Bunte Vögel

Edinburgh 2012

Edinburgh, die Hauptstadt Schottlands an der Ostküste auf der Südseite des Firth of Forth, ist immer eine Reise wert. Ob auf den Spuren Theodor Fontanes, der die Stadt „Athen des Nordens“ genannt hat, oder auf eigene Rechnung, etwa nach Holyrood Palace, der schottischen Residenz des britischen Königshauses mit den Erinnerungen an Maria Stuart, Königin von Schottland, zur Prince Street mit ihren vielen Geschäften oder zum Hafen von Leith, in dem die königliche Yacht Britannia vor Anker liegt.

Über Edinburghs altehrwürdige Gassen, Häuser und Friedhöfe kursieren allerlei seltsame Legenden und krude Geistergeschichten. Man muss aber nicht an den allabendlichen Ghost Tours teilnehmen, die für schauerlustige Touristen auf der Royal Mile von verschiedenen Veranstaltern angeboten werden, um das besondere Flair dieser alten Residenzstadt zu erleben; ein Bummel durch die Altstadt auch am helllichten Tage genügt, um auf lebendige Legenden zu stoßen.

Auf der High Street in Höhe von St. Giles Cathedral wälzt sich vom frühen Vormittag bis zum Abend der Strom Tausender von Touristen zur Old Town und dem Edinburgh Castle hinauf. Auf gegenüber liegenden Straßenseiten, nicht weit voneinander entfern, begegnet man im Sommer 2012 zwei seltsamen Originalen, die gegensätzlicher nicht sein können. Beide sind bunte Vögel, aber in dieser Metapher erschöpfen sich schon die Gemeinsamkeiten.

Der über 91jährigen Thomas Gilzean trägt den traditionellen kniekehllangen Kilt aus 12 Meter kariertem Wollstoff, darüber eine Jacke, an der eine Reihe von Orden und Medaillen von seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg künden. In Ägypten, Bengasi und Libyen hat er gekämpft, vor Rommels Truppen musste er fliehen, die siebenmonatige Belagerung von Tobruk hat er überlebt, wurde dann in Burma stationiert und musste anschließend mit dem 30. Armeekorps bei der Befreiung von Belgien und Holland helfen. Kurz vor Kriegende war er noch bei der Ardennenoffensive dabei.

 

Heute sitz er im Rollstuhl und lässt sich gerne gegen eine Spende für kranke Kinder von den Touristen fotografieren. Dann nimmt er sogar sitzend noch Haltung an und – wenn man ihn höflich fragt, ob man ihn fotografieren darf – lächelt er freundlich und gänzlich unmilitärisch.

Ein paar Meter weiter steht ein wirklich bunter Vogel. Die in Brasilien geborene Elaine Davidson gilt laut Guinness-Buch der Rekorde als meistgepiercte Frau der Welt. Ihr Gesicht kann man kaum erkennen, weil es von Ringe und Ketten starrt. Sie selber sagt über ihr Aussehen, das einem auch bei Sonnenschein das Gruseln lehren kann: „Viele Leute wollen mich angucken oder anfassen; einige wollen mich sogar küssen.“

Wir überlassen solche Leute gerne ihrem selbst gewählten, gewiss schrecklichen Schicksal und informieren uns lieber im Internet. Wikipedia kennt die Details genau: „Ihr erstes Piercing bekam sie im Januar 1997 gestochen und trug am 13. Oktober 2004 bereits über 2.500 Piercings an ihrem Körper. Zuletzt zählte sie alleine im Gesicht 192 Piercings und 500 im Genitalbereich. Das Gesamtgewicht ihrer Piercings wird auf drei Kilogramm geschätzt. Im März 2012 trug sie 9000 Piercings.“

 

In ihrem Tropical Rainbow Paradise Shop in der Nicolson Street verkauft sie „leather, PVC, rubber, sexy underwear, collars, whips, chains; every kind of fetish, fantasy and roleplaying clothes“. Außerdem Schmuck, Postkarten und Fotos, auf denen sie mit ihrem Körperschmuck zu bewundern ist. Daneben arbeitet sie als Wahrsagerin und flicht unerschrockenen Zeitgenossen magische Zöpfe; auf der Straße lässt sie sich bei gutem Wetter von aller Welt geduldig anstarren. Wer sie verspotten will, sollte bedenken, dass sie als Judoka Trägerin des schwarzen Gürtels ist.

Worüber sie sich am meisten wundert? Dass sie bei den Kontrollen auf Flugplätzen ihre Armbanduhr abnehmen muss, bevor sie durch die Sicherheitsschleuse gehen darf. Elaine behauptet von sich, nicht zu trinken, nicht zu rauchen und keine Drogen zu nehmen. Wie gut, das zu wissen!

 

 

 

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