Der geheimnisvolle Keller

 

„Hermann!“, rief eine heisere Stimme, und dann ungeduldiger „Hermann!“. Aus dem fast undurchdringlichen Nebel antwortete es: „Ja, Herr Direktor, ich komme schon.“ Ein grünlicher Lichtschein näherte sich, den ein kleiner dicker Mann ausstrahlte, der einen Meter über dem Boden heran schwebte. Er hielt in einiger Entfernung von der Stimme an, die ihn gerufen hatte.

„Hermann, es ist Zeit“, zischte die Stimme wieder und der Mann, der den anderen gerufen hatte, strömte ein rotes Licht aus, das nur einigen Meter durch den feuchten Nebel drang.

Der „Hermann“ Gerufene schien sich vor dem Roten zu fürchten, denn er hielt einen gemessenen Abstand von dem anderen und pulsierte in seinem grünen Licht nur noch schwach.

„Die Neuen sind jetzt lange genug da oben!“, zischte die rote Erscheinung wieder und wurde immer heller. „Du weißt, was das bedeutet?“

„Ja; Herr Direktor“, antwortete er und leuchtete dabei hellgrün auf.

„Locke ein paar von ihnen herunter!“, rief er. „Ich will ihnen den Spaß schon kräftig verderben.“

„Wird gemacht, Herr Direktor“, sagte Hermann und leuchtete noch heller. „Da ist einer dabei, dem traue ich schon zu, dass er zu uns findet. Der hat genügend Fantasie!“

„Hilf ein bisschen nach, damit er auch wirklich zu uns herunter kommt!“, rief der Rote. „Die Träume werden ungeduldig, weil sie sich langweilen.“

Die rote Erscheinung verließ die Stelle, an der sie mit dem Grünen zusammengetroffen war, mit zunehmender Geschwindigkeit und das rote Leuchten verglomm allmählich. Der „Hermann“ genannte blieb allein zurück.

 

 

 Der Unfall

Terence hielt den Atem an. Er hatte sich hinter einer Säule verborgen und wartete. Gleich musste Annika vorbeikommen. Die sollte was erleben! Zweimal hatte sie ihn schon in den Rücken geknufft, aber jetzt ...! Da kam Annika angelaufen und blieb stehen. Sie drehte ihm den Rücken zu und sah ihn nicht. Terence stürzte los, brüllte laut und stieß Annika mit aller Kraft in den Rücken. Das Mädchen verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei vorn über. Terence dreht sich sofort um und war verschwunden.

Annika lag regungslos am Boden, als Levke und Laura sie entdeckten. Beide beugten sich über die Freundin, die sich noch immer nicht bewegte.

„Was ist los, Annika?“ fragte Levke und schüttelte sie am Arm. Annika stöhnte und drehte ihren Kopf etwas zur Seite.

„Hast du dir was getan?“, wollte Laura wissen. Annika hatte sich mit Levkes Hilfe aufgerichtet.

„Nicht so schlimm“, sagte sie, wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und erhob sich mühsam.

„Wer war das?“, fragte Laura.

„Der blöde Terence hat mich gestoßen!“, fauchte Annika wütend.

„Wir müssen in den Unterricht, es hat schon geklingelt“, sagte Levke. Sie liefen schnell in ihre Klasse. Herr Ellenberg war schon da und kontrollierte gerade die Hausaufgaben.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragte er Levke.

„Annika musste brechen“, log Levke.

„Und wie geht es dir jetzt?“, fragte Herr Ellenberg, „du siehst ganz blass aus!“

Annika setze sich auf ihren Platz und holte tief Luft. „Das soll er mir büßen!“, dachte sie und suchte mit den Augen nach Terence. Dessen Platz aber war leer. „So ein Feigling! Der traut sich mir wohl nicht unter die Augen.“

Der Unterricht ging weiter, aber die drei tuschelten miteinander.

„Levke!“, rief Herr Ellenberg, „Wie heißt die Grundform des Verbs?“ Levke lächelte verlegen. „Guck mich nicht mit so großen Augen an, sondern sag' was, Mädchen!“

„Infinitiv!“ rief Moritz dazwischen.

„Und in welcher Form tritt das Verb im Satz auf?“, fragte der Lehrer Annika. Die aber war mit ihren Gedanken ganz woanders. „Annika!“, rief Herr Ellenberg.

„Terence!“, zischte das Mädchen wütend. Alle lachten. Herr Ellenberg wunderte sich.

„Wo steckt denn dieser Terence?“, wollte er wissen. Keiner aus der Klasse antwortete.

„In Mathe war er noch da“, sagte Vladislav.

„Der ist endlich von der Schule abgegangen“, stichelte Malte.

„Nö, hier sind doch seine Sachen“, rief Jannes.

„Zeig mal her!“, forderte Malte.

„Setz dich hin, Malte!“, sagte Herr Ellenberg streng. „Das geht dich nichts an!“

„Terence hat sich in Luft aufgelöst!“, kicherte Florian.

„Na, Laura, erzähl mal!“, sagte Herr Ellenberg streng.

„Ich weiß nichts“, log Laura. „Wir haben in der Pause Nachlaufen gespielt, aber Terence habe ich nicht gesehen.“

„Der Bengel muss doch irgendwo stecken. Na, er wird schon kommen“, beendete Herr Ellenberg das Gespräch und setzte seinen Grammatikunterricht fort.

Die Stunde dehnte sich zäh in die Länge. Annika, Levke und Laura waren nicht bei der Sache. Sie flüsterten ständig miteinander und Herrn Ellenbergs Ermahnungen wurden immer lauter. Endlich war die Stunde vorüber.

Die drei liefen aus der Klasse und eilten schnell die Treppe zum Parterre hinunter. „Der Feigling hat sich bestimmt versteckt“, meine Annika.

Sie suchten und suchten, konnten aber Terence nirgends entdecken. Dann trennten sie sich und suchten alle Gänge ab. Vergeblich. Die drei trafen sich an einem der Ausgänge.

„Wo steckt der bloß?“, fragte Laura.

„Der hat Angst bekommen und ist nach Hause zu seiner Mama geflitzt!“, sagte Annika verächtlich.

„Vielleicht hat er sich unter der Treppe im Anbau versteckt“, bemerkte Levke; „kommt, wir gucken da mal nach!“

Sie drängelten sich durch die Schülergruppen, die den Weg blockierten und ließen die lärmende Mensa hinter sich. Dann gingen sie den Gang entlang, bis sie zu einer Treppe kamen, die nach oben führte.

