Schneewittchen. Märchen-Scenen

 

Die Schneewittchen-Szenen wurden von der Storm-Forschung bisher als unbedeutende Nebenarbeit des Dichters betrachtet. Sie spielen aber in seiner lyrischen Entwicklung doch eine gewisse Rolle.

Einen ersten Hinweis auf die Märchenszenen enthält ein Brief, den von Bertha von Buchan am 7. Oktober 1838 aus Hamburg an den Studenten geschrieben hatte, der sich am 12. Mai 1838 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität immatrikuliert hatte und zu dieser Zeit nicht weit vom Brandenburger Tor in der Behrenstraße wohnte: Mein lieber Theodor, Du hast zwar versprochen, mir zuerst wieder zu schreiben, indessen da Mutter Dir Dein, bei uns vergessenes, Manuskript nach zu schicken gedenkt, so benutze ich die Gelegenheit Dir ein paar freundliche Zeilen beizulegen. (Bertha von Buchan an Th. Storm, Brief vom 07.10.1839, Storm-Archiv, Husum)

Theodor schrieb Bertha regelmäßig Briefe und legte immer wieder einige seiner Gedichte bei. Die Bekanntschaft mit dem fantasievollen und aufgeweckten Mädchen bot ihm Gelegenheit, sein poetisches Talent auf einen Punkt zu konzentrieren. Ganz offensichtlich war die heranwachsende Bertha für mehr als fünf Jahre die Muse des jungen Dichters, die ihn zu vielen Versen anregte und zu ersten Erzählversuchen anspornte.

Das bei uns vergessene Manuskript enthielt die erste Fassung von Märchenszenen zu Schneewittchen, aus dem Theodor Bertha zu Ostern vorgelesen hatte. Dies bestätigt auch eine Strophe des Gedichts „Weinachtsgruß“, das Theodor im Dezember 1840 an Bertha schickte und in dem er sie an seine Märchen erinnerte, die er für sie geschrieben oder ihr erzählt hatte: Von Schneewittchen bei den Zwergen,/ Wo sie lebte unerkannt;/ Und war hinter ihren Bergen/ Doch die Schönst’ im ganzen Land. Eine fragmentarische Handschrift mit einem Prolog und einer wieder gestrichenen Szene hat sich im Storm-Nachlass erhalten.

Sebastian Schmideler schließt aus dem Prolog des Dichters, dass Storm mit seinem Singspiel das Grimmsche Märchen (KHM 53) zu einem Mummenschanz adaptieren wollte. In der ersten Szene lässt er die Königin, der Jäger und die Stimme des Spiegels auftreten. Der Textentwurf ist eine Kombination von lyrischer und epischer Dichtung und skizziert ein karnevaleskes Verwandlungsspiel, das Storm aber wieder verwirft.  Diese von Storm intendierte Metamorphose der Lebensalter sollte sich gleichsam im Bild des Zwerges spiegeln, das in seiner spezifischen Gestalt sowohl die Kleinheit des Kindes als auch das Alter des Erwachsenen zeigt. Zugleich wird bereits in diesem Entwurf eines Prologs implizit Storms ästhetischer Anspruch an die Doppeladressiertheit kinder- und jugendliterarischer Stoffe deutlich, die Kinder ebenso wie Erwachsene ansprechen sollen. Dieser Forderung wird wiederum in der Wahl dieses Grimmʼschen Märchens zur dramatischen-lyrischen Adaption explizit. (Schmiedeler 2012, S. 20)

Neben diesen Skizzen gab es noch eine weitere Szene, die von Storm 1845 im „Volksbuch auf das Jahr 1846 für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ veröffentlichte. Die erweiterte Handschrift ist nicht erhalten, nur der handschriftliche Hinweis: Schneewittchen ist geschrieben, als ich als junger Advokat im Hause des verst<orbenen> Agenten Schmidt wohnte. Es war im Winter. Mutter war damals meine Braut u<nd> zum Besuch bei den Großeltern. Die vorhergehenden Verse stammen aus meiner Studentenzeit, nachdem ich von Berlin wieder in Kiel war. (J. A. Stargardt, Berlin; Katalog 681, Auktion vom 28. und 29. Juni 2005, Losnummer 313). Die Notiz steht auf einem Blatt, das aus einem Buch herausgerissen wurde; wahrscheinlich handelt es sich um eine Separatausgabe der „Gedichte“, die Storm an eines seiner Kinder verschenkt hat. Sowohl dort als auch in Band 1 der Werkausgabe im Verlag Westermann steht die „Schneewittchen“-Szene immer am Ende von Buch 1, dem rechts eine freie Seite folgt.

