Wie Nordfriesland unterging

Die Klagen waren immer lauter geworden, veraltete Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, steigende Bierpreise; manche sprachen gar von „himmelschreiender Ungerechtigkeit“, dabei hatte der Himmel längst sein Haupt verhüllt und weinte. Die Fremden blieben wegen des schlechten Wetters weg, und die meisten Einheimischen waren sogar froh darüber. Die Preise in der Gastronomie blieben auf ihren Schwindel erregenden Höhen, aber es kam kaum noch jemand, den die Wirte übers Ohr hauen konnten. Vorsichtige Kritik wurde laut am Preis-Leistungs-Verhältnis, die man mit dem selbstgefälligen Hinweis „Wir in Nordfriesland“ und „Unser Norden“ vom Tisch wischte. Geklagt wurde weiter lautstark und auf höchstem Niveau. Ansonsten feierten sich die Nordfriesen wie immer selber und badeten stolz im Ruhm vergangener Tage. Dabei probierten sie Posen aus, die denen ähnelten, die sich Detlev von Liliencron in seiner berühmten Ballade über den Untergang Rungholts während der Großen Mandränke des Jahres 1362 ausgedacht hatte. Betrunkene Massen zogen abends an den Stränden von St. Peter, Amrum und Sylt entlang, ballten die Fäuste nach Westen und höhnten "Trutz Blanke Hans!" – So ging es über Jahre, bald aber hatte der Himmel seine Ruhe und die Welt auch.

Die große Flut von Anno 2013 löste das Problem nämlich nachhaltiger, als es sich vorher irgendwer hätte vorstellen können. Sie war so hoch, dass sämtliche Außendeiche nördlich der Eidermündung von Tönning bis zur Tondermarsch mehrere Meter überspült wurden. Die rücklaufenden Wassermassen zerstörten die Deiche so gründlich, dass schon vierzehn Tage nach der Katastrophe beschlossen wurde, den Landkreis aufzugeben.

Es gab ca. 165 000 Tote und sieben Verletzte, die ins Kreiskrankenhaus Schleswig eingeliefert wurden, wo sie bitterlich weinten. Dabei war man gewarnt. Bereits Jahre vor der Katastrophe wurden Furcht einflößende Broschüren verteilt: „Sturmflut – wat geiht mi dat an?“, in denen zu lesen war, wie man sich zu verhalten hat, wenn einem das Wasser bis zum Halse steht. Aber die meisten Nordfriesen warfen die Broschüren in die grüne Tonne. „Wir haben schon alles geregelt. Alles ist best!“ Bei manchen landete erst gar keine Broschüre im Briefkasten, weil ihr Haus zu hoch lag. Welch ein Irrtum! Aber das interessiert ja jetzt niemanden mehr.

Viel gab es nichts zu retten, denn das Meer verschlang Deutsche, Dänen und Friesen mit all ihrem Hab und Gut und nahm sogar ein paar tausend Autos mit. Außerdem waren in den beiden vorausgehenden heißen Sommern Unmassen von Haifischen aus äquatorialen Gegenden des Atlantiks in die Nordsee eingewandert, hatten dort sämtliche Robben ausgerottet und den Badebetrieb auf allen west-, ost- und nordfriesischen Inseln unmöglich gemacht. Die Haie verrichteten ihr Werk innerhalb weniger Tage so gründlich, dass die von der Naturkatastrophe verschonten Schleswig-Holsteiner froh waren, aller Bergungs- und Beerdigungskosten enthoben zu sein. Von Rendsburg bis Flensburg fragte man schon bald: War da noch was? Und in Dithmarschen vermisste man den Nachbarn nördlich der Eider sowieso nicht.

Was bleibt nach der Flut von Nordfriesland übrig? – Von Inseln wie Pellworm und den Halligen redet sowieso niemand mehr, die höchsten Punkte von Amrum und Föhr bilden nun die neuen Halligen, bleiben aber vorsichtshalber unbewohnt, und auf den Resten von Sylt lebt man in Westerland und Kampen weiter in Saus und Braus, als sei nichts geschehen.

Die wenigen Überlebenden, darunter einige Hundert, die zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht zu Hause gewesen waren, haben sich auf die hohe Geest zurückgezogen, wo sie ein kümmerliches Dasein fristen und mit geballt-erhobenen Fäusten drohende Worte gen Westen murmeln. Die Rungholt-Sage erlebt gerade eine heftige Konjunktur, vor allem jene Prophezeiung, nach der der Ort vor dem Jüngsten Tag wieder auferstehen wird. Denn – so weiß der Chronist zu berichten – Rungholt stehe mit allen Häusern unversehrt am Grunde des Wassers. Aber so sehr auch im Westen der heutigen Halbinsel Nordstand gesucht wurde, keiner der Vorüberfahrenden hat je einen Turm oder eine Mühle gesehen oder einen Glockenklang vernommen. Und an ein Wiederauftauchen Nordfrieslands glaubt südlich des Nord-Ostsee-Kanals sowieso niemand mehr.

Noch Jahre nach der Flut treiben Hunderte von Autos auf der Nordsee. Für die Kinder auf den großen Fähren zwischen Calais und Dover bedeutet es den Höhepunkt der Reise, wenn ihre Fähre ein solches Relikt nordfriesischer Vergangenheit unvermittelt rammt. Das macht dem großen Schiff nichts aus, ist aber immer zu einem publikumswirksamen Effekt gut, um dessen Willen so mancher Kindergeburtstag auf dem Meer zwischen Frankreich und England gefeiert wird. Es gibt nämlich einen plötzlichen trockenen Schlag, den man auf dem ganzen Schiff spürte, dann splittern Scheiben und das treibende Objekt sinkt wie ein Stein weg, nicht ohne eine Gischt-Fontäne aus entweichender Luft zu blasen, die jedem Walfisch Ehre machen würde. Wer als erster eine solche Fontäne entdeckt, bekommt eine Papierkrone aufgesetzt und wird Geburtstagskönig.

 

 

 

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