„Die ist nur für Lehrer da!“, sagte Laura unsicher.

„Leise!“, flüsterte Annika, „vielleicht hockt Terence da unter den Stufen.

Sie schlichen auf Zehenspitzen vorsichtig weiter. Es war so finster geworden, dass sie kaum noch etwas erkennen konnten. Laura klammerte sich an Levkes Arm. „Au!“, sagte sie, „du tust mir weh!“

„Psst! Du vermasselst ja alles!“, ermahnte sie Annika. Sie gingen vorsichtig weiter, aber im Halbdunkel unter der Treppe konnten sie nichts entdecken. Sie blieben stehen.

Plötzlich zuckte Laura zusammen. „Hab ihr gehört?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Was?“, fragte Levke.

„Da hat jemand gerufen.“ Sie lauschten.

„Ich höre nichts“, meinte Annika. Doch dann konnten sie alle drei einen leisen Klageruf hören, der irgendwo schnell verhallte. Sie hatten sich unwillkürlich aneinander gedrängt und spürten, wie Laura am ganzen Körper zitterte.

„Brauchst keine Angst zu haben, wir sind doch bei dir!“, sagte Annika leise, aber ihre Stimme klang gar nicht überzeugend. Jetzt konnten sie den Klageruf wieder hören.

„Das ist Terence!“, rief Levke. „Da ist irgendwas passiert.“

Sie versuchten, die Dämmerung mit ihren Augen zu durchdringen. Annika zeigte auf ein schwarzes Viereck, das sich von der dunkel schimmernden Wand neben den letzten Stufen der steinernen Treppe undeutlich abzeichnet. „Da ist eine Tür!“, sagte sie tonlos.

„Quatsch!“, sagte Laura, „die ist viel zu niedrig, da kommt man ja nicht durch. Und abgeschlossen ist sie bestimmt auch.“ Das klagende Geräusch war wieder zu hören und erschien ihnen immer lauter.

Annika bückte sich und suchte nach einer Klinke. Sie ertastete einen Hebel und zog ihn nach oben. Mit einem hässlichen Quietschen bildete sich eine Öffnung, die noch schwärzer als das schwarze Blech der niedrigen Tür war. Ein kalter Luftzug drang heraus und ein modriger Geruch. Annika war zurückgezuckt, als sie die Tür öffnete. Dann konnten sie ganz deutlich ein klagendes „Hilfe! Hilfe!“ hören, das aus lichtloser Tiefe zu kommen schien.

„Wir müssen Hilfe holen!“, rief Laura.

„Wartete, da ist eine Treppe“, sagte Annika, die wieder an die Öffnung herangetreten war. Wir können Terence alleine rausholen. Kommt!“ Sie bückte sich, schlüpfte durch den niedrigen Eingang und war verschwunden. Levke packte Laura an der Hand und schlängelte sich hinter Annika her. Bald standen die drei auf einer metallenen Plattform, die zu einer Treppe gehörte, deren eiserne Stufen sich nach unten drehten; sie konnten im schwachen Lichtschein, der von draußen hineinfiel, gerade noch ahnen, dass es eine Spindeltreppe war, die dort in eine unbekannte Tiefe führte. Wieder hörten sie die klagenden Rufe.

„Los! Wir gehen dort ...“ - „hinunter!“, wollte Annika sagen, als die schwere Eisentür, durch die sie sich gezwängt hatten, mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel. Die drei standen im Dunkeln und klammerten sich entsetzt aneinander. „Was machen wir jetzt?“, fragte Levke leise. Sie schwiegen. Kein Geräusch drang aus der lärmerfüllten Mensa hierher, nur ein leises Wimmern konnten sie aus der Tiefe mehr ahnen als hören.

Sie untersuchten die Innenseite der Tür gründlich mit ihren sechs Händen, spürten aber nur das kalte Blech und konnten keinen Riegel und keine Klinke finden.

„Wir müssen Terence retten!“, sagte eine Stimme; Levke und Annika wunderten sich, denn es war Laura, die laut und entschieden wiederholte: „Wir müssen Terence retten! Folgt mir!“

Sie mussten sich ihren Weg mit den Händen ertasten, denn die Dunkelheit war so vollkommen, dass sie keinen Unterschied feststellen konnten, ganz gleich, ob sie die Augenlider geöffnet oder geschlossen hatten. Wieder und wieder erfühlten sie, einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, die nächste Stufe und dann auf die nächste und wieder die nächste. Stufe folgte auf Stufe, und der Handlauf wollte nicht enden.

Laura hatte das Gefühl, sich bereits mindestens vier- oder fünfmal um die Spindel gedreht zu haben, und noch immer war die Treppe nicht zu Ende. Ohne inne zu halten tastete sie sich Schritt für Schritt weiter nach unten; wieder und wieder erwartete sie das Ende der Treppe, aber nach jeder Stufe konnte sie eine neue erfühlen, und so fort und so fort.

Dann hielten sie an. „Die nimmt ja überhaupt kein Ende“, flüsterte Levke, „sollen wir nicht zurückgehen?“ Aber der Gedanke, diesen ganzen langen Weg noch einmal gehen zu müssen, nun aber hinauf statt hinunter, schien ihnen um ein Vielfaches unangenehmer, als die Vorstellung, nach einem, oder zwei, höchstens aber drei Schritten das Ende der Treppe erreichen zu können. Also schlichen sie weiter hinab. Sie zählten jetzt ihre Schritte. Als sie vorsichtig fünfzehn weitere Stufen hinuntergestiegen waren, blieben sie erneut stehen. Was jetzt tun? Noch ein paar Stufen hinabsteigen, denn jede weitere Stufe musste unweigerlich die letzte sein, oder den Rückweg antreten? Die Hilferufe waren jetzt lauter zu hören als je zuvor. Sie beschlossen, weiter hinunterzusteigen.

Die drei ging langsam hinab und zählten dabei sorgfältig die Stufen. Als sie aber nach der dreißigsten wieder eine Stufe ertastete und danach wieder eine und noch eine und so fort, bis sie mit dem Zählen bei fünfzig angekommen waren, gerieten sie beinahe in Panik. Wieder blieben sie stehen. Sie starrten in die bodenlose Finsternis hinunter und wussten weder ein noch aus.

