Schneewittchen und die Prinzessinnen

 

Ludwig Richter: Schneewittchen

 

In Storms Märchendichtung treten sie immer wieder auf: Prinzessinnen, denen man nach dem Leben trachtet, die vertrieben, verfolgt und geraubt werden, und die ein Prinz oder noch besser ein Held aus dem einfachen Volk retten muss, um nach der Hochzeit selber König zu werden.

 

Bereits in seinem ersten Märchen „Hans Bär“, das er Ende 1837 für seine Jugendfreundin Bertha von Buchan schrieb, lässt er seinen Helden eine Riesen erschlagen, der eine Königsprinzessin gefangen hält. Das Motiv findet sich auch in den weiteren Märchen, die er in dieser Zeit gestaltete, „Der faule Hans“ und „Hans, der sich die Welt besieht“.

Der damals zwanzigjährige Student erzählte Bertha gerne Märchen, wie er in seinem Gedicht „Widmung“ im Frühjahr 1839 skizzierte:

 

 

 

Wohl hab’ ich alte Märchen dir erzählet

Vom Königskinde, das in Ketten liegt,

Und von dem Riesen, der sie arg bewachet,

Und von dem Ritter der das Tier besiegt.

Und wenn ich dir der Jungfrau Schmerzen malte,

Ich sah nur dich in jenen Ketten zagen;

Dann griff ich schwärmend zum gewicht’gen Schwerte

Und durft im Geist mein Leben für dich wagen.

Meine Gedichte (Storm-Archiv, Husum)

 

Das gemeinsame dieser Texte ist der Held, der hier Hans heißt. Er zieht hinaus in die Welt, erlebt Abenteuer, muss Prüfungen bestehen und wird durch die Hochzeit mit einer Prinzessin belohn. Während die beiden ersten Märchen vom Typus des „faulen Jungen“ sind, der trotz seiner Tollpatschigkeit hilfreiche Taten vollbringt, die dazu führen, dass seine Wünsche in Erfüllung gehen, tritt Hans in den übrigen als Held in Erscheinung. Die Quelle für Storms erstes Märchen war ein Text, den er zu dieser Zeit nach mündlichem Vortrag im nördlichen Dithmarschen aufgeschrieben hat; in ihm wird von einem starken Hans erzählt, der Löwen zu zähmen versteht und auf der Suche nach Zauberäpfeln zum Schloss der Riesen gelangt. In diesem Märchen, das Karl Müllenhoff in seiner Sammlung „Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ (Kiel 1845) unter dem Titel „Das blaue Band“ veröffentlichte, kommt eine Prinzessin in Ketten und ein Riese vor (da fand er da eine wunderschöne Prinzessin, die hatten die Riesen ihrem Vater geraubt und hier eingesperrt und mit dicken eisernen Ketten angeschlossen), nicht aber ein Ritter; den erfindet Storm in einer seiner Balladen, die in zeitlicher Nähe zu diesen Märchen entstanden ist: „Goldriepel“.

Auch dort führt der Erzähler einen Übermenschen vor, mit dem er sich identifizieren kann, während die Prinzessin nur ein blasses, untätiges Objekt der Befreiung und natürlich auch der Begierde ist. Der Ritter mit dem Schwert, von dem in „Widmung“ die Rede ist, darf sich in der Ballade austoben, die Storm 1841 in der Zeitschrift „Europa“ veröffentlicht hat. Die erste Strophe lautet:

 

„Was scheust du, mein Gaul! Trag mich hinauf
Zum Schloss, das am gähen Abgrund liegt;
Zur Königsmaid, die der scheußliche  Zwerg
In zaubertrüglichen Schlummer wiegt.“ ‒

„Goldriepel“ in: Lyrisches Album, Karlsruhe 1841, S. 30-32.

 

 

 

Auch in dem Gedicht „Weihnachtsgruß“, das Theodor im Dezember 1840 an Bertha schickte, erinnerte er sie an Märchen, die er für sie geschrieben oder ihr erzählt hatte.

 

Doch das Büchlein musst du schauen,
Bilderchen und fromme Lehrʼ,
Und voll heimlich süßem Grauen
Alte wunderbare Mär!

Von Schneewittchen bei den Zwergen,
Wo sie lebte unerkannt;
Und war hinter ihren Bergen
Doch die Schönstʼ im ganzen Land.

Von Hans Bärlein, der im Streite
Einen Riesenritter schlug,
Der die Königstochter freite,
Endlich gar die Krone trug.

