Das Tor zur anderen Welt

 

Die Kinder schlenderten unbekümmert den sonnenbeschienenen Weg entlang, der zwischen den jungen Tannen auf der linken und den alten Buchen auf der rechten Seite durch den kleinen Wald führte. Eigentlich war es kein richtiger Wald, denn die kleine Ansammlung von Bäumen konnte man in wenigen Minuten durchqueren. Die Jungen liefen an der Spitze, sie wollten als erste den Sportplatz erreichen, auf dem das Fußballspiel stattfinden sollte. Die Mädchen folgten in kleinen Gruppen. In der Ferne hörten sie das Grollen eines nahenden Gewitters. Silja, Marie und Nele waren etwas zurückgeblieben und sammelten Tannenzapfen. Sarah war hinter einem Schmetterling hergelaufen und stand jetzt mitten auf auf dem Weg in einen Tagtraum versunken. Eine scharfe Windboe riss sie jäh auf ihren Traumbildern. Erschrocken blickte das Mädchen zum Himmel empor: Die Sonne schien noch immer auf das frische Grün herab, aber die schwarzen Wolkenberge, die sich von Nordwesten heranschoben, beunruhigten sie.

Herr Becher rief alle mit lauter Stimme zusammen, zeigte nach Norden und sagte: „Gleich kommt ein Gewitter. Wir gehen zur Hütte und stellen uns da unter!“

Alle trotteten hinter ihrem Klassenlehrer her, das sah Sarah genau. Der ersten Windböe waren weitere gefolgt und es wurde merklich kühler. Die Sonne war längst hinter der dicken Wolkenbank verschwunden, die schon den größten Teil des Himmels bedeckte. Sarah wollte sich gerade dem Zug anschließen, als ein greller Blitz aus einer schwarzen Wolke zuckte. Schnell hielt sie sich beide Ohren zu, da krachte auch schon der Donner so laut, dass ihre kleiner Körper erschüttert wurde. Marie und Nele waren zwischen den Bäumen herausgekommen und standen nun auch auf dem Weg, nur Silja ließ sich bei der Suche nach den prächtigsten Zapfen nicht stören. Erst als Marie laut nach ihr rief, kam sie zu den drei Freundinnen.

„Wir sollen zu Hütte laufen und uns dort unterstellen“, sagte Sarah. „Die anderen sind bestimmt schon da.“

Die Mädchen blickten den Weg entlang, konnten aber keinen aus ihrer Klasse mehr sehen. Wieder zuckte ein Blitz und der schnell folgende Donnerschlag zeigte an, dass das Gewitter nicht mehr weit entfernt sein konnte.

„Los, wir müssen zur Hütte laufen, sonst werden wir nass!“ rief Silja.

Die anderen folgten ihr. Aber es war zu spät. Sie waren kaum hundert Meter gelaufen, als der Regen unvermittelt losbrach. Das war kein Regen, das war ein Unwetter! Zuerst platschten riesige Tropfen, dann schoss das Wasser in Strömen vom Himmel. Blitze zuckten, Donner krachte und es wurde ganz dunkel. die vier waren schnell durch und durch nass und stoppten ihren Lauf, denn sie konnten den Weg nicht mehr sehen.

„Kommt, wir stellen uns unter!“ rief Marie, der das Wasser in Strömen über das Gesicht lief. „Da unter dem großen Baum.“

„Nein!“ widersprach Silja, „das darf man bei Gewitter nicht. Bäume ziehen Blitze an.“

Auf dem Weg aber konnten sie auch nicht bleiben, denn zu allem Überfluss begann es nun auch noch zu hageln; dicke Eisklumpen schlug überall durch die Blätterdächer der Bäume und klatschten auf den Weg. Dann wurden sie selbst von Hagelkörnern getroffen, und das tat ganz schön weh! Sarah begann zu weinen, zeigte es den anderen aber nicht.