Plötzlich glaubte Annika, einen schwachen Lichtschein entdeckt zu haben. Ja, die anderen sahen es nun auch: Ein bleiches Leuchten schwebte unter ihnen und erhellte die letzten Stufen der Treppe. Sie hatten es beinahe geschafft. Sie sahen jetzt, dass sie auf der Treppe in einem schmalen, turmartigen Gemäuer hinabgestiegen waren, das unten, am Ende der Stufen einen kleinen Raum bildete.

Annika stieß einen leisen Schrei aus. Vor der letzten Stufe lag zu einem Bündel gekrümmt - Terence! Über seine linke Gesichtshälfte lief Blut, das aus einer Platzwunde über dem Auge quoll, und seinen linken Arm streckte er in so unnatürlicher Weise vom Körper ab, dass es Laura schlecht wurde. Aber das, was über ihm schwebte, ließ den Mädchen das Blut in den Adern gefrieren. Es war eine untersetzte Gestalt, in einen weiten Umhang gehüllt, von der das grünliche Leuchten ausging. Sie schwebte regungslos über Terence. „Wie ein Raubvogel, der auf seine Beute lauert“, dachte Annika. Sie hörten ein hohes Pfeifen, dann ein Hüsteln und endlich kam Bewegung in die Szene.

„Das wird auch höchste Zeit, dass ihr endlich kommt!“ rief eine hohe Stimme. „Wie lange soll ich denn noch hier warten? Ihr meint, wohl, ich hätte nichts zu tun und könnte mir die Zeit um die Ohren schlagen.“

Die Mädchen hatten die letzten Treppenstufen verlassen und standen regungslos vor der schwebenden Leuchtgestalt. Es schien ein Mann zu sein, schon älter und ziemlich fett. Seine schwarzen Haare hingen unordentlich um den bulligen Kopf herum; von seinem Körper waren nur die groben Hände zu sehen, den Rest umhüllte ein formlose Mantel, der mit einem Radkragen am Hals befestigt zu sein schien. Das Unheimliche aber war, dass der Kerl einen halben Meter über dem Boden schwebte und wie eine Neonlampe leuchtete.

„Na, wollt ihr eurem Freund nicht helfen?“, fing er wieder zu reden an. Terence stöhnte und krümmte sich am Boden.

Annika beugte sich zu ihm herab und fragte: „Was ist los, Terence?“ Der aber antwortete nicht.

„Warum helfen Sie ihm denn nicht“, fragte Levke, „was ist denn hier überhaupt passiert?“

„Der Junge kam die Treppe herunter gepurzelt, schrie fürchterlich und blieb liegen“, sagte die Erscheinung. „Ich hasse diese Störungen, ich hasse jede Form von Lärm, besonders wenn sie von diesen ungezogenen Pennälern erzeugt wird.“ Terence stöhnte wieder.

„Tun Sie doch irgendetwas!“, rief Laura, und das war das einzige, was sie herausbringen konnte.

„Ich möchte ihm ja helfen, aber ich kann nicht!“ Die Erscheinung wirkte plötzlich gar nicht mehr unheimlich, sondern furchtbar hilflos. Das matte Licht, das er ausströmte, flackerte beängstigend.

„Aber warum denn nicht?“, fragte Annika.

„Weil er Angst hat! Leuten, die Angst vor mir haben, kann ich nun einmal nicht helfen“, sagte sie und Laura glaubte, einen Ton des Bedauerns zu hören.“

Annika kniete neben Terence nieder und sah sich die Verletzung an. „Das müssen wir verbinden“, stellte sie fest. Sie fasste ihn vorsichtig an der Hand, aber Terence schrie, als ob er am Spieß gebraten werden sollte. Und dann wimmerte er vor sich hin: „Tu mir nichts, bitte, bitte tu mir nichts!“

„Terence!“, rief das Mädchen, „Terence! Komm zu dir, wir sind es! Wir haben dich gefunden!“ Terence hörte auf zu schreien und schlug die Augen auf.

„Annika!“, stieß er hervor. Was ist passiert?“

„Du bist die Treppe runtergefallen und hast dir den Arm gebrochen.“

„Aber das Gespenst!“

„Welches Gespenst?“

„Na, der Leuchtkerl, der hier herum schwebt und mich holen will!“

„Ich will dich nicht holen, mein Junge!“, sagte die Erscheinung würdevoll. Ich hole niemanden, ich werde geholt, und nur, wenn es wichtige Aufgaben gibt, die allein ich erfüllen kann.“

„Wer bist du?“, fragte Levke.

„Ha! Ihr kennt mich nichts? Ich bin doch Hermann!“

„Hermann?“, fragte Laura. „Nie gehört.“

„Hermann, der Hausmeister der Gelehrtenschule!“

„Na, Hermann, du gelehrter Hausmeister, dann hole uns mal einen Verbandkasten!“, sagte Levke entschieden. Oder kannst du das auch nicht?“

„Doch, doch!“ sagte Hermann und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. „Das kann ich, denn du hast keine Angst vor mir.“

„Warum leuchtest du eigentlich so komisch?“, fragte Laura, die ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Und warum gehst du nicht wie die anderen Leute?“

„Leuchten, gehen? -Ach so, das könnt ihr ja nicht wissen, wenn ihr von oben kommt. Wir hier unten leuchten und schweben alle, denn wir sind Gespenster!“

„Gespenster?“, fragte Annika und ein Frösteln lief ihr über den Rücken.

„Darf ich mich den Damen vorstellen? Ich bin Hermann, das Schulgespenst“, sagte Hermann und leuchte so hell, dass sie das selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht nicht übersehen konnte.

„Dann saus' mal ab und hol uns den Verbandkasten, du grünes Schulgespenst!“, sagte Levke schnippisch. Hermanns Leuchten wurde deutlich matter.

„Bitte, wir wollen Terence den Arm verarzten“, bat Annika. Hermann räusperte sich, brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin, leuchtete wieder heller und verschwand durch eine Tür.

Sofort wurde es dunkler, aber nicht mehr so finster, wie es vorher in diesem Treppenturm gewesen war. Hermann hatte die Tür offen gelassen und von draußen drang ein blasser Lichtschein zu ihnen herein. Jetzt kümmerten sich alle drei Mädchen um Terence, der arg mitgenommen dalag und sich nur unter Stöhnen etwas aufrichten konnte.

