L'Ange du Méridien
Chartres

 

 

Wir stehen vor dem Westportal und schauen uns die drei Türen des Portal Royal an, die sich zum Mittelschiff der Kathedrale hin öffnen. Das rechte Portal zeigt uns im Tympanon die Geburt und das irdische Leben Christi, das linke die Himmelfahrt und das Mittelportal Christus als Himmelskönig. Die 19 großen Gewändefiguren, die wohl Vorfahren Jesu darstellen, gehören zu den schönsten Großplastiken der frühen Gotik und sind um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden.

 

  

 

Ich stelle mir vor, wie eine von ihnen herabsteigt, Flügel ausbildet und zur rechten Seite fliegt, wo an der Südwestecke des Alten Turms der Engel mit einer Sonnenuhr zu sehen ist. Diese Plastik weist mit den Figuren des Portals eine enge Verwandtschaft auf. Noch die Kopie ‒ das Original musste aus konservatorischen Gründen abgenommen werden und steht heute in der Krypta der Kirche ‒ zeigt ein feines Lächeln, das kaum merklich die jugendlichen Züge des Gesichts umspielt. Ich ahne etwas von der innerlichen Glückseligkeit, die der Engel durch Gesicht und Haltung ausstrahlt. Die Sonnenuhr mit der Jahreszahl 1578 wurde später hinzugefügt und ist vierhundert Jahr jünger als ihr Träger, der mit einem auf nichts fokussierten Blick über ihren Rand hinausschaut.

Der Engel blickt über den Platz im Süden der Kathedrale, wo die Tische eines Restaurants zum Verweilen einladen. Während unseres Mittagessens streifen meine Augen immer wieder den Engels, der im kalten Fallwind seines Turmes verweilt und mich an Verse erinnert, das ich vor Jahren einmal gelesen habe. Der Anblick dieses Engels nämlich hat Rainer Maria Rilke im Januar 1906 zu einem seiner bedeutendsten Gedichte angeregt:

 

  

L'Ange du Méridien

Chartres

Im Sturm, der um die starke Kathedrale
wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt,
fühlt man sich zärtlicher mit einem Male
von deinem Lächeln zu dir hingelenkt:

 

lächelnder Engel, fühlende Figur,
mit einem Mund, gemacht aus hundert Munden:
gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden
abgleiten von der vollen Sonnenuhr,

 

auf der des Tages ganze Zahl zugleich,
gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte,
als wären alle Stunden reif und reich.

 

Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
und hältst du mit noch seligerm Gesichte
vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?

 

Rilke, Neue Gedichte. Erster Teil

 

 

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