Nele rief: „Wo sollen wir denn hin? Hier gibt es doch nur Bäume!“

Plötzlich sah Silja ein paar Meter rechts hinter einigen Baumstämmen große Steinbrocken.

„Da können wir uns unterstellen!“ rief sie, und gleich jagten die vier los und erreichten die Steine in wenigen Minuten. Tatsächlich öffnete sich eine kleine Höhle, in die sich hinein drängten und in der es trocken zu sein schien.

Sie waren keine Minute zu früh in ihren neuen Unterschlupf gekrochen, denn jetzt ging das Unwetter erst richtig los. Ein wahres Feuerwerk von Blitzen tauchte den dunklen Wald in grelles Licht und mächtiges Donnergrollen erschütterte selbst die Steine, unter denen sie Schutz gesucht hatte. Sie konnten nun schemenhaft die Umrisse der kleinen Höhle erkennen, in der sie ängstlich hockten. Es war kalt geworden, ungemütlich kalt und sie froren in ihren nassen Kleidern. Die vier Mädchen klammerten sich aneinander und wussten nicht, war sie tun sollten.

So hockten sie eine ganze Weile, hielten sich die Ohren zu und hatten die Augen geschlossen, denn das Gewitter tobte draußen weiter und tauchte die Welt in einen Abgrund aus Licht und Lärm, dass die vier meinten, es nicht länger aushalten zu können.

Aber genau so schnell, wie es gekommen war, ging das Gewitter auch vorüber; sie sahen keine Blitze mehr, das Grollen wurde leiser und draußen schien es auch wieder hell zu sein. Silja steckte als erste den Kopf vorsichtig aus der Steinhöhle und sah hinaus. Die Sonne brach gerade durch die Wolken, der Regen hörte auf und nun konnten sie auch wieder die Vögel hören, die ihren Gesang während des Gewitters ganz eingestellt hatten. Die Mädchen krochen aus der Höhle hinaus und standen mitten in einem Wald, der ihnen gänzlich unbekannt vorkam.

„Wo ist der Weg?“ fragte Marie.

Sie suchten und fanden den Weg nicht.

„Ich weiß ganz genau, dass wir von hier gekommen sind“, behauptete Silja. „Das waren nicht mehr als zehn Schritte bis zu den Steinen!“

Sie suchten in einer anderen Richtung, konnten aber auch hier keinen Weg finden.

Sie blickten sich genauer um und nun erst sahen sie, dass sie am Rande einer großen Lichtung standen. Die Steine, die ihnen Schutz vor dem Unwetter gewährt hatten, bildeten eine Art Haus, denn die senkrecht in zwei Reihen aufgestellten Blöcke wurden oben durch quer gelegte Steine gekrönt. So bildete das ganze eine längliche Höhle oder eine steinerne Hütte.

„Das sieht aus wie ein Hünengrab“, sagte Marie.

„Hu, dann haben wir in einem Grab Schutz vor dem Gewitter gesucht“, meinte Nele.

„Wir waren also lebendig begraben“, witzelte Silja. „und nun sind wir auferstanden und lassen uns von der lieben Sonne die Haare und unsere Kleider trocknen!“ Sarah breitet die Arme aus und drehte sich um sich selber.

„Das ist nicht die richtige Gelegenheit zum Tanzen“, meinte Marie, „tanzte können wir, wenn wir den Weg zu den anderen gefunden haben“

Sie brachten ihre Sachen so gut es eben ging in Ordnung und sahen sich noch einmal um. Gewaltige Baumriesen standen rings umher. Sie streckten ihre mächtige Stämme in den blauen Himmel und waren viel größer als alles, was sie bisher gesehen hatten. Die Stämme versperrten ihnen den  Blick in den umgebenden Wald. Stämme und Äste waren von dickem Moos bedeckt und von einigen hingen giftig grüne Lianen herab, dick wie Seile und von faserigen Schuppen bedeckt. Sie hörten ein scharfes Krächzen und sahen einen riesigen Vogel über die Lichtung schweben.