„Dumme Sache, die mir das passiert ist“, murmelte er. „Bin durch die Tür gekrochen und dann eine Treppe runtergefallen. Mehr weiß ich nicht. Tut höllisch weh, der Arm!“

„Geschieht dir Recht“, wollte Annika sagen, aber sie behielt ihre Gedanken bei sich. Jetzt mussten sie Terence helfen und ihm aus dieser misslichen Lage befreien, das war wichtiger. Ihre Meinung konnte sie ihm später immer noch sagen. Annika kannte sich in erster Hilfe aus und redete beruhigend auf Terence ein. Sie tastete seinen Arm ab. Terence wimmerte.

„Nimm dich zusammen, du Memme!“, sagte sie. „Ich werde dir einen Notverband anlegen. Dann bringen wir dich nach oben und du kommst zu einem Arzt!“ Terence sagte nichts mehr. Annika wunderte sich plötzlich drüber, dass sie Terence einen Verband angelegen wollte, denn sie hatte noch nie an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen. Und woher sollte sie wissen, wie man mit Knochenbrüchen umgehen musste?

Plötzlich wurde es heller und Hermann kam angeschwebt. Er hatte einen grauen Kasten unter dem rechten Arm geklemmt und hielt ihn triumphierend den Mädchen hin.

„Da“, sagte er. „Erste Hilfe für kaputte Pennäler, die Treppen runter purzeln und Angst vor Hermann haben.“

Annika nahm den Kasten, öffnete ihn und fischte mit traumhafter Sicherheit eine Kompresse hervor, die sie auspackte und gegen die Platzwunde an der Stirn von Terence drückte. Dann wickelte sie die Mullbinde um den Kopf des Jungen und wies Laura an, einen Pflaster-Streifen von der Rolle abzuschneiden, mit dem sie den Verband befestigte.

Levke staunte. „Wo hast du das denn gelernt?“

„Weiß ich nicht, ich kann das eben!“, sagte Annika. Dann nahm sie ein Dreieckstuch aus dem Kasten heraus und zog dem protestierenden Jungen die Jacke von der Schulter. „Halte ihm die Hand so fest!“, erklärte sie Levke und knüpfte geschickt eine Schlinge, die sie mit gemeinsamer Anstrengung um Terence' Hals hingen.

Was war nur mit ihr los? Woher konnte sie dies alles? Terence nahm sich jedenfalls zusammen, blieb stumm und verzog nur noch ab und zu schmerzvoll sein Gesicht. Er wunderte sich zu Annikas Beruhigung offenbar gar nicht darüber, dass sie plötzlich über ungeahnte medizinische Fertigkeiten verfügte. Er hatte sich sogar aufgesetzt und versuchte, von Laura gestützt, auf die Beine zu kommen.

„Mir ist schwindlig!“, sagte er und schwankte. Aber Laura nahm alle Kraft zusammen und hielt ihn aufrecht.

„Wie sollen wir mit ihm die vielen Stufen nach oben steigen?“, fragte sich Annika, aber diesmal sagte sie es laut.

„Ruft nur Hermann, der hilft!“, lachte Hermann und leuchtete, dass es sogar von den schwarzen Treppenstufen widerschien.

„Kannst du uns hinaus helfen? - Bitte!“, sagte Levke und setzte ihre hilfloseste Miene auf, wie sie es sonst nur bei Herrn Ellenberg konnte, wenn sie die Hausaufgaben vergessen hatte oder keine Antwort auf die Fragen ihres Lehrers wusste.

„Aber klar doch!“, rief Hermann, „dafür bin ich da!“ Und schon schwebte er durch die Tür hindurch in einen Gang, der die vier aufnahm, als sie ihrem Führer langsam folgten. Auch Terence, den Laura noch immer stütze, schien seine Lebensgeister wiedergefunden zu haben.

Sie folgten dem schwebenden Schulgespenst durch einen langen Korridor, der fast genau so aussah, wie der Gang, durch den sie die seltsame Tür erreicht hatten, die zur Treppe in die Tiefe führte. Allerdings gab es hier nirgendwo Lampen; eine undefinierbare Helligkeit herrschte überall, die aus den Wänden hervorzuquellen schien. Laura bemerkte, dass es modrig roch.

„Komisch ist das hier unten!“, sagte sie. Die anderen schwiegen. Hermann, der vor ihnen her schwebte, hatte eine weitere Tür erreicht, die sich vor ihm öffnete. Kurz darauf standen sie in einer großen Halle, die von einer milchigen Helligkeit erfüllt war. Die vier blieben wie angewurzelt stehen. Ein dumpfes Gemurmel drang zu ihnen und sie sahen schemenhafte Gestalten auf den Stühlen kauern, die zu Gruppen in dem weiten Raum standen.

„Was ist das?“, fragte Terence mit weit aufgerissenen Augen.

Auch Hermann hatte angehalten und schwebte jetzt vor ihnen. „Das sind die Tagträume!“, sagte er.

„Und was machen die hier?“, fragte Laura.

„Die trödeln hier nur rum und wissen nichts rechtes mit sich anzufangen.“

„Und wie sind die hierhergekommen?“, wollte Annika wissen.

„Das sind die Träume der Schüler, die in den langweiligen Unterrichtsstunden entstehen, die Träume von Abenteuer und Freiheit.“

„Die Träume von Schülern?“, sagte Terence ungläubig. „Du meinst, wenn ich während des Unterrichts von etwas träume, dann entsteht ein solches Gespenst?“

„Genau so ist das!“, bestätigte Hermann. „Und dann brüllt der Lehrer: „Terence! Aufpassen!“, und dein Traum vergeht und sickert langsam durch den Fußboden und landet schließlich hier unten bei uns.“

„Und was macht er hier?“, wollte Levke wissen.

„Hier langweilt er sich so lange herum, bis endlich jemand von oben zu ihm hinuntersteigt und ihn aufweckt.

„Ihn aufweckt? Kann man Träume denn aufwecken?“, fragte Laura.

„Aber klar kann man das!“

„Wer kann ihn aufwecken?“

„Am besten der, der ihn geträumt hat, denn das ist gleichsam sein Vater!“

„Oder seine Mutter“, sagte Annika.

„Und was passiert dann mit ihm?“, fragte Levke.

„Na, er entwickelt sich prächtig und tut endlich das, wovon sein Erzeuger nur geträumt hat. Er nimmt dich mit in das Traumland und alle deine Träume werden wahr!“

Nach dieser Auskunft blieb allen die Spucke weg. Hermann weidete sich an ihren erstaunten Gesichtern.

