Ein Souvenir von der Seine

Als ich durch Saint-Germain schlenderte und mir einige von den Kunstwerken ansah, die in den vielen Galerien ausgestellt wurden, fand ich nichts, was mich ansprach oder gar faszinierte; überall die gleichen gefälligen Grafiken, Bilder und Objekte, die mir schon nach dem ersten Blick ihre unverbindliche Beliebigkeit signalisierten. Man darf doch ab und zu wenigstens einen Anflug von technischer Professionalität erwarten statt immer bloß denselben Dilettantismus, und mir fiel das schöne alte Bonmot ein: Kunst kommt von Können.

Auch die Antiquitätengeschäfte boten mir nichts Interessantes oder gar Aufregendes, nur immer wieder Objekte, die wohl nur ihres Alters wegen in eines der Geschäfte gelangt waren und mit denen ich meine Wohnung nicht gerne zumüllen möchte. Ich fragte mich dort, wo die Rue du Bac auf die Seine trifft, wonach ich eigentlich suchte.

Wie immer, wenn ich durch Paris laufe, suchte ich nach etwas Bedeutsamen, nach Dingen, die mir etwas über die Stadt und ihre Menschen erzählen können, die jetzt hier wohnen oder die hier lebten, als ich noch nicht durch ihre Straßen flanierte. Saint-Germain hatte mir heute wohl nichts zu bieten.

Als ich auf dem Pont Royal schon gegen die Sonne nach Westen die tief gestaffelten Brücken zwischen Assemblée Nationale und Grand Palais zählte, sah ich, dass einige der Bouquinisten am linken Seineufer gerade ihre Kästen öffneten. Ich bog also von dem Pont Royal nach Westen ab, um zu schauen, was für ein buntes Sammelsurium da vor den neugierigen Touristenblicken ausgebreitet wurde.

Seit 40 Jahre bummele ich gerne an den dunklen Kästen vorbei und habe dort schon manches interessante Buch für wenig Geld erstanden. Alte Bücher gibt es immer noch, auch Druckgrafik aus dem 18. und 19. Jahrhundert und Comic-Hefte sowie Zeitschriften aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Aber die Trödler haben auch neuen Tand ausgestellt und bei vielen Ständen überwuchern die nichtssagenden bunten Souvenirs die viel interessanteren geschichtsträchtigen Relikte der Vergangenheit.

Schon auf der Höhe des Musée d'Orsay wurde ich fündig: Da steckten Reihen von alten Postkarten in einem Ständer zwischen zeitgenössischem Kitsch, darunter hundertjährige Originale zu moderaten Preisen. Mir stach der Eiffelturm ins Auge und ich zog die Postkarte heraus. Sie war ganz hier in der Nähe aufgegeben worden. Der Poststempel verriet es mir: Saint-Germain, 8. Arrondissement. Und auch das Datum konnte ich lesen. Am 15. Dezember 1903 hatte ein gewisser Bertrand die Karte eingeworfen und sie war von zuverlässigen Postboten im 120. Pariser Postbezirk um 21.30 Uhr abgestempelt worden.

Dieser Berthôt hat - einer Mode der damaligen Zeit folgend - die Briefmarke schräg auf die Bildseite der Postkarte geklebt, eine rote 10-Centime-Marke aus der gerade neu erschienene Dauerserie, die eine "Semeuse" als Allegorie auf die République Française zeigt. 10 Centime oder 10 Pfennig in Deutschland, das war um 1900 der Preis für die Beförderung einer Postkarte im Inland.

Außer dem Entwertungsstempel auf der Briefmarke hat der Postbeamte auf der Adressen-Seite einen zweiten Stempel abgeschlagen, mit dem er die ordnungsgemäße Abfertigung der Sendung dokumentierte.

Die Karte zeigt eine Ansicht der Seine vom Westen; am linken Ufer grüßt der Eiffelturm, damals gerade 14 Jahre jung, also nur ein paar Jahre jünger als jene Mademoiselle Berthe Bernaut, an welche die Karte adressiert ist. Sie wohnte in Dunkerque, in der Rue de Soubise 3, im Département Nord; den Eingang hat das dortige Postamt ebenfalls dokumentiert, aber der Handstempel hat die Karte nur halb getroffen, so dass ich nicht mehr überprüfen kann, wie schnell die Karte gelaufen ist.

Das Fräulein Berthe scheint eine säumige Briefschreiberin gewesen zu sein, denn der Absender hat unten auf die Bildseite der Karte geschrieben: „Ich erwarte deinen Brief mit Ungeduld. Dein dich liebender Freund Bertrand.“ Damit folgt der brave Mann der Anweisung des Weltpostvereins, die auf der Vorderseite der Carte Postale steht und den Willen der 1874 gegründeten Vereinigung kundtut: „Diese Seite ist ausschließlich für die Adresse bestimmt“. Kurze Zeit später kamen Karten auf den Markt, die das Feld in zwei Hälften aufteilen: links für die „Correspondance“ und rechts für die „Adresse“.