Auch das Gras unter ihren Füßen hatte sich verändert; alles war viel üppiger geworden, viel größer und viel grüner. Aber das Grün gefiel ihnen gar nicht. Dazwischen wuchsen seltsame Blumen, wie sie sie noch nie gesehen hatten; Silja pflückte eine der purpurroten Blütenkelche und verstaute ihn in ihrem Rucksack.

Plötzlich schrie Nele laut auf. Vor ihren Füßen glitt eine große braune Schlange durch das Gras und schnellte mit kräftigen Ringelbewegungen an einem der Baumstämme hinauf.

Sie hatten sich kaum von ihrem ersten Schrecken erholt, als ein schrilles Trompeten sie erneut ängstigte. Dann war ein lautes Krachen und Brechen von Holz zu hören und irgendein Schatten schob sich zwischen den Baumriesen hindurch und trat auf die Lichtung. Die Mädchen hatten sich blitzschnell hinter das steinerne Höhlenhaus geflüchtet und von dort sahen sie ein mächtiges Tier hervorkommen.

„Ein Elefant!“ wollte Sarah rufen, aber die letzte Silbe blieb ihr im Halse stecken. Die Mädchen verfolgten das Schauspiel mit großen Augen und klopfenden Herzen. Da war tatsächlich ein gewaltiger Elefant auf die Lichtung getreten und begann in aller Ruhe damit, die Blätter von einem buschartigen Gewächs abzureißen. Er benutzte dazu seinen kräftigen Rüssel wie einen Arm und schob sich Blattladung auf Blattladung zwischen die mächtigen Kiefer.

„Ein Elefant im Schobüller Wald“, sagte Marie leise, „daran kann kein Zweifel bestehen. Aber wie kommt der hierher?“

„Elefanten und Schlangen in Schobüll?“ flüsterte Silja. „Das kann nicht sein. Das hier ist nicht der Wald von Schobüll.“

„Aber wo sind wir dann?“, fragte Nele ängstlich und so laut, dass der Elefant mit einer Mahlzeit innehielt und seinen Kopf in ihre Richtung drehte.

„Still!“ zischte Sarah, „Er darf uns nicht sehen!“

Sie duckten sich hinter die Steine und verhielten sich mucksmäuschen still. Bald hörten sie, dass der Riese seine Mahlzeit fortsetzte und Rüssel für Rüssel die Blättermassen von den Ästen rupfte.

„Ich will nach Hause!“, klagte Nele plötzlich. Sie sprang auf und verließ die Deckung der Steine; in ihrer Panik lief sie direkt auf den Elefanten zu. Der hatte das schreiende Mädchen sofort mit seinen scharfen kleinen Augen entdeckt und stellte sich mit seinen mächtigen Beinen quer in ihren Weg.

Die drei anderen riefen verzweifelt: „Nele! Zurück! Nicht weiterlaufen!“

Aber das verängstigte Mädchen hörte nichts und sah nichts, es lief nur fort, nur fort und kam dabei dem riesigen Elefanten immer näher. Das Tier hatte seinen Rüssel aufgerichtet und ließ einen markerschütternden Laut erschallen. Sofort wurde Nele aus ihrer Panik herausgerissen. Sie erkannten die Gefahr, drehte im Lauf um und stürzte zu den Freundinnen zurück. Nun aber setzte der Elefant sich auch in Bewegung und eilte auf die Kinder zu. Gerade als Nele die drei erreicht hatte, betrug die Entfernung des Tieres nur noch zehn Meter.

„Schnell in die Höhle!“ schrie Silja, und schon krochen sie einer nach der anderen wieder in den Gang hinein, den sie vor noch nicht langer Zeit verlassen hatten. Der Elefant stoppte seinen Lauf und stand unschlüssig vor dem Hünengrab. Als er keine Bewegung mehr sah, beruhigte er sich, trat zur Seite und begann in aller Ruhe die Blätter auf dieser Seite der Lichtung abzuweiden.