Auch für diese Szene, die also Anfang April 1843 niedergeschrieben wurde und in der die Zwerge das schlafende Kind finden und von ihrem Schicksal erfahren, übernimmt Storm Motive der Brüder Grimm. Die Zwergenszene hat Storm aus der Vorlage übernommen; er erotisiert Schneewittchen in derselben Art, wie er in seinen Gedichten für Bertha das Kind als herangewachsene Jungfrau beschreibt. Heißt es bei den Brüdern Grimm nur was ist das Kind schön!, wird daraus bei Storm eine detaillierte Beschreibung des „liebe(n) Tausendschön“, das trotz der inflationären Verwendung des Diminutives kein „Kind“ mehr ist: Geschlossen ist der Äuglein Licht,/ Hinabgerollt die Locken dicht;/ Über des Mieders blanke Seide/ Gefaltet fromm die Händchen beide. […] Ist Alles so gar lieb und fein,/ So rosenrot, schneeweiß und rein! [..] Schau, schau! Die Wimper regte sich./ Das Mündlein rot bewegte sich./ Das blonde Köpfchen reckt sich auf,/ Zwei blaue Äuglein schlägt sie auf!

Das Lied, das die Zwerge beim ihrem Abgang singen, hat Storm, ohne diese Übernahme zu kennzeichnen, aus dem ersten Märchen der Brüder Grimm „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ (KHM 38) übernommen. Es erzählt, wie der alte Fuchs sich aus Eifersucht tot stellt, um die Treue seiner Frau zu prüfen. Während Frau Füchsin sich einschließt und weint, kocht die Magd Jungfer Katze in der Küche. Sie empfängt die Freier und berichtet Frau Füchsin, die nach den Eigenschaften fragt, die ihr Mann hatte.

Da hörte die Magd das jemand vor der Haustüre stand und anklopfte; sie ging und machte auf, und da wars ein junger Fuchs, der sprach

„was macht sie, Jungfer Katze?
schläft se oder wacht se?“
Sie antwortete

„ich schlafe nicht, ich wache.
Will er wissen was ich mache?
Ich koche warm Bier, tue Butter hinein:
will der Herr mein Gast sein?“

„Ich bedanke mich, Jungfer,“ sagte der Fuchs, „was macht die Frau Füchsin?“ Die Magd antwortete

„sie sitzt auf ihrer Kammer,
sie beklagt ihren Jammer,
weint ihre Äuglein seidenrot,
weil der alte Herr Fuchs ist tot.“

„Sag sie ihr doch, Jungfer, es wäre ein junger Fuchs da, der wollte sie gerne freien.“ „Schon gut, junger Herr.“

Da ging die Katz die Tripp die Trapp,
Da schlug die Thür die Klipp die Klapp.
„Frau Füchsin, sind Sie da?“
„Ach ja, mein Kätzchen, ja.“
„Es ist ein Freier draus?“
„Mein Kind, wie sieht er aus?“

Die Hochzeit der Frau Füchsin. Erstes Märchen. Grimm 1837, S. 236f.

Storm skizziert zwar eine kindliche Idylle, in ihr wird allerdings die zukünftige Rolle des Mädchens als Hausfrau geschildert wird. Es gibt einen aufsichtführenden Zwergenältesten, der autoritär-patriarchische Erziehungsfunktionen ausübt und den kindlich-schwatzhaften, neugierigen Zwergen zahlreiche Anweisungen gibt. Sein Redeanteil in der Szene korrespondiert auffällig mit demjenigen Schneewittchens, so dass der Zwergenälteste von Storm komplementär zur Heldin in der Rolle des männlichen Protagonisten herausgestellt wird. Ja, man erkennt hier Theodor erneut als den um sie werbenden Erzieher seiner künftigen Braut Bertha. Schneewittchen soll „Morgens beim Dämmerschein“ fleißig ihre Tagesarbeit im Haus verrichten, während „draußen im goldenen Sonnenschein“ die „süßen Rehe springen". Sie wiederholt die Aufgaben, die ihr der Zwergenälteste aufgetragen hat, in allen Details und zeigt sich so als gelehrige Schülerin.

