Black lives matter

Oder: „Was kann denn dieser Mohr dafür, dass er so weiß nicht ist wie ihr?“

Ein Anti-Rassismus-Pamphlet vor 175 Jahren

 

Da spaziert ein kohlpechrabenschwarzer Mohr im helllichten Sonnenschein daher, als plötzlich drei Buben herbei rennen, das sind der Ludwig, der Kaspar und der Wilhelm. Die verspotten das Mohrchen, weil es so schwarz wie Tinte sei. Der große Niklas ermahnt sie, das zu unterlassen. Da die Buben aber nicht folgen, taucht er sie in sein großes Tintenfass. Sie müssen nun als schwarze Gestalten – viel schwärzer als das Mohrenkind – hinter ihm herlaufen.

 

  

 

So erzählt es uns der Arzt Heinrich Hoffmann in einem selbst gezeichneten Bilderbuch, das er seinem dreijährigen Sohn zum Weihnachtsfest 1844 auf den Gabentisch legte. Später wurde es unter dem Titel „Der Struwwelpeter“ veröffentlicht und schnell zu einem Bestseller des Bilderbuchs.

Hoffmann will seinen Sohn und alle Kinder zu Anpassung und Gehorsam erziehen, wie er es im Vorspruch ankündigt:

 

Wenn die Kinder artig sind,

Kommt zu ihnen das Christkind.

Wenn sie ihre Suppe essen,

Und das Brod auch nicht vergessen;

Wenn sie, ohne Lärm zu machen,

Still sind bei den Siebensachen,

Beim Spaziergehn auf den Gassen

Von Mama sich führen lassen,

Bringt es ihnen Gut's genug

Und ein schönes Bilderbuch.

 

 

Ermahnung, Strafe und Belohnung: Das sind die drei Grundprinzipien bürgerlicher Erziehung in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Zwei solcher Erziehungsinstanzen lässt Hoffmann leibhaftig auftreten, den Schneider, der mit seiner Schere dem Daumen-Lutscher-Bub die Hände verstümmelt und den großen Nikolas, der drei Buben in die schwarze Tinte taucht.

Der Name Nikolas lässt an den Heiligen Nikolaus denken, der in der lateinischen Kirche als Beschützer der Kinder verehrt wird. Um seinen Gedenktag am 6. Dezember hat sich manches Brauchtum entwickelt. Nikolaus bring Geschenke, prüft aber vorher im Auftrage der Eltern den Gehorsam der Kinder. Die Unartigen werden von ihm mit der Rute gestraft.

Hoffmanns Nikolas ist ein riesiger Kerl in roter Kutte und Mütze, fast fünfmal so hoch wie die Knaben, die er ermahnt und bestraft. Sein Schreibzeug deutet auf eine Belehr- und Erziehungsinstanz.

 

Das Mohrchen geht artig vor dem Tor spazieren und schütz sich vor der Sonne mit einem Schirm. Dann kommen die drei Knaben, schreien und verspotten es wegen seiner Hautfarbe: so schwarz wie Tinte.

Die Tinten-Metapher verlangt, dass der große Nikolas mit seinem großen Tintenfaß auf der Stelle herbeierzählt wird. Dieser ist auch augenblicklich da und missbilligt das Tun der Knaben: „Ihr Kinder, hört mir zu/ und laßt den Mohren hübsch in Ruh!/ Was kann denn dieser Mohr dafür,/ daß er so weiß nicht ist wie ihr?“

Die Buben aber hören nicht auf die Ermahnung „und lachen ärger als zuvor/ über den armen schwarzen Mohr.“ Die Strafe folgt der Ermahnung und Missachtung auf dem Fuße: Er tunkt sie in die Tinte tief.

 

  

 

Da der Ludwig, der Kaspar und der Wilhelm als Figuren in einer Bilder-Geschichte auftreten, werden sie schwarz erzählt, viel schwärzer als das Mohrenkind. Aus den Zeichnungen werden Silhouetten: Farbigkeit wird Schwarzweiß und Räumlichkeit zu Zweidimensionalität reduziert. Wie Scherenschnitte läuft der Zug der Tintenbuben nun dem Mohren hinterdrein. Die Moral von der Geschichte wird unter der Zeichnung mitgeliefert: und hätten sie nicht so gelacht,/ hätt' Niklas sie nicht schwarz gemacht. So fällt der Spott über den Andersartigen auf die Spötter selbst zurück.

Die zurzeit vieldiskutierte Kritik an dem Wort Mohr und seinen Komposita wie Mohrenkopf, Mohrenstraße oder Mohrenapotheke verkennt die wertneutrale Verwendung des Begriffs seit dem 17. Jahrhundert als Bezeichnung für Menschen aus Nordafrika (Mauren) und später für Menschen mit dunkler Hautfarbe allgemein. Hoffmanns Bildgeschichte entspricht dem Ziel der Black Lives Matter-Bewegung, die sich dagegen wendet, dass Schwarzen grundlegender Menschenrechte und der Menschenwürde beraubt werden.

 

 

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