Die Mädchen hatten sich zitternd aneinander gekauert und wagten es nicht sich zu bewegen. Nele schluchzte still in sich hinein und auch den anderen war es zum Weinen zumute.

Plötzlich hörten sie eine Stimme: „Silja! - Nele!“ und nach einer Pause: „Marie, Sarah! wo steckt ihr denn? - Antwortet doch!“

„Das ist Henning!“ sagte Silja und kroch zum Eingang. „Hier sind wir!“ rief sie.

Schon konnten sie Hennings Blondschopf sehen, der durch den Eingang blickte.

„Hier habt ihr euch also versteckt. Kommt sofort raus! Wir suchen euch schon die ganze Zeit.“

Der Kopf zog sich zurück und sie konnte hören, wie Henning laut rief: „Alle Mann hierher! Hier sind sie! Ich habe sie gefunden!“

Sie krochen langsam aus der Höhle und sahen zu ihrem Erstaunen, dass unmittelbar neben dem Eingang der Waldweg entlang führte, den sie doch gerade vergeblich gesucht hatten. Auch der Wald sah aus wie immer: lichte Bäume, die gar nicht riesig aussahen und vor denen man sich Elefanten überhaupt nicht vorstellen konnte, dachte Sarah.

Von allen Seiten hörten sie jetzt die Stimmen ihrer Klassenkameraden.

„ein Wort von unseren Erlebnissen!“ konnte Silja gerade noch zischen, das waren sie auch schon heran: Hannes und Simon, Tim und Janek, Andrea und Anja und dann kamen auch all die anderen.

„Wo seid ihr gewesen?“ fragten alle durcheinander.

Silja zeigte auf die Steine. „Wir haben in dem Hünengrab Schutz gesucht, als der Regen kam.“

„Und wir haben uns in der Hütte am Sportplatz untergestellt. Aber ihr wart nicht da“, sagte Stefanie. „Und als der Regen aufhörte, hat uns Herr Becher los geschickt, euch zu suchen.“

Da kam ihr Lehrer schon angerannt und begrüßten die vier Vermissten mit sichtlicher Erleichterung. Alle gingen nun gemeinsam zum Sportplatz, wo sie ihre Rucksäcke und Beute unter Maikes und Anjas Obhut zurückgelassen hatten. Die Jungen begannen ein Fußballspiel, einige Mädchen pflückten Blumen, nur unsere vier Abenteuerinnen sonderten sich von den anderen ab.

„Haben wir das alles nur geträumt?“ fragte Sarah. „Das war ein Alptraum!“ sagte Nele und schüttelte sich.

„So etwas kann es gar nicht geben!“ meinte Marie.

Silja aber, die sich ein Butterbrot aus ihrem Rucksack holen wollte, erstarrte plötzlich in ihrer Bewegung.

„Was ist los?“ fragte Marie.

Silja sagte nichts. Stumm und mit starren Blicken zog sie etwas aus ihrem Rucksack und zeigte es vorsichtig den Freundinnen. Es war die purpurrote Blume, die sie vorhin auf der seltsamen Waldlichtung gepflückt hatte.

Am nächsten Morgen sahen sich die vier in der Schule erst kurz vor Unterrichtsbeginn. Aber sie hatte keine Zeit, um über ihr seltsames Abenteuer zu sprechen. Im Deutschunterricht gab Herr Ellenberg ein Diktat wieder, das sie vor einer Woche geschrieben hatten. Leider war das Ergebnis nicht bei allen so gut ausgefallen, wie sie es erhofft hatten. Auch die Mathestunde war nicht besonders erbaulich verlaufen. Nele hatte auf Herrn Bechers Frage zunächst nicht geantwortet, dann aber, als dieser sie fragte: „Träumst du, Nele?“ geantwortet: „Ja, von einem Elefanten!“ Darauf mussten alle - außer Herrn Becher - schallend lachen und fanden die Antwort derartig lustig, dass niemandem das betretene Schweigen von Silja, Marie und Sarah auffiel.

