L'Origine du Monde

In einem der Ausstellungsräume des Musée d'Orsay hängt es seit einigen Jahren und erregt keine Skandale mehr. Saal 7 ist ganz dem realistischen Maler Gustav Courbet (1819-1877) gewidmet. Im hinteren Teil der Ausstellung findet man sein objet scandaleux zwischen zwei anderen Gemälden direkt unter dem Monumentalen Werk "Le rut du printemps, combat de cerfs" [Brunft im Frühling. Kampf der Hirsche]. Der 1866 für einen orientalischen Lebemann geschaffene Akt zeigt eine unbekleidete Frau, brutal oberhalb der halb entblößten Brüste abgeschnitten, die mit gespreizten Schenkeln dem Betrachter ihr von kräftigem Schamhaar umgebenes Genital darbietet. Ein links angebrachtes Schild nennt Maler, Entstehungsjahr und Titel: "L'Origine du Monde" von1866. Die Zahl 17 weist auf die entsprechende Station der Audioführung hin und damit auf die Bedeutung, die man mit diesem Werk verbindet.

Das Gemälde, das bis zu seiner Präsentation im Musée D'Orsay eine eigentümliche Geschichte der Camouflage aufweist, die der frühere Direktor der Gemäldesammlungen des Centre Pompidou, Werner Spiess, in einem interessanten Buch kompetent und eindringlich beschrieben hat, ist wohl das Objekt der vielen bedeutenden Museen der französischen Hauptstadt, das bei den meisten Besuchern die heftigsten Reaktionen hervorruft.

Manche zeigen gar keine Regung, andere werden aufmerksam, einige lachen. Während die Reaktionen einzelner Besucher eher zurückhaltend sind, werden Paare und Gruppen fast immer zur Kommunikation angeregt. Es gibt Besucher, die jede sichtbare Bewegung vermeiden und zunächst links die "Femme nue au chien" ansteuern oder sich zur rechts hängenden "Euphrasie Proudhon" wenden, um dann en passant auf das Zentrum zuzusteuern. Menschen aus Asien neigen dazu, überhaupt keine Reaktion zu zeigen; einige übersehen das Objekt auch angestrengt. Vielleicht wirkt hier das Tabu noch stärker als bei Europäern. Bei anderen vollzieht sich schon die Annäherung unterschiedlich; manche steuern gezielt darauf zu, gehen unvermittelt näher, riskieren einen Blick, zucken zurück und schlagen einen weiten Bogen, um aus sicherem Abstand einen zweiten Blick zu wagen. Dann blicken sie zu einem der anderen Bilder, die sie rechts oder links fixieren, mal scheint ihnen das darüberhängende wichtig, mal kehren sie zur Wandmitte zurück.

Auch wer betont uninteressiert erscheint, verrät durch Mimik oder Gestik seine Gefühle: man ist erstaunt, wirkt ungläubig, belustigt oder peinlich berührt. Kinder übersehen das Bild zumeist, wenn sie aber mit ihren Eltern kommen, zeigen sie oft spontan darauf und erwarten eine Erklärung. Paare reagieren fast immer, zumeist sind es die Frauen, die ihre Partner ansprechen. Junge Menschen wirken dabei spontaner als ältere.

Überhaupt scheinen Frauen freier als Männer, das Bild löst Aktivitäten aus, bestimmt sie, ihre Reaktionen anderen mitzuteilen. Viele weckt das Gemälde aus der stupiden Konsumhaltung beim Museumsrundgang. Es wird geredet, verhalten zumeist und leise, aber auch gelacht. Das Lachen scheint zu befreien. Männer reagieren weit verhaltener, zeigen sich oft befremdet, reagieren in Gruppen manchmal machohaft, wirken wohl auch ratlos.

 

Verliebte Partner, die Hand in Hand an dem Bild vorbeigehen, erinnern einander lebhaft an intime Erlebnisse und versichern sich durch innige Gesten ihrer gemeinsamen Gefühle.

 

 

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