Das Blaue Band

 

Es war einmal ein Mann, der war sehr arm und krank dazu. Als er nun fühlte, dass er sterben sollte, rief er seine Frau an sein Bett und sprach zu ihr: „Liebe Frau, ich fühle, dass es mit mir zu Ende geht; nun würde ich ruhig und ohne Sorge sterben, wenn ich nur wüsste, dass es dir und unserm Hans nach meinem Tode gut ginge. Ich kann euch nichts hinterlassen, was euch vor Not schützen könnte; aber wenn ich gestorben bin, so geh du mit unserm Sohn zu meinem Bruder, der jenseits des großen Waldes in einem Dorfe wohnt. Das ist ein wohlhabender Mann und er ist immer brüderlich gegen mich gesinnt gewesen; der wird für euch sorgen.“ Darauf starb der Mann; und als er begraben war, begab die Frau sich mit ihrem Sohn auf den Weg zu dem Bruder, wie ihr verstorbener Mann ihr befohlen hatte. Aber die Mutter hasste den Sohn und war ihm feind auf alle Weise; Hans aber war ein guter Junge und schon ziemlich erwachsen. Als sie nun eine gute Strecke gegangen waren, lag da ein blaues Band am Wege. Hans bückte sich und wollte es aufnehmen, aber die Mutter sprach: „Lass doch das alte Band liegen; was willst du damit?“ Hans aber dachte: „Wer weiß, wozu es gut ist! Es wäre doch wirklich schade, wenn das schmucke Band hier liegen bliebe“; nahm es also mit und band es heimlich, damit seine Mutter es nicht gewahr würde, unter seiner Jacke um den Arm. Da ward er nun so stark, dass niemand, so lange er das Band trug, ihm etwas anhaben konnte und alle ihn fürchten müssten.

Nun gingen sie weiter und kamen in den großen Wald, und nachdem sie lange darin herumgewandert waren, gelangten sie an eine Höhle. Da stand da ein gedeckter Tisch, besetzt mit herrlichen Speisen in silbernen Schüsseln. Hans sprach: „Da kommen wir just zur rechten Zeit, mich hungerte schon lange; ich will mich erst einmal hier satt essen, das Essen scheint gut zu sein.“ Nun setzten sie sich nieder und aßen und tranken nach Herzenslust. Als sie eben gegessen hatten, kam der große Riese, dem die Höhle gehörte, nach Hause; er war aber ganz freundlich und sprach: „Das ist recht, dass ihr schon zugelangt und nicht erst auf mich gewartet habt; wenn's euch hier gefällt, so könnt ihr gerne für immer bei mir in der Höhle bleiben“, und zu der Frau sagte er, dass sie seine Frau werden könnte. Sie sagten beide ja dazu und nun lebten sie ganz vergnügt eine Zeit lang bei dem Riesen in der Höhle.

Der Riese gewann Hans von Tage zu Tage lieber; aber seine Mutter hasste ihn noch immer, und als sie merkte, wie stark er geworden wäre, ward sie noch grimmiger und sprach eines Tages zu dem Riesen: „Siehst du wohl, wie stark Hans ist? Er kann doch für uns gefährlich werden, je älter er wird und je mehr er an Kräften zunimmt. Dann kann es leicht soweit kommen, dass er uns tot schlägt, damit er die Höhle allein hat, oder er uns auch hinaus jagt. Es wäre besser und klug von dir, wenn du dich bei Zeiten vorsähest und bei Gelegenheit ihn über die Seite schafftest.“ Aber der Riese antwortete: „Sprich mir doch nicht so etwas vor! Hans ist ein guter Junge und wird uns nichts zu leide tun; ich werde ihm kein Haar krümmen, es würde mir übel anstehn.“