In der großen Pause aber fanden die vier Zeit, über ihr gestriges Abenteuer zu sprechen.

„Ich glaube nicht, dass wir das geträumt haben“, meinte Marie.

„Der Wald und die Schlange, das kann doch aber nicht  wirklich gewesen sein!“ sagte Sarah.

„Und die Blume?“ fragte Silja und hielt den anderen die jetzt verwelkte Pflanze unter die Nasen, die noch immer einen betörenden Duft ausstrahlte. „Wir müssen heute Nachmittag hingehen und nachschauen, was es mit dem Hünengrab auf sich hat!“

Marie und Sarah stimmten ihr sofort zu, nur Nele wusste nicht, ob sie sich hin trauen sollte. Aber schließlich siegte auch bei ihr die Neugierde und sie verabredeten sich auf 15 Uhr an der Schobüller Kirche.

 

Um drei kamen Sarah und Nele auf ihren Rädern angebraust; Silja und Marie warteten schon an der Mauer des kleinen Kirchhofs. Sie brauchten nur fünf Minuten, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Ihre Fahrräder stellten sie an einen Baum und begannen, das Hünengrab zu untersuchen. Die Seitenwände wurden von je vier hohen Steinen gebildet, die nahtlos aneinander gefügt waren; darüber lagen zwei mächtige Decksteine, die quer über die tragenden Elemente gelegt worden waren. Vorn befand sich ein schmaler Eingang, an der Hinterseite versperrte ein weiterer senkrechter Stein den Durchgang.

„Das haben die Menschen in der Steinzeit gebaut“, sagte Silja. „Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass sie ihre Toten drinnen begruben.“

„Lasst uns noch einmal hinein kriechen“, sagte Marie.

Sarah und Silja zögerten, Nele lief die paar Schritte zu den Fahrrädern zurück: „Da kriegen mich keine zehn Pferde hinein!“ rief sie entschieden.

Aber Marie ließ sich nicht beirren. Flink wie ein Wiesel hatte sie sich gebückt, kroch in die dunkle Höhlenöffnung und war verschwunden.

Silja und Sarah standen einige Sekunden wie stumm vor der schwarzen Loch, dann fragte Sarah leise: „Marie, bist du noch da?“ Sie bekam keine Antwort.

Jetzt rief Silja: „Marie, sag doch was!“ Aber alles blieb still.

Silja und Sarah blickten sich stumm an, dann fassten sie einander bei den Händen und krochen hinter ihrer Freundin her. Nele, die gerade wieder Mut gefasst hatte und vorsichtig herangetreten war, schloss die Augen und ließ sich von Marie, an deren Regenjacke sie sich klammerte, in das finstere Loch ziehen. Sie hockten in der dunklen Höhle und trauten sich nicht, etwas zu sagen.

Plötzlich rief eine Stimme: „Kommt doch raus, hier ist es wunderschön!“

„Marie!“ rief Nele, „das ist doch Marie.“

Im Nu fiel die Beklemmung von ihnen ab und sie krochen aus dem schmalen Felsentor hinaus. Draußen stand Marie und lachte!

„Das ist gemein“, sagte Sarah. „Wir machen uns große Sorgen um dich und du bist gar nicht in die Höhle hineingekrochen, sondern stehst hier seelenruhig in der Gegend herum!“

„Aber schaut euch doch mal genau um!“ entgegnete Marie mit leuchtenden Augen.

Das taten die drei und sahen nun erst, dass sie wieder in der großen Waldlichtung standen, die von den riesigen Bäumen umgeben war. Nele suchte sofort nach dem Elefanten, aber kein Lebewesen war weit und breit zu sehen.

„Also doch“, sagte Silja. „Wir sind einer anderen Welt.“

„Aber wie sind wir hierhergekommen?“ fragte Sarah.

Sie gingen um das Steingrab herum, aber alles sah genau so aus, wie bei ihrer ersten Inspektion, die sie gerade vor einer Viertelstunde unternommen hatten: Die gleichen Steine und nur ein Eingang.