Bei diesen Versen orientierte sich Storm formal an der 1836 publizierten Ballade „Die Heinzelmännchen“ von August Kopisch, in der es heißt:

Wie war zu Cölln es doch vordem,
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul: .... man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:

Da kamen bei Nacht,
Ehe manʼs gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften
Und zupften
Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten .....
Und eh ein Faulpelz noch erwacht, ...
War all sein Tagewerk ..... bereits gemacht!

Kopisch 1836, S. 98-102.

Durch die Kombination des Liedes aus dem Märchen „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ mit dem zeittypischen Mädchen-Erziehungsideal wird der Zusammenhang der Märchenhandlung mit Berthas Erziehung und der Absicht Theodors, sie zu freien, überdeutlich dargestellt. Wenn man davon ausgeht, dass Bertha eine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen besaß und fleißig darin las, so konnte Theodor darauf setzen, dass sie der Abspielung auf den künftigen Freier deuten konnte. Vielleicht hat er ihr sogar Grimms „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ vorgelesen, denn im Gedicht Weihnachtsgruß heißt es vor der Erwähnung von Schneewittchen auch noch: Doch das Büchlein musst du schauen,/ Bilderchen und fromme Lehrʼ,/Und voll heimlich süßem Grauen/ Alte wunderbare Mär!

Liest man beide Szenen als Einheit, so zeigt sich, dass Storm zwei extreme Welten einander entgegensetzt. In der Hütte der Zwerge erfährt Schneewittchen die heile, helle Welt des Lebens und des Lichts. Sonne, Mond und Sterne werden ebenso wie die sanften Tiere ihre Spielgesellen in einer friedfertigen Natur. Dagegen wird der königliche Hof als Reich der Finsternis und des Todes charakterisiert. Die Königin kommuniziert mit dem schwarzen Raben, der als Todesvogel gilt. Sie glaubt, der böse Wolf habe ihre vom Jäger abgestochene Stieftochter gefressen. Kennst Du im Wald die Stelle nicht/ Ein Blümlein blüht in Purpurglut,/ Die Würzlein tranken so rotes Blut;/ Das Maidlein hat der Wolf geküsst/ Der Wolf weiß, wo Schneewittchen ist.

Storm zitiert noch einmal aus einem Märchen der Brüder Grimm, nämlich aus „Rotkäppchen“ (KHM 26).

 

Man kann dies als Warnung des jungen Mädchens vor Übergriffen gewalttätiger Männer lesen. In diesem Sinne hat Charles Perrault seiner Fassung des Märchens „Le Petit Chaperon rouge“ bereits im Jahre 1697 folgende Moral beigegeben: Man warnt hiermit die kleinen Kinder,/ Und junge Mädchen auch nicht minder,/ Wenn sie schön und reizend sind,/ Nicht zu glauben so geschwind,/ Was so ein Wolf von böser Art/ Ihnen flüstert sanft und zart;/ Denn es gibt der Wölfe viel,/ Die nur treiben böses Spiel/ Und die Kinder gern verderben,/ Dir dann ohne Rettung sterben.

Charles Perrault: Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités: Contes de ma mère l'Oye (Paris, 1697). Hier die deutsche Übersetzung aus „Neues Mährchenbuch für Knaben und Mädchen von Carl Perrault und Madame d'ʼAulnoy. Herausgegeben von Julius Grimm. Berlin 1852, S. 8.

 

 

Wie mag Therese Rowohl, die Pflegemutter von Bertha diese Lesung aufgenommen haben? Im Palast der Stiefmutter herrschen nicht Lebenszugewandtheit und göttliche Gnade, sondern diabolischer Neid, Zwietracht, Bosheit, Hass und Missgunst. Das Figureninventar dieses Bildes trachtet demjenigen des ersten Bildes nach dem Leben. Gemäß dieser Gut-Böse-Dichotomisierung herrschen Lebensfeindlichkeit und Grobianismus vor. Die Königin spricht besserwisserisch zum Spiegel „Ei, Spieglein, redʼ nicht so unnütz!“, sie vertraut auf diabolische schwarze Magie: „Wenn sie des Jägers Speer nicht trifft,/ So hilf mir, Zaubertrank und Gift!“