Als die Frau nun sah, dass der Riese nicht dazu zu bewegen war, legte sie sich den andern Tag aufs Bett und stellte sich krank. Dann rief sie ihren Sohn und sprach: „Lieber Hans, ich bin so krank, dass ich gewiss sterben werde. Aber ein Mittel gibt es noch, das mich retten kann. Mir hat geträumt, dass wenn ich von der Milch der Löwin, die hier nicht weit von uns ihre Höhle hat, einen Trunk erhalten könnte, ich gewiss genesen würde. Wenn du mich lieb hast, so könntest du mir helfen; du bist ja so stark und fürchtest dich nicht, du könntest hingehen und mir etwas Milch holen.“ „Jawohl, liebe Mutter“, antwortete Hans, „das will ich gerne tun, wenn ich nur weiß, dass es dir helfen wird“, nahm also einen Napf und ging in die Höhle der Löwin. Die lag da mit ihren Jungen und säugte sie. Hans aber legte die Jungen beiseite und fing an zu melken; das litt die Löwin ganz ruhig. Da aber kam der alte Löwe mit Gebrüll in die Höhle und fiel Hans von hinten an. Aber schnell wandte Hans sich um, nahm den Hals des Löwen unter den Arm und drückte ihn so fest an sich, dass er jämmerlich zu winseln anfing und ganz zahm ward. Da ließ Hans ihn los. Der Löwe legte sich in die Ecke und Hans molk weiter, bis die Schale voll war. Als er nun die Höhle verließ, sprang die Löwin hinter ihm her mit ihren Jungen und bald folgte auch der alte Löwe ihnen. So kam er zu seiner Mutter und brachte ihr die Milch; sie erschrak sich aber so vor den Löwen, dass sie rief: „Hans, bringe doch die wilden Tiere hinaus, sonst sterbe ich noch vor Angst.“ Da gingen die Tiere von selbst still hinaus, aber legten sich vor die Tür, und wenn Hans hinaus kam, so sprangen sie auf ihn zu und freuten sich.

Da nun dieser Anschlag der bösen Mutter so misslungen war, sprach sie wieder zu dem Riesen: „Wärest du gleich meinem Rate gefolgt, so hätten wir nun nichts mehr zu fürchten; jetzt aber steht's noch schlimmer als vorher, und da er nun die Tiere hat, werden wir so leicht ihm nichts anhaben können.“ Der Riese antwortete: „Ich weiß auch nicht, warum wir ihm etwas tun wollten. Hans ist ja gut und die Tiere sind zahm; ich möchte nicht Hand an ihn legen.“ Aber die Mutter sagte: „Es könnte ihm doch leicht in den Sinn kommen, uns zur Höhle hinauszujagen oder gar tot zu schlagen, um selber darin Herr zu sein; ich kann nicht glücklich sein, so lange ich das fürchten muss.“