„Eigentlich müsste es zwei Eingänge geben“, meinte Silja. „einer in Schobüll und einer hier in diesem wilden Dschungel!“

So viel sie aber suchten, die Steine blieben stumm und offenbarten nichts von ihrem Geheimnis. Der einzige Eingang befand sich an der Längsseite der Steinsetzung. Sie gingen noch einmal um die ganze Anlage herum, konnten aber keine Lücke entdecken, da die Steine ohne Fugen aneinandergefügt waren. Plötzlich blieb Sarah stehen.

„Da stimmt doch was nicht, da stimmt doch etwas nicht“, murmelte sie vor sich hin.

„Was stimmt denn nicht?“ fragte Silja.

„Der Eingang!“

„Was ist mit dem Eingang?“

„Der Eingang war doch eben noch auf der anderen Seite!“

Jetzt sahen die anderen es auch. Der Höhlenausgang, aus dem sie heraus gekrochen waren, lag auf der sonnenabgewandten Seite, während sie im Schobüller Wald genau auf der anderen Seite in das Steinhaus hinein gekrochen waren. Sarah konnte sich noch genau daran erinnern, dass die Sonnenstrahlen den vorderen Bereich der Höhle mit ihrem Licht erhellt hatten. Hier lag der Eingang völlig im Dunkeln.

Sie blickten sich einige Minuten schweigend an dann sagte Silja: „Wisst ihr, was das bedeutet? Wir haben ein Tor zur anderen Welt entdeckt.“

„Ein Tor zu anderen Welt?“ fragte Sarah.

„Aber klar doch“, bestätigte Marie. „Wenn ich hier hineingehe, komme ich in Schobüll wieder hinaus. Gehe ich aber dort hinein, komme ich hier wieder heraus! - Ich werde es gleich einmal ausprobieren.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, kroch  Marie in das finstere Loch hinein. Die anderen warteten. Es dauerte keine dreißig Sekunden, da tauchte ihr Kopf wieder auf.

„Und?“ fragte Sarah.

„Genau wie ich gesagt habe. Ich bin hier hinein gekrochen und konnte die Höhle auf der anderen Seite wieder verlassen. Und zurück ging es genau so einfach.“

„Aber wie ist das möglich?“ fragte Silja.

„Ganz einfach“, meinte Marie, „auf der einen Seite geht man hinein und auf der anderen kommt man wieder heraus.“

„Sehr witzig“, entgegnete Silja. „Ob da irgend ein Zauber wirksam ist?“

„Das werden wir am ehesten herausfinden, wenn wir diese Seite genauer erkunden“, sagte Sarah.

„Wenn nur keine wilden Tiere auftauchen“, sagte Nele.

„Dann können wir immer noch schnell wieder verschwinden,“ beruhigte sie Sarah.

die vier fassten einander bei den Händen und gingen vorsichtig am Saum des großen Waldes entlang. Dabei entfernten sie sich mehr und mehr von dem Hünengrab, aber mit jedem Schritt wurden sie mutiger. Und was gab es da nicht alles zu sehen! Unbekannte Blätter wucherten aus dem Dickicht des Waldes, der sich in ungeheure Höhen empor rankte. Die Mädchen konnten deutlich die unterschiedlichen Blätter des Busch- und Schilfdickichts unterscheiden, das den Rand des eigentlichen Hochwalds bedeckte. Sie mussten mehrere Male über große Baumstämme klettern, die ein Sturm umgeweht haben mochte. Nach einigen hundert Metern öffnete sich die Lichtung in ein weites Tal; sie blickten hinunter, und vor ihnen öffnete sich eine weite, stellenweise sumpfige Niederung, in der sie neben undurchdringlichem Gestrüpp und Schilfdickicht hohes Gras und Bambus wahrnahmen. Buschwerk und baumartige Schlingpflanzen bedeckten die Niederung. Weit entfernt schienen große Tiere entlang zu ziehen. Marie meinte, es seinen Büffel und Hirsche. Nele glaubte, Riesenschlangen zu sehen, Silja aber war sich ganz sicher, dass dort unten eine Herde von Elefanten weidete.