 „Weihnachtsgruß“; Nachlass Bertha von Buchan (Storm-Archiv, Husum)

 

Offenbar hat er damals Bertha nicht „Sneewittchen“ von den Brüdern Grimm vorgelesen, sondern eigene Verse, die er später unter dem Titel „Schneewittchen. Eine Märchen-Scene“ im „Volksbuch auf das Jahr 1846 für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ veröffentlichte. Es handelt sich um die Szene, in der die Zwerge das schlafende Schneewittchen entdecken, es beschreiben und anschließend ihre Rolle innerhalb der Zwergengemeinschaft bestimmen.

Für wie bedeutsam Storm diese Verse hielt, zeigen weitere Abdrucke. Er veröffentlichte den Text erneut in seinem ersten selbständigen Buch „Sommer-Geschichten und Lieder“ (Berlin 1851) und nahm ihn 1852 in die Separatausgabe seiner „Gedichte“ sowie ab 1868 in die „Sämmtliche(n) Schriften“ auf.

Das fragmentarische Märchenspiel wurde durchaus wahrgenommen und geschätzt. Die Szene wurde am 15. April 1853 im Kindertheater am Friedrich Wilhelmstädter Theater in Berlin aufgeführt, Adalbert Stifter druckte ihn 1854 in seinem „Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen“ ab und 1878 erschien in der Zeitschrift „Deutsche Jugend“ sogar eine Abdruck mit einer Illustration von Eugen Klimsch.

 

 

Schneewittchen. Von Theodor Storm. Illustration von Eugen Klimsch

 

Als Storm in den 1850er Jahren seine ersten Novellen schrieb, wandte er sich anderen Stoffen zu und ersetzte die Prinzessinnen der Märchenzeit durch junge Frauen, die von den Protagonisten seiner Erzählungen umworben werden. Es entstanden realistische Novellen mit poetischen Schilderung von bedeutsamen Situationen, in denen der junge Autor gesellschaftliche und politische Veränderungen seiner Zeit in ihrer geschichtlichen Bedingtheit verfolgte und mit der unmittelbaren Erfahrung seiner kulturellen und sozialen Lebenswirklichkeit verband.

Um Prinzessinnen im wirklichen Leben war es Storm weniger zu tun: an seinen Freund Hartmuth Brinkmann schrieb er am 10. Januar 1864 aus Heiligenstadt „[…] ich sage Dir der Adel (wie die Kirche) ist das Gift in den Adern der Nation.“ Seit August 1856, also seit siebeneinhalb Jahren, lebte Storm mit seiner Familie im Eichsfeld und verfolgte gerade mit großer Aufregung die politischen Ereignisse im Vorfeld des Krieges zwischen dem mit Österreich verbündeten Preußen gegen Dänemark.

Es ging um die Selbstständigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein und um ihre Loslösung vom dänischen Gesamtstaat. Storm hoffte, nach einem preußisch-österreichischen Sieg wieder in seine Heimatstadt Husum zurückkehren zu können, die er Ende 1852 nach der gescheiterten Erhebung verlassen musste, da ihm die dänische Regierung wegen seines politischen Engagements für ein selbstständiges Schleswig-Holstein die erneute Bestallung als Rechtsanwalt verweigert hatte.

Seine Kritik am Adel entfaltete er in seiner 1862 entstandenen Novelle „Im Schloss“, in der er die alte orthodox-aristokratische Ideologie als Grund für den sittlichen und geistigen Niedergang bezeichnete und ihr das Lebensideal des Bildungsbürgertums entgegenstellte. Durch die Veröffentlichung in der auflagenstarken Familienzeitschrift »Die Gartenlaube« erreichte er eine so große Leserschaft im gesamten deutschsprachigen Raum wie mit keiner seiner bisherigen Erzählungen.

Zugleich sah er − ganz in der Tradition der Aufklärung − als Ursache für das Scheitern der nationalen Bewegung in ganz Deutschland das Versagen des Adels, dessen gesellschaftliche Privilegien er ablehnte und dessen herrischen Lebensstil und arrogante Selbstdarstellung er zutiefst verabscheute. Der Bürger Storm wollte in einem von bürgerlichen Demokraten regierten Gemeinwesen leben, in dem die deutsche Sprache frei zur kulturellen Entfaltung kommen konnte.

Trotzdem machte er Bekanntschaft mit Adligen in der preußischen Verwaltung, unter ihnen besonders Alexander von Wussow (1820-1889), mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Von Wussow wurde 1857 zum Landrat ernannt und wirkte bis 1864 im Kreis Heiligenstadt. Gerade diese Freundschaft, in die die Familien einbezogen waren, zeigt, wie deutlich Storm zwischen seiner Abneigung dem preußischen Adel gegenüber und seinen privaten Beziehungen zu einzelnen Adligen zu unterscheiden wusste. Galt ihm der Adel als Inbegriff der veralteten preußischen Herrschaftsstrukturen, so konnte er dennoch die Persönlichkeit von Wussows schätzen und in freundschaftlicher Verbindung von dem ganz anders gearteten Mann profitieren.

