Bertha von Buchan liest „Hans Bär“

 

Das Weihnachtsfest 1836 verlebte Theodor Storm nicht im Kreis seiner Familie, sondern bei Verwandten in Altona. Im Herbst hatte der 19jährige seine Heimatstadt Husum verlassen und war gemeinsam mit seinem Freund Johann Peter Olhues nach Lübeck gegangen, um sich dort durch den Besuch des berühmten Katharineums auf sein Studium vorzubereiten.

Als Weihnachten herannahte, sehnte Storm sich danach, das Fest nach alter Tradition im Kreise der Familie zu verleben. Von Lübeck aus war der Weg nach Altona weniger beschwerlich als der nach Husum. In Altona wohnte er bei Jonas Heinrich Scherff (1798-1882), einem Kaufmann, der mit Friederike Henriette, geb. Alsen (1802-1876) verheiratet war, einer Cousine von Storms Mutter. Dort begegnete der Primaner einem kleinen Mädchen, der zehnjährigen Bertha von Buchan, die mit ihrer Pflegemutter Therese Rowohl in Hamburg wohnte und ebenfalls bei den Scherffs eingeladen war.

 

Bertha von Buchan als Siebenjährige, Fotografie nach einem Gemälde von E. Kistner vom Mai 1833

 

Bertha von Buchan entstammte einem böhmischen Adelsgeschlecht und wurde als Tochter des Kaufmanns Eduard von Buchan am 1. Februar 1826 in Rumburg geboren (heute Rumburk in Tschechien an der sächsischen Grenze). Ihr Vater war nach vornehmer Erziehung und Reisen nach Italien und Frankreich als vermögender und erfolgreicher Geschäftsmann viele Jahre in Mexiko tätig; seine Frau war kurz nach der Geburt ihrer Tochter Bertha gestorben, der Vater brachte das Kind 1830 nach Hamburg und gab es in die Obhut von Therese Rowohl (1782–1879), die unverheiratet war und mit ihrer Schwester Jette zusammenlebte. Er führte seine Geschäfte von Dresden aus, bis er einen Großteil seines Vermögens durch die Unredlichkeit seines Geschäftsteilhabers in Mexiko verlor. Danach betrieb er bis zu seinem Tode (1876) einen Kunsthandel in Dresden.

Gut vier Jahre später, am 11. März 1841 ‒ Bertha war nun 15 Jahre alt ‒, vertraute Storm Friederike Scherff Folgendes an: Seitdem ich sie an dem Weihnachtsabend gesehen hatte, den ich noch bei Lebzeiten Deiner vortrefflichen Mutter mit Euch verlebte, bildete sich ein Gedanke bei mir aus, dies Mädchen geistig an mich zu fesseln. Und jetzt muss ich Dir das Manchen vielleicht Unbegreifliche sagen, ich habe schon damals das Kind geliebt. (Aus dem Briefwechsel zwischen Theodor und Bertha, Storm-Archiv Husum)

Bertha sah er in diesem Jahr nicht wieder, aber er schickte ihr zum Weihnachtsfest 1837 einen Brief aus Husum, wo er das Fest im Kreise seiner Eltern und Geschwister verlebte. In dem Umschlag steckte ein Manuskript mit der Widmung: „Seiner jungen Freundin Bertha v. Buchan gewidmet vom Verfasser.“

 

  

Titel und Widmung in Storms Handschrift

 

Zu Theodors großer Enttäuschung musste er gut zwei Monate auf eine Antwort Berthas warten. In der zweiten Märzhälfte traf endlich der Dankesbrief in Kiel ein: Es ist doch ein recht guter Junge, der Hans, dass er niemals Böses mit Bösem vergilt; wenn er da im Brunnen sitzt und sich den Mühlstein als Pastorenkragen überhängt, das ist eine prächtige Szene! Dann hat er so ein dankbar treues Gemüt, das gefällt mir so, dass er immer auch im Glücke die Erinnerung an seine Bärenmutter nicht verloren hat; und dass er den ungeschlachten Riesen tötete, war sehr gescheut, was sollte der mit der schönen Prinzessin anfangen; sie war auch gegen die alte Bärin so freundlich liebevoll wie gegen Hansens Eltern, kurz, lieber Theodor, Dein Märchen ist hübsch und erbaulich, habe Du auch noch recht vielen Dank dafür.