„Dann wird es sicher auch Tiger und Rhinozerosse geben“, sagte Sarah. Nele blickte sie mit aufgerissenen Augen an.

Die Niederung wurde von einem breiten Fluss durchquert, dessen Wasser hier und dort im gleißenden Sonnenlicht Reflexe zu ihnen empor warf. Ganz in der Ferne türmte sich schemenhaft ein Gebirge auf, dessen Wipfel im Dunst verschwommen. Große Vögel zogen gemächlich ihre Bahnen und grüßten die Mädchen mit den weißen Schwingen.

„Dorthin möchte ich wandern!“ sagte Marie und warf eine sehnsuchtsvollen Blick in die unbekannte Ferne. „Wir sollten dieser Welt einen Namen geben.“

„Das ist der Urwald“, rief Nele und Sarah fügte hinzu: „Diese Lichtung heißt Elefantentanzplatz.“

„Ja, wir müssen den Wald uns all die anderen Gegenden genau erkunden“, sagte Nele wie verwandelt.

„Für heute reicht unsere Expedition“, warf Silja prosaisch ein. „Ich schlage vor, daß wir zurückgehen, denn ich muss um sechs zu Hause sein.“

Diese Worte ernüchterten auch die anderen, sie kehrten um und erreichen ohne Zwischenfälle das Hünengrab. Sie blickten noch einmal auf die mächtigen Bäume, dann krochen sie zwischen den Steinen hindurch und gelangten schnell wieder in die ihnen vertraute Welt des Schobüller Berges.

Sie schwuren sich noch einmal, niemandem von ihren Abenteuern zu erzählen, dann bestiegen sie ihre Fahrräder und fuhren nach Hause.

Zu Hause erzählte keiner etwas von der anderen Welt, aber am nächsten Morgen in der Schule waren die Schwüre des Vortags schon wieder vergessen. Marie erzählte Anna und Maike von der Schlange, Nele prahlte vor Katherina, Anja, Andrea, Julia, Svenja und Stafanie mit ihrem Elefanten-Abenteuer, Sarah informierte Shirin, Catherina, Erik und Malte und Silja konnte Henning gegenüber nicht dichthalten, von dem dann Hannes, Simon, Tim und Janek alles brühwarm erfuhren. Wer Deniz und Arrien informiert hat, weiß ich nicht, aber irgendwer muss es ihnen erzählt haben, denn alle wussten spätestens in der zweiten großen Pause Bescheid.

Einige der Jungen reagierten überheblich; so sagte Arrien zu Sarah: „Passt bloß auf, wenn ihr noch einmal in eure Welt geht, sonst begegnet ihr Bilbo Beutlin“ Und Janek meinte: „Vielleicht laufen im Wald ja Orks herum, die euch gefangen nehmen und zu Sklavinnen machen wollen.“

Sarah entgegnete bloß: „Ihr habt wohl zu viel in euren Abenteuerbüchern gelesen“ und ließ die Lästerer einfach stehen. Aber auch einige der Mädchen glaubten den vieren kein Wort. Vor allem Stefanie stichelte immer wieder mit „Einbildung“, „Fieberfantasie im Dunkeln“ oder „Da sind euch wohl vor Angst die Sicherungen durch geknallt?“ bis Silja sie aufforderte, bei der nächsten Expedition mitzukommen.

Als die Jungen davon hörten, dass noch heute Nachmittag eine größere Mädchengruppe durch das Tor in die andere Welt vordringen wollte, verabredeten sie sich heimlich während der Deutschstunde, ihnen mindestens eine halbe Stunden zuvorzukommen. Hannes, der sich bei der Terminplanung hervortat, beteuerte noch Monate nach diesem Ereignis, dass Herr Ellenberg überhaupt nichts von ihrer Absprache gemerkt habe.

 

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