 

Einmal aber lernte Storm eine leibhaftige Prinzessin kennen. Das muss im Sommer oder Herbst 1865 gewesen sein, als sich die preußische Prinzessin Victoria, die spätere Kaiserin Friedrich, an ihn wandte. In einem Brief an den Pädagogen und Schriftsteller Franz Bauer (1910-1986), der für ein Märchenspiel „Schneewittchen“ eine Szene Storms verwendet hatte, schrieb Storms Tochter Gertrud am 3. September 1931 aus Hamburg: „Mein Vater schrieb sie [die Märchenszenen] in Potsdam. Viel später bat die Kaiserin Friedrich meinen Vater dieses Märchenspiel doch ein wenig weiter auszuführen.“ Ob es zu einer persönlichen Begegnung kam oder ob die Prinzessin dem verehrten Dichter einen Brief geschrieben hat, konnte bisher nicht geklärt werden.

„Kaiserin Friedrich“ nannte sich die preußische Prinzessin Victoria nach dem Tod ihres Gemahls Kaiser Friedrich III. im Dreikaiserjahr 1888. Victoria Adelaide Mary Louisa, Prinzessin von Großbritannien und Irland (1840-1901) war das erste Kind der britischen Königin Victoria und ihres deutschen Ehemanns Albert von Sachsen-Coburg und Gotha. Sie war sie 25 Jahre alt und durch die Vermählung mit Friedrich Wilhelm seit 4 Jahren preußische Kronprinzessin. Ihr Schwiegervater hatte als Wilhelm I. im Jahre 1861 nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm IV. die preußische Herrschaft übernommen.

 

Victoria, preußische Kronprinzessin, 1867, Gemälde von Franz Xaver Winterhalter

 

Victoria war eine gebildete Frau, die sich gemeinsam mit ihrem Ehemann gegen Bismarck und damit nach dem Sieg über Dänemark gegen eine Annektierung der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg durch Preußen aussprach.

Kronprinzessin Victoria begann sich im Vorfeld des Deutsch-Dänischen Krieges für eine bessere medizinische Versorgung verwundeter Soldaten zu engagieren. Anlässlich des Geburtstages von Wilhelm I. ließ das Kronprinzenpaar einen Hilfsfonds zugunsten der Familien gefallener oder schwer verletzter Soldaten einrichten.

 

Victoria 1865 mit ihren Söhnen Heinrich und Sigismund

 

Victoria galt als ungewöhnlich belesen, auch in der deutschen Literatur; ihre Bitte nach dem Märchenspiel setzt voraus, dass sie Storms Gedichte gelesen hatte. Storms Märchenszene „Schneewittchen“ schließt in allen Separatausgaben seiner Gedichte das erste Buch ab. Prinzessin Victoria hat wahrscheinlich die 4. vermehrte Auflage (Berlin 1864) der Gedichte Storms besessen, in der dieSchneewittchen“-Szene am Schluss der Märchen abgedruckt ist.

 

Gertrud Storm erinnert sich daran, dass ihr Vater von der Absicht der Prinzessin erzählt hatte, „die Kinder wollten es zum Geburtstag des alten Kaisers Wilhelm aufführen“. Ihr Schwiegervater, König Wilhelm I. von Preußen, der ebenfalls bei der Matinee der Viardot anwesend war, feierte am 22. März 1866 seinen 70. Geburtstag. Victoria hatte zu diesem Zeitpunkt 4 Kinder: Wilhelm (geboren 1859), Charlotte (1860), Heinrich (1862) und Sigismund (1864).

Im Herbst 1865, nach seiner Rückkehr von der Reise nach Baden-Baden und Berlin, begann Storm damit dem Wunsch der preußischen Prinzessin nachzukommen und erweiterte seinen Schneewittchen-Text um eine Szene, wobei er sich an seinem Manuskript aus dem Jahre 1838 orientierte. Dann aber muss er das Projekt aufgegeben haben, denn es sind keine weiteren Szenen bekannt. Auch hat er die Bitte der Prinzessin wohl nur im Familienkreis erwähnt. Die neue Szene hat er erst zwanzig Jahre später dem ursprünglichen Text in der 7. Auflage seiner Gedichte (1885) hinzugefügt.

Theodor Storm um 1865

 

 

 

  

„Schneewittchen“ in der 4. Auflage von Storms Gedichten (1864)

 

 

In den folgenden Abschnitten wird Storms Märchen-Dichtung vorgestellt und erläutert, soweit sie durch Motive der Grimmschen Märchen angeregt wurde; außerdem werden alle Textzeugen der „Schneewittchen“-Szenen ediert.