Theodor erlebte Berthas Pflegemutter zunächst als liebevolle Behüterin des ihr anvertrauten Kindes; als er im Frühjahr 1841 spürte, dass die vierzehnjährige Bertha seine Liebe nicht erwiderte, schrieb er an Therese Rowohl: Selbst übrigens, wenn alles anders wäre, als es wohl eben ist, wenn Bertha mich liebte und sich nicht der Mutter vertraut hätte, so liegt darin nichts was zu tadeln wäre, sobald sie mir ganz vertraut; denn wenn sie mich liebt, so muss sie mir sich selbst und auch die Lösung der Verhältnisse überlassen; wenn sie mich liebt, so stehe ich ihr über der Mutter, und wenn sie glaubt, die Mutter, werde ihre Liebe verhindern, so betrügt sie mich wenn sie durch unzeitige Geständnisse dazu beiträgt, dies zu realisieren. (Theodor Storm an Friederike Scherff, Brief vom 22. März 1841)

Vielleicht ahnte er schon eineinhalb Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Bertha, dass die Pflegemutter sich später zwischen ihn und sein geliebtes Kind stellen würde, allerdings nicht nur, um sie vor dem begehrenden Mann zu schützen, sondern auch, um eine aufkeimende Liebe zu unterdrücken. Dann symbolisiert die böse Stiefmutter jene Instanz, die sich zwischen den Freier und die junge Geliebte stellt und die die nun attraktive Tochter nicht aus der mütterlichen Bevormundung entlassen will. Prinzessinnen-Mütter meinen besser zu wissen, was der Tochter gut tut und zwängen sie in ein mütterliches Korsett ein. Sie könne nicht akzeptieren, dass die Töchter schöner und attraktiver werden, als sie selbst es sind. Wenn die Mutter die Tochter so einschnürt, dass ihr die Luft ausgeht, so geschieht das aus Angst. Sie versucht, das den Kinderschuhen entwachsene Mädchen über die Kindheit hinaus an sich zu binden, um sie nicht an einen Mann zu verlieren. Genau diese Ahnung bestätigte sich in den Jahren 1841/42, als Theodor vergeblich um die erotische Zuneigung Berthas kämpfte und erleben musste, dass die Pflegemutter die Korrespondenz mit Bertha kontrollierte und sich ohne Berthas Wissen über das Verhältnis der beiden gegenüber Theodor äußerte.

Der Text dieser Märchen-Szene wurde später in die Sammlung Sommer-Geschichten und Lieder (Storm 1851) aufgenommen und dann in die Gedichte 1852 eingegliedert, wo er bis zur 6. Auflage 1880 das erste Buch abschließt. Ein im Storm-Nachlass erhaltener Theaterzettel in der SHLB, Kiel: „Schneewittchen und die sieben Zwerge. Dramatische Märchenszene in 1 Act von Theodor Storm.“ belegt, dass die Szene am 15. April 1853 im Kindertheater am Friedrich Wilhelmstädter Theater in Berlin aufgeführt wurde.

Theaterzettel „Schneewittchen und die sieben Zwerge. Dramatische Märchenszene in 1 Act von Theodor Storm.“

In einem Brief aus Potsdam an seine Eltern vom 23.4.1855 schreibt Storm: Vor einiger Zeit waren wir mit Hans und Ernst in Berlin. In dem Friedrich-Wilhelm-städtischen Theater wurde außer einem andern Märchendrama „Schneewittchen, eine Märchenscene von Theodor Storm“ gegeben. Da sah ich zum ersten und wahrscheinlich auch zum letzten Mal meinen Namen groß gedruckt an allen Ecken Berlin’s. Hans und Ernst beklatschten das Werk ihres Vaters nach Verdienst, und um 8 Uhr Abends waren die Kinder, voll der empfangenen anmutigen Eindrücke, wieder zu Haus. Diese Vorstellungen, in denen nur Kinder spielen, dauern von 4-6 Uhr. Mit Überraschung sah ich übrigens, wie richtig für die Darstellung ich diese Kleinigkeit geschrieben. (Briefe Eltern, S. 57.)