„Na, ihr seid mir aber die rechten Einfaltspinsel. Wisst nichts von den Träumen der Schüler, kennt das Traumland nicht! In welche Klasse geht ihr denn eigentlich?

„Wir sind in der 5a!“, sagte Terence stolz.

„Sextaner seid ihr, dass ich nicht lache!“, rief Hermann schrill. „Dann wird es aber höchste Zeit!- Sextaner!“, wiederholte er mitleidig.

„Höchste Zeit wofür?“, wollte Annika wissen.

„Na höchste Zeit für eure Traumabenteuer!“

„Sind denn schon andere vor uns hier gewesen?“, fragte Levke erstaunt.

„Ob schon andere vor euch hier gewesen sind?“ Hermann schüttelte sich vor Lachen und die vier dachten, dass er gleich verglühen müsste, so hell leuchtete er dabei. „Jeden Tag kommen sie hier heruntergestiegen und amüsieren sich köstlich!“

„Wer kommt hier heruntergestiegen?“, fragte Terence.

„Na, die Cleveren, die Fantasiebegabten, die, denen eure Lehrer nicht allen Geist ausgeblasen haben!“, rief Hermann mit überschnappender Stimme. „Die tanken hier auf, manche täglich, damit sie den Stress da oben besser überstehen.“ Hermann drehte sich um und sah sie mit durchdringenden Augen an: „Hier warten eure eigenen Träume darauf, dass ihr mit ihnen loszieht und all das erlebt, woran ihr in eurer armen Wirklichkeit nur zu träumen wagt. Auf diesen jungen Mann hier zum Beispiel“, und er deutete auf Terence, „wartete, wenn er nur ein wenig mutiger wäre, der junge König, der einmal ein Müllersohn war, um mit ihm noch drei goldene Haare vom Kopf des Teufels zu holen.“ Terence Augen leuchteten.

„Und wer wartet auf mich?“, fragte Levke mit einem verträumten Augenaufschlag.

„Warte mal, lass mich mal nachdenken“, sagte Hermann, drehte sich um und winkte einer der Gestalten die sich ganz in ihrer Nähe um einen Tisch gruppiert hatten.

Als sie heran geschwebt kam, erkannten alle eine schöne Dame, die mit einem bösen Blick in einen Spiegel starrte und murmelte: „Spieglein, Spieglein in der Hand, wer ist die Schönste in ganzen Land?“

„Nein!“, rief Levke und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht, das tiefrot angelaufen war. „Das ist doch schon mehr als ein Jahr her, dass ich mir vorgestellt habe, Schneewittchen zu sein!“

„Gerade vier Monate!“, sagte Hermann mit einem verschmitzten Lächeln und entließ die Geisterfrau, die zu ihrem Tisch zurückschwebte. Annika hoffte insgeheim, dass er jetzt nicht einen ihrer Tagträume herrufen würde, den sie vor einiger Zeit in einer langweiligen Biostunde geträumt hatte.

„In unserer Welt finden spannende Expeditionen und Weltreisen statt“, fuhr Hermann zum Glück fort; „hier warten die hohen Berge Zentralasiens auf euch, auf die es zu erklettern gilt; die weiten Steppen Afrikas mit den wilden Löwen und den großen Elefanten; die gefährlichen Jagdgründe der nordamerikanischen Indianer, durch die man nur mit aller größter Vorsicht reiten kann; hier lebten alle eure Freude, die großen Helden, Abenteurer und Entdecker.“

„Das interessiert doch bloß die Jungen“, maulte Laura. Gibt es denn keine Träume von Mädchen?“, wollte sie wissen.

„Klar gibt es die!“, rief Hermann aufgeregt. Wenn du vielleicht mit Leonardo Dicaprio auf der Titanic reisen und nach der Kollision mit dem Eisberg in seinen Armen in den kalten Fluten versinken willst?“

„Nein, danke!“, sagte Laura schnippisch, obwohl sie sich für drei Sekunden wie Kate Winslet fühlte. Ich träume von ganz etwas anderem!“

„Ich weiß“, sagte Hermann und hielt sich beide Ohren zu, denn auf der Bühne waren grelle Scheinwerfer aufgeblitzt und eine laute, sich vor gespielter Begeisterung überschlagende Stimme kündigte unter dem Gekreische von mindestens fünftausend Fans den Auftritt von Tokio Hotel an.

Laura zupfte Hermann energisch am Ärmel, und das half, denn sofort verstummte der infernalische Lärm und die Halle war wieder in ihr normales milchiges Licht getaucht.

„Wir haben jetzt keine Zeit zum Träumen, wir müssen Terence zum Arzt bringen“, sagte Annika entschieden; „du wolltest uns doch helfen.“

Hermann blickte ein paar Sekunden als müsse er sich besinnen. „Aber klar doch! Könnt ja später wiederkommen. Aber denkt daran, ihr müsst mindestens zu dritt und höchstens zu viert sein.“

„Dann kommen Annika, Laura und ich morgen wieder runter!“ sagte Levke begeistert.“

„Nein das geht doch nicht“ rief Hermann, „ihr müsst immer zusammen kommen, Jungen und Mädchen. Sonst wird's nix mit den Abenteuern.

„Mädchen und Jungen zusammen? Aber warum das denn? Ich will nicht mit den blöden Jungs dämliche Abenteuer erleben“, sagte Laura ärgerlich.

„Dann musst du's eben lassen. Entweder ihr haltet euch an die Regeln oder es läuft gar nichts! Der Keller hier unten gehört immerhin zur Schule und in einer Schule, da geht es nicht drunter und drüber, da kann nicht jeder machen, was er will, da müssen sich alle an die Regeln halten. Klar?“

Die vier guckten ihn mit großen Augen an. „Überlegt euch das. Mädchen und Jungen müssen eine Gruppe bilden. Drei oder vier und basta! Sonst gibt's keine Abenteuer. Das nennen wir die Drei-vier-J-M-Regel. Merkt euch das! Drei-vier-J-M-Regel. − Folgt mir jetzt.“

Er schwebte durch den Saal, der die vier sehr an die Mensa ihrer Schule erinnerte, und die anderen folgten ihm. Sie sahen viele seltsame Gestalten, die meisten waren in farblose Umhänge gehüllt, saßen in Gruppen auf bunten Stühlen an langen Tischen und starrten gelangweilt den Vorübereilenden nach. Terence glaubte, an einem entfernten Tisch Jim Knopf und Lukas erkannt zu haben, Levke fühlte sich bei einer schemenhaften Gestalt an Frau Holle erinnert, Laura war sich ganz sicher, dass ganz weit entfernt an der Wand Boris Becker seiner Lilly dabei zusah, wie sie ihren Säugling stillte, und Annika hätte schwören können, dass an einem Tisch links von ihr Stefan Raab und Lady Gaga saßen. Dann blieben alle vier stehen, weil plötzlich Michael Jackson ihren Weg kreuzte und Terence fragte: „Hey, kid, don't you wanna come to Never Land Ranch, eh?“ Aber Hermann zog ihn weg und drängte zur Eile: „Kannst beim nächsten Besuch mal mit Jackson auf der Bühne steppen“, sagte er und blieb vor einer Wand schweben, in die eine Metalltür eingelassen war und neben der einige bunte Lampen glimmten.

