförmige Gebäude liegt in stiller Abgeschiedenheit hinter Mauer und Tor und war damals mehr als drei Jahre lang Treffpunkt der Gruppe. Hier fand die sagenhafte Zusammenarbeit zwischen John und Paul statt, hier schrieb und komponierte Paul „Hey Jude“ und „Blackbird“, hier spielte sich des Familienleben McCartneys zwischen Jane Asher, Francie Schwartz und Linda Eastman mit all seinen Höhen und Tiefen ab, das von den Medien voyeuristisch ausgeschlachtet wurde. Hier fand auch der mysteriöse Einbruch statt, den Paul zu seinem Song „She Came In Through The Bathroom Window“ anregte. Eines der Mädchen stieg auf einer Leiter durch das offene Badezimmerfenster, öffnete den anderen die Tür, und gemeinsam entwendeten sie eine Reihe von Fotos.

Von all dem ist heute natürlich nichts mehr zu sehen und man muss die vielfältige Literatur studieren, um eine Vorstellung von den damaligen Vorgängen zu gewinnen. St. Johne’s Wood aber ist zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte der Popkultur geworden.

 

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