 

Der Märchenheld Hans wird als besonders stark dargestellt; zunächst bereiten seine ungewöhnlichen natürlichen Kräfte den Eltern Pein, dann verleiht ihm die Pflegemutter zusätzliche Bärenkräfte. Hans löst sich als Heranwachsender von der einnehmenden Pflegemutter und zieht in die Ferne. Dort muss er sich seiner Haut wehren und kann schließlich eine Prinzessin gewinnen, die von einem Riesen begehrt wird. Der Schwiegervater nimmt ihn wohlwollend auf, und so kann geheiratet und eine Familie gegründet werden. Der erfolgreiche Held besucht seine Eltern und kann auch seiner Pflegemutter, der Bärin, bei ihrem letzten Gang beistehen.

Die Prinzessin wird nicht näher beschrieben, es heißt nur, sie sei schön. Hingegen zeichnet Storm ein auf den Helden konzentriertes Bild eines Übermenschen, das er nach der blassen Vorstellung der Prinzessin als ebenfalls schönen Menschen noch schnell nachliefert: Denn obgleich Hans Bär von großer Leibesstärke war, so war seine Schönheit doch nicht geringer, denn seine Stärke.

Bei der Niederschrift ließ er sich von den Grimm-Märchen „Das tapfere Schneiderlein“ (KHM 20) und „Der junge Riese“ (KHM 90) anregen, verwendete aber vor allem Motive aus dem Märchen „Das Blaue Band“, das 1845 in Karl Müllenhoffs Sammlung Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg im Druck erschien. Wahrscheinlich hat Storm diesen Text nach einer Erzählung bei einem Verwandtenbesuch  seiner Großeltern väterlicherseits im Kirchdorf Hohn östlich von Rendsburg gehört.

 

Dieter Lohmeier bewertet im Kommentar zu „Hans Bär“ (LL 4, S. 576f.) als Storms erste produktive Auseinandersetzung mit der Gattung des Märchens. In seiner Verbindung von Motiven des Volksmärchens, wie die Brüder Grimm sie in die Dichtung der Romantik eingeführt hatten, und familiärer Sentimentalität ist es ein recht bezeichnendes Produkt des literarischen Biedermeier. Es ist also aus derselben Kultur harmloser und bescheidener Bürgerlichkeit erwachsen, aus der der zwölf Jahre ältere Hans Christian Andersen seit der Mitte der 1830er Jahre bereits seine stilistisch viel raffiniertere Märchenkunst entwickelt hat.

Es ist durchaus möglich, dass Storm zu diesem Zeitpunkt bereits Andersens Märchen in der Originalsprache gelesen hat, denn in Hans Bär findet sich bereits einer jener Erzählerkommentare (wie ich dir sogleich erzählen werde), die Storm einige Jahre später nach Andersens Vorbild auch in seinem Märchen Der kleine Häwelmann verwenden wird.

Heinrich Detering (Detering 2011, S. 58 und 62) deutet diesen Text als eine Erzählung von seelischen und körperlichen Gewalten, die in familiale Strukturen integriert und so gebändigt werden sollen: von einer Aggressivität, deren Ziel die wiedergewonnene Kindlichkeit ist. Er weist auf die Funktion der Erzählung hin; das Märchen hat Storm nur für seine junge Freundin Bertha geschrieben und nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Alle Aggressivität dient in diesem Text letztlich dazu, eine Kindheit nachzuholen, die es nie gab. Die Erzählung davon inszeniert, als Geschichte von „Hans Bär“, den Schreiber selbst als den Triumphator seiner eigenen Größenphantasie und schreibt zugleich, als „Märlein“, seiner Freundin die Position eines märchenlesenden Kindes zu.