„Hierher, kleines Volk!“, rief er. „Das ist der schnellste Weg nach oben.“ Er drückte auf einen der Knöpfe, und die Tür öffnete sich. Es war ein Aufzug. Die vier traten in die Kabine.

„Macht's gut!“, rief ihnen Hermann nach. „Drückt auf E wie Erdgeschoss! Und gute Besserung, Terence!“

„Danke, sagte Terence, aber als sich die Tür schloss, rief Laura laut: „Wie kommen wir denn wieder hier hinunter?“

„Stellt euch an die Treppe und ruft alle zusammen dreimal: Hermann, hilf!“, hörten sie noch schwach eine Stimme, dann gab es einen Ruck, der Fahrstuhl zuckelte nach oben. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann hielt er mit einem Ruck und die Tür öffnete sich wieder. Sie taumelten hinaus und standen in der lärmdurchfluteten Mensa ihrer Schule. Es musste gerade große Pause sein, denn überall drängten sich Schüler, die in Butterbrote bissen und an Plastikflaschen nuckelten. Als Terence sich umdrehte, konnte er keine Fahrstuhltür sehen. Sie mussten zwischen den beiden großen Heizkörpern neben dem Musiksaal herausgekommen sein. Er zeigte seine Entdeckung den anderen, die sich aber gar nicht groß darüber wundern konnten. Sie standen etwas ratlos da, als Smilla plötzlich auftauchte.

„Da ist ja Terence!“, rief sie. Dann kamen Vanessa, Saskia und Mara, danach Veit, Malte und Florian und bald waren alle aus ihrer Klasse um sie versammelt. Delal kam als letzte und fragte: „Wo ist denn Terence?“

„Wo warst du, denn?“, fragte Luca.

„Terence ist hingefallen und hat sich den Kopf aufgeschlagen“, erklärte Annika schnell.

„Und wer hat ihm den Verband angelegt?“, wollte Herr Ellenberg wissen, der auch hinzugetreten war.

„Das war Annika, erklärte Levke. Der Lehrer schüttelte den Kopf. „So schnell?“, fragte er.

Laura blickte unruhig zu den anderen. „Wieso, wir waren doch ...“ (mindestens eine Stunde verschwunden, wollte sie sagen), doch Levke trat sie heimlich vors Schienenbein. „Wir müssen Terence zum Arzt bringen“, sagte sie energisch.

„Aber natürlich!“, rief Herr Ellenberg und nahm Terence behutsam zur Seite. Er führte den Jungen bis zur Hausmeisterloge. „Wartet hier!“, sagte er und lief die Treppe hinauf zum Sekretariat.

„Kein Wort über unser Geheimnis!“, zischte Levke. „Wir sprechen uns morgen vor dem Unterricht!“ Die anderen nickten. Herr Ellenberg kehrte zurück und wollte Terence beruhigen. „Gleich kommt der Krankenwagen, mein Junge!“

Terence brauchte aber gar nicht beruhigt zu werden, denn er grinste Laura an. Die grinste zurück.

„Darf ich mitfahren?“, fragte Annika, als die Sanitäter angelaufen kamen.

„Nein, das schafft der Terence alleine“, sagte Herr Ellenberg mit Nachdruck. Terence drückte heimlich Annikas Hand und flüsterte so leise, dass es kein anderer hören konnte: „Danke, Annika!“ Dann führten sie ihn zum Krankenwagen. Annika blickte ihm nach und fragte sich, ob sie nach diesem gemeinsamen Abenteuer nun doch noch Freunde werden könnten.


 

Glibberpudding

Am nächsten Morgen standen Annika und Levke bereits in der Mensa, als Laura ankam. „Hallo Annika!“, rief sie. „Ist Terence schon da?“ Terence stieg gerade aus dem Auto, mit dem seine Mutter ihn in die Schule gebracht hatte.

„Zeig mal!“, sagte Levke, als er zu ihnen trat und mit seinem Gipsarm wedelte. „Tut's noch weh?“

„Nö!“ Terence schüttelte den Kopf, an dem ein dickes Pflaster klebte. „Ist nur angebrochen, muss aber vier Wochen dranbleiben“, erklärte er stolz. „Da habe ich echt Pech gehabt; wenn's der rechte wäre, brauchte ich nicht zu schreiben, aber so ...“

„Wann gehen wir wieder runter?“, fragte Laura.

„Na heute noch, auf jeden Fall!“, rief Terence.

„Dann pass' aber besser auf, damit du dir nicht auch noch den rechten Arm brichst!“, stichelte Laura.

Annika zog die anderen zu der Wand, aus der sie gestern nach der Fahrstuhlfahrt herausgekommen waren.

„Hier muss doch irgendwo eine Tür sein“, sagte sie mit Ungeduld in der Stimme. Sie suchten die Wand sorgfältig ab, konnten aber keine Spur von einem Aufzug finden. Die Schulglocke weckte sie aus ihren Träumen.

„Mist, jetzt haben wir Mathe!“, stöhnte Laura. „Wann gehen wir nach unten?“

„In der großen Pause!“, sagte Annika und rannte zum Klassenraum.

Herr Karschin, ihr Klassenlehrer, hatte aus unerfindlichen Gründen beschlossen, eine Untersuchung anzustellen, um den Vorfällen des gestrigen Tages auf den Grund zu gehen. Also mussten sich unsere vier Freunde eine unangenehme Frage nach der anderen gefallen lassen. Was sie in der Pause getrieben hätten, wo der Unfall geschehen sei, wer hinter Terence her gerannt war, wieso das mit dem Verband so schnell gegangen sei (das wollte Herr Ellenberg ganz genau erklärt haben, der würde gleich in der Deutschstunde sowieso noch viele Fragen stellen) und so weiter und so weiter. Levke fürchtete schon, dass einer von ihnen ihr Geheimnis gleich vor allen Klassenkameraden ausplaudern würde, als Terence die rettende Idee kam.

„Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke“, sagte er und war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase. Das „bisschen blass“ ist natürlich völlig untertrieben, denn das Gesicht, das Terence jetzt aufgesetzt hatte, muss schon sehr eindrucksvoll gewesen sein, und Herr Karschin hörte auf, verfängliche Fragen zu stellen und gab ihnen schwierige Rechenprobleme auf. So ging die Mathestunde vorüber und die Deutschstunde begann. Herr Ellenberg schien Verdacht geschöpft zu haben.

„Jetzt haben wir den Salat!“, dachte Annika. „Der lässt sich nicht durch eine blass braune Jungennase ablenken.“ Aber als nach ein paar gezielten Fragen nicht nur Levke, sondern auch Annika nur wortkarg antworteten und dann Laura völlig verstummte, stutze er und wollte nun alles genau wissen.

Plötzlich meldete sich Leyla und erklärte, dass ihr Computer gerade unscharfe Bilder zeige, die sie noch nie gesehen habe. Als Herr Ellenberg sich das angesehen hatte, murmelte er etwas von „Keller? Haben wir hier doch gar nicht. Grünes Leuchten − ein Aufzug? Hmmm. Vielleicht im Neubau vor der Aula? Wo kommen diese Bilder denn her? – Seltsam. Muss mal dem Hausmeister Bescheid sagen, vielleicht ist was mit unseren Computern nicht in Ordnung ...“ in seinen grauen Bart und widmete sich anschließend mit ganzer Hingabe seinem Lieblingsthema, der Grammatik der deutschen Sprache. Die vier atmeten auf.

Als endlich die große Pause begann, gingen sie möglichst unauffällig aber gezielt auf den Gang zu, in dem die geheimnisvolle Tür unter der Treppe lag. Sie hatten einige Mühe, Tim abzuschütteln, der unbedingt sein Autogramm auf Terence' Gipsverband schreiben wollte, und Maria hatte etwas „ungeheuer Wichtiges“ mit Laura zu besprechen, aber schließlich gelang es ihnen, ungesehen bis zur Treppe vorzudringen. Laura zog an dem Hebel der niedrigen Tür, die sich wie beim ersten Mal quietschend öffnete.

„Schnell hindurch, bevor uns jemand sieht!“, sagte Annika und zog die andere hinter sich her. Sie blieben auf der obersten Plattform der Spindeltreppe stehen, bis die Tür hinter ihnen zuschlug.

„Und nun?“, fragte Levke in der Dunkelheit, die sie umgab.

„Pass bloß auf, dass du nicht wieder runterfällst!“, sagte Laura. Terence schwieg.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Annika.

„Wir rufen Hermann!“, entschied Laura.

„Hermann hilf!“, rief Terence zaghaft.

„Lauter!“, forderte Annika, „wir müssen gemeinsam dreimal rufen.“. Dann riefen alle vier so laut sie konnten: „Hermann hilf! Hermann hilf! Hermann hilf!“ Sie hörten, wie das Echo ihrer Stimmen aus der Tiefe wieder zu ihnen zurück kam. Zuerst geschah nichts, aber dann konnten sie einen Lichtschein erkennen, der von unter aufstieg und sich ihnen schnell näherte.

Es war Hermann, der kichernd vor ihnen in seinem grünen Licht schwebte und ihnen zurief: „Na, da sind ja unsere unternehmenslustigen Sextaner wieder. Und heute soll es auf große Abenteuerfahrt gehen? Aber es hat doch keiner mehr Angst vor Hermann?“ Dabei blickte er Terence an, der seinem Blick auswich „Was macht dein Arm, Terence?“

„Geht so“, murmelte der nur.

„Na dann will ich euch mal hinunter fahren.“

Hermann schwebte zum obersten Treppenabsatz und drückte ganz oben auf die Spindel. Mit einem Ruck begannen sich die Stufen nach unten zu bewegen. Unsere Freunde sahen, dass sich die Spindeltreppe in eine Rolltreppe verwandelt hatte. Sie traten einer nach dem anderen auf eine Stufe und ließen sich in die Tiefe fahren. Nach zwei Umdrehungen wurde die Fahrt immer schneller und schneller. Sie mussten sich am Geländer festhalten, das auch mit in die Tiefe sauste und Terence quiekte vor Vergnügen. Laura wurde schwindelig und sie stöhne: „Mir wird kotzübel!“ Plötzlich stoppte die Rolltreppe, denn sie waren unten angekommen. Hermann schwebte auf die Tür zu, die sich wieder lautlos öffnete und sie betraten den großen Saal.

„Kommt mal mit zu mir in meine Pförtnerloge“, sagte Hermann, „ich spendiere euch jedem einen Glibberpudding.“

Sie folgten Hermann, der in seinen Lichtschein gehüllt über den steinernen Fußboden schwebte, und Laura stellte sich vor, wie widerlich Glibberpudding schmecken musste und ihr wurde noch übler. In der Halle lungerten wie gestern viele Gestalten herum, die ihnen aber noch undeutlicher vorkamen als am Vortage. Annika entdeckte einen untersetzten, bärtigen Mann, der versonnen neben einem der Tische stand und einen Zettel anstarrte, auf dem viele kleine Zeichnungen zu sehen waren.

„Das ist bestimmt Theodor Storm“, dachte sie, den hat sich Herr Ellenberg ausgedacht, als wir sein Gedicht von der Stadt auswendig lernen mussten!“

Levke fielen zwei Männer auf, die sich mit einer älteren Frau unterhielten. Alle drei waren so seltsam gekleidet, und als ein braunes Huhn gackernd vorbeilief, wusste Levke, dass es die Brüder Grimm waren, die sich gerade ein Märchen erzählen ließen.

Als sie in Hermanns Pförtnerloge eingetreten waren, bot der ihnen ein paar wacklige Stühle zum Sitzen an und kramte in einer tiefen Truhe, in der ein schwacher Lichtschein glomm. Endlich schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Er gab jedem einen Becher mit einer gallertartigen Masse. „Probiert mal! Glibberpudding hört toll!“

„Schmeckt toll, wolltest du sagen“, sagte Laura.