Die Postkarten wurden in Frankreich nach dem Krieg von 1870/71 populär; im internationalen Postverkehr wurden sie mit dem Berner Postvertrag ab 1. Juli 1875 zwischen 21 Ländern zugelassen und der Weltpostvertrag vom 1. Juni 1878 erweiterte den Geltungsbereich auf den größten Teil der Erde. Ab 1896 setzte sich die Ansichtskarte durch; neben einfarbigen Karten gewann das mehrfarbige Druckverfahren der Chromlithografie immer mehr an Beliebtheit. Die Karten waren zu einem geringen Preis erhältlich und die Fotografien nahmen den Benutzern die aufwändigen Städte- oder Landschaftsbeschreibungen ab. Ab der Jahrhundertwende 1900 kamen zunehmend Karten auf den Markt, die im Fotodruckverfahren hergestellt wurden.

Das Foto für die Ansichtskarte wurde um das Jahr 1900 von dem linken Seineufer aufgenommen und zeigt die 1873 als Verbindung des 15. und 16. Arrondissements erbaute Pont de Grenelle, die 1966 durch einen Neubau ersetzt wurde. Davor am westlichen Ende der Île aux Cygnes, einem schmalen künstlichen Damm in der Seine, steht eine der vier Freiheitsstatuen von Paris und hält ihre Fackel grüßend in Richtung Amerika. Freilich handelt es sich nur um eine elfeinhalb Meter hohe Kopie, die der Stadt Paris im Jahre 1889 von den Vereinigten Staaten von Amerika geschenkt wurde. Das amerikanische Gegenstück steht auf Liberty Island im New Yorker Hafen, wurde am 28. Oktober 1886 eingeweiht und ist ein Geschenk des französischen Volkes an die Vereinigten Staaten.

Der Verlag L.J.& Cie, in Angoulême, der Hauptstadt des westfranzösischen Départements Charente in der Region Poitou-Charentes, der die Karte in einem fotomechanischen Tiefdruckverfahren vervielfältigen ließ, hatte eine ganze Serie „La Seine à travers Paris“ im Angebot: dies ist das Motiv „La Seine à Grenelle“. Es zeigt uns den Flussabschnitt noch mit unbefestigtem Ufer. Wo heute die Fundamente der Fahrbahnen der Uferstraßen – oder wie hier – die Hafenanlagen des Port de Javel Haut bis ins Wasser reichen und der Seine im gesamten Stadtbereich ein durchgehendes Korsett aufzwingen, lag damals noch Kies und Schotter ungeordnet herum.

Links neben der Freiheitsstatue erheben sich die Türme des Palais du Trocadéro im 16. Arrondissement über dem Ausstellungspalast, der für die Weltausstellung Paris 1878 errichtet wurde. Die Architektur war von Gabriel Davioud und Jules Bourdais in einem neomaurischen-neobyzantinischen Stil gestaltet. 1937 wurde das Gebäude für die Weltfachausstellung Paris weitgehend abgetragen und durch das heutige Palais de Chaillot ersetzt.

Im Mittelgrund stehen und sitzen Männer auf kleinen Booten und angeln im damals offenbar noch fischhaltigen Gewässer des Flusses. Einige Schiffe zeugen von der wirtschaftlichen Bedeutung des Flusses, den die europäische Schlagerindustrie des 20. Jahrhunderts zum Symbol der Liebessehnsucht verkitscht hat. Der Schweizer Vico Torriani sang 1960:

Kalkutta liegt am Ganges
Paris liegt an der Seine
Doch das ich so verliebt bin
Das liegt an Madeleine

Ansichtskarten sind heute ein bevorzugtes Sammelgebiet und erfreuen sich besonders bei regionalen Hobbyhistorikern großer Beliebtheit. Die kleinen Druckwerke wurden um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert millionenfach von überall in die weite Welt geschickt. Exemplare aus den ersten Jahrzehnten des Postkartenzeitalters sind besonders gesucht und müssen oft teuer bezahlt werden. In Paris haben sich Antiquare ganz auf dieses Sammelgebiet konzentriert und bieten ihre Ware nach modernen Postleitzahlen geordnet an. Die Karte des Monsieur Bertrand an seine geliebte Berthe ist ein bescheidenes Dokument der Pariser Stadtgeschichte und hat nur einen Euro gekostet; dafür erzählt sie eine Fülle von Details des Alltagslebens vor mehr als hundert Jahren.

 

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