Nach einiger Zeit legte die Frau sich aufs Bett und sagte wieder, sie sei krank. Sie rief ihren Sohn zu sich und sprach: „Ich habe wieder einen Traum gehabt, dass wenn ich ein paar von den Äpfeln essen könnte, die in dem Garten der drei Riesen wachsen, ich wieder gesund werden würde; sonst fühle ich, muss ich sterben.“ Hans sagte: „Liebe Mutter, weil dir so große Not drum ist, so will ich wohl zu den Riesen gehen und dir ein paar Äpfel holen.“ Er nahm nun einen Sack und machte sich sogleich auf den Weg und die Löwen sprangen alle hinter ihm drein; die böse Mutter aber dachte, dass er diesmal ganz gewiss nicht wiederkommen würde. Hans ging geradeswegs in den Garten und pflückte seinen Sack voll Äpfel; und als er das getan, aß er selber auch einige; aber darnach verfiel er sogleich in einen tiefen Schlaf und sank unter dem Baume nieder. Das kam allein von den Äpfeln, die diese Kraft hatten. Wären nun nicht die treuen Löwen bei ihm gewesen, so wäre es wohl um ihn geschehen. Denn sogleich stürmte ein großer Riese durch den Garten daher und rief: „Wer hat hier unsere Äpfel gestohlen?“ Hans schlief noch und antwortete nicht. Als ihn aber der Riese sah, lief er zornig auf ihn zu und wollte ihm den Rest geben, aber da sprangen die Löwen auf, fielen den Riesen an und in kurzer Zeit hatten sie ihn zerrissen. Nun kam gleich der zweite Riese und rief auch: „Wer hat hier unsere Äpfel gestohlen?“ und da er auf Hans los wollte, sprangen die Löwen auch auf ihn ein und zerrissen ihn. Darnach kam der dritte Riese und rief: „Wer stiehlt hier unsre Äpfel?“ Hans schlief noch immer, aber die Löwen packten auch diesen Riesen und machten auch ihn tot. Nun schlug Hans die Augen auf und ging im Garten umher. Da kam er bald in die Nähe des Schlosses, wo die Riesen gewohnt hatten, und nun hörte er, wie aus einer tiefen Kellerkammer eine klägliche Stimme hervorkam. Hans stieg hinab; da fand er da eine wunderschöne Prinzessin, die hatten die Riesen ihrem Vater geraubt und hier eingesperrt und mit dicken eisernen Ketten angeschlossen. Hans aber fasste kaum die Ketten an, so sprangen sie entzwei und er führte die schöne Prinzessin hinauf in die prächtigsten Zimmer des Schlosses. Da sollte sie sich erquicken und so lange warten, bis er wieder käme. Sie aber bat ihn, sie zu begleiten an ihres Vaters Hof. Aber Hans sagte: „Wir können es hier erst noch aushalten; jetzt muss ich hin und meiner Mutter die Äpfel bringen; denn die ist sterbenskrank.“ Hans ließ also die Prinzessin auf dem Schlosse, nahm seinen Sack mit den Äpfeln und ging nach der Höhle zu rück zu seiner Mutter. Als die ihn kommen sah, wollte sie sich fast tot wundern, dass ihm nichts geschehen sei und er die Äpfel brächte; sie fragte gleich, wie er doch alles habe durchmachen können. „Ja, liebe Mutter“, sagte er, „seit ich das blaue Band trage, das ich nicht mitnehmen sollte, seit der Zeit bin ich so stark, dass niemand mir was anhaben kann; diesmal haben meine Löwen alle die Riesen tot gemacht. Nun aber sollt ihr mit mir kommen und diese alte Höhle verlassen. Wir wollen jetzt auf dem Schlosse in Herrlichkeit und Freuden leben; ich habe da auch eine wunderschöne Prinzessin gefunden, die soll noch bei uns bleiben.“ Die Mutter und der Riese zogen nun mit Hans auf das Schloss; aber als sie alle die Herrlichkeit gewahr wurden und sahen wie schön die Prinzessin war, da gönnten sie Hans sein Glück noch weniger als früher. Die Mutter lauerte nur immer auf eine Gelegenheit, Hans beizukommen. Denn nun wusste sie ja, woher er seine Kraft hatte. Als daher eines Tages Hans in seinem Zimmer auf dem Bette lag, sich zu ruhen, und sein Band hing auf einem Nagel an der Wand über ihm, so schlich sie sich leise herein und stach ihm, ehe er erwachte, beide Augen aus; dann nahm sie ihm das Band, und da Hans nun blind und hilflos war, stieß sie ihn zum Schlosse hinaus und sagte, von nun an wolle sie allein darin Herr sein. Der arme Hans wäre bald verschmachtet, wenn nicht die treuen Löwen die Prinzessin zu ihm geführt hätten. Die zog nun mit ihm fort und führte ihn; denn sie wollte ihres Vaters Reich aufsuchen und hoffte da Heilung für ihren Retter zu finden. Aber der Weg war weit und lange irrten sie umher. Endlich aber kamen sie in die Nähe der Stadt, wo der Vater der Prinzessin wohnte. Da sah die Prinzessin einen blinden Hasen vor ihnen über den Weg laufen und wie er an einen Bach kam, der vorüber floss, tauchte er dreimal unter und lief sehend wieder fort. Da führte sie Hans an das Wasser, und wie er sich dreimal untertauchte, konnte auch er sehen wie vorher. Nun gingen sie voller Freuden in die Stadt, und als der alte König erfuhr, dass Hans seine Tochter befreit hätte, wollte er keinen andern Schwiegersohn haben als ihn, und die Prinzessin nahm auch keinen lieber zum Mann, als gerade Hans. Als aber seine Mutter das erfuhr, dass Hans sein Gesicht wieder bekommen und die Prinzessin geheiratet hätte, ward sie vor Ärger plötzlich krank, und diesmal war's ernst und sie musste daran. Bald darauf starb auch der Riese. Als man nun unter ihrem Kopfkissen nachsah, fand man da das blaue Band wieder und Hans trug es von nun an sein Leben lang und legte es niemals ab. Er folgte später seinem Schwiegervater in der Regierung und war als König weit und breit von allen Feinden sehr gefürchtet, als ein rechter Schutz seines Landes.

Müllenhoff 1845, S. 216ff. mit dem Hinweis: Aus Marne. Das Märchen ist leider lückenhaft.