„Probieren kommt vor Studieren! Na los!“, grinste Hermann und kippte sich den ganzen Glibber aus seinem Becher in den Mund. Dann verzog er das Gesicht, ballte die Fäuste und drehte sich immer schneller im Kreist. „Toll!“, rief er, „einfach toll! Ich liebe diese Musik!“

Annika tauchte den Zeigefinger ihrer rechten Hand in den Glibber, der in allen Farben schimmerte, aber dabei doch seltsam farblos aussah und leckte vorsichtig daran. Sie schmeckte überhaupt nichts, aber sie hörte einen wunderschönen Klang, der rasch verging. Die anderen guckten sie erwartungsvoll an.

„Das klingt gut“, sagte sie, langte mit dem Finger eine größere Menge Glibber aus dem Becher. Mit einem Schlag verschwand die Welt um sie herum und sie schwebte in einem Meer von Tönen und Klängen. Annika hatte zunächst das Gefühl, als ob diese Musik von allen Seiten auf sie eindrang, aber dann merkte sie, dass die Klänge in ihrem Innersten selbst entstanden. Ihr eigener Körper hallte wie eine Glocke und sie spürte jeden Ton in allen Fasern ihres Körpers. Dann war die Musik verklungen und sie sah wieder die Gesichter der anderen, die sie erwartungsvoll anblickten.

„Es schmeckt nicht bitter?“, fragte Levke und guckte Annika skeptisch an.

Annika konnte nichts mehr sagen als: „Das war schön. Probiert es doch auch!“ Sie nahm ihren Becher und goss sich den ganzen Glibber auf einmal in den Mund. Wieder verschwanden alle Bilder mit einem Schlag und sie fühlte sich auf einer Woge von Tönen davongetragen. Es war wie eine wunderschöne Sinfonie, aber alle Töne klangen auf einmal; Geigen sangen, Trompeten schmetterten, Klarinetten und Flöten jubilierten, Pauken dröhnten, aber dann überließ sich Annika ganz der aus ihr heraus und in sie hinein flutenden Atmosphäre. Sie war die Musik, sie war die Farbe, sie war die Wärme, sie war überall und in allem. In ihr war die ganze Welt und sie erfüllte den Raum. Keine Zeit verging, alles war eins und zumal. Sie fühlte ein nie gekanntes Glück, sie war voll und ganz bei sich.

Auf einmal - ganz von ferne - klang etwas, kam ihr entgegen, leise zunächst, dann kräftiger; etwas anderes, das nicht klang wie sie, dem sie ausweichen wollte, das dann aber fordernder wurde und immer näher kam. Andere Töne, fremde Rhythmen, ein Dröhnen zunächst, dann ein schrilles Pfeifen, das sie erschreckte, ein Summen, Brummen, Knistern, Rauschen, Klirren und Surren, das sich zu Radau steigerte und in einem wahren Tumult gipfelte. Annika glühte wie im Fieber, sie taumelte vor Begeisterung, sie war aufgeregt und berauscht von den fremden Rhythmen, die wie Feuer in sie eindrangen und sie schwindeln machten. Etwas kam näher, wollte sich zu ihr gesellen, sie stieß es aber weg; es verklang allmählich und sie überkam ein Gefühl der Leere, sie spürte den Verlust und wurde traurig. Alle Klänge waren verschwunden und sie öffnete die Augen. Gerade noch konnte sie die verzückten Gesichter ihrer Klassenkameradinnen sehen, die aber auch wieder zu sich fanden und mit großen Augen aufblickten. Nur Terence schien noch in der Traumwelt zu schweben, und der Anblick seines Gesichts ließ in ihr noch einmal eine ferne Ahnung der Klänge nachhallen, die sie vor wenigen Minuten noch eingehüllt hatten. Dann erwachte auch Terence und starrte die anderen sprachlos an.

„Was war das?“, fragte Laura.

„Glibberpudding!“, antwortete Hermann und strahlte in blendendem Grün. „Die tollste Leckerei, die es je in der Geisterwelt gegeben hat. Kostet übrigens ein Abenteuer.“

„Ein Abenteuer?“, fragte Terence erstaunt.

„Klar, ein Abenteuer. Oder glaubt ihr etwa, hier wäre etwas umsonst? Näh, Freunde, nix ist umsonst. Auch die Geisterwelt hat ihre Preise. Ihr müsst dan Glibberpudding mit einem Abenteuer bezahlen! So ist das nun einmal hier bei uns Gesetz!“

„Aber wir müssen wieder nach oben, die dritte Stunde hat längst begonnen“, sagte Levke ängstlich.

Hermanns grünes Gesicht grinste breit. „Haben wir schon wieder alles vergessen, Töchterchen?“, fragte er mit süffisantem Grinsen. „Wollen wir schon wieder ängstlich zur Mutter laufen - Oder wollt ihr endlich euer Abenteuer erleben und mich für mein Glibberpudding bezahlen?!!“, brüllte er so laut, dass ein anschwellendes Echo die große Halle wie eine Glocke schwingen ließ.

„Reg' dich bloß nicht auf“, beschwichtigte Annika ihren Freund, der auch sogleich mit dem Brüllen aufhörte und sie wieder freundlich anblickte. „Aber wie erklären wir unseren Lehrern, wo wir so lange gesteckt haben?“

„Sextaner denken auch keinen fünf Minuten weit“, stöhnte Hermann. „Erinnert euch einmal an gestern, Wie lange wart ihr hier bei mir in der Unterwelt? Hä!“

„Ich habe bestimmt eine Stunde unten an der Treppe gelegen!“, rief Terence.

„Und die Verbinderei hat auch eine halbe Stunde gedauert“, ergänzte Annika.

„Aber als du uns nach oben gefahren hast, war die Pause noch gar nicht zu Ende“, sagte Levke, „das ist mir schon gestern aufgefallen.“

„Ja, du Schlaubergerin!“ rief Hermann. „Und nun denkt einmal nach!“

„Es vergeht keine Zeit, wenn wir hier unten bei dir sind?“, fragte Annika.

„Fast keine“, sagte Hermann, der vor Aufregung oder Begeisterung wieder hellgrün strahlte. „Das ist wie im Traum. Ihr braucht nur die paar Minuten, um die Treppe zu mir hinunter zu steigen, und ich fahre euch danach wieder nach oben. Was zwischendurch geschieht, wird auf keinem Konto verbucht.“

„Auf keinem Konto?“, fragte Terence. „Was meinst du damit?“

„Na, ihr verliert keine Zeit, das meine ich nicht nur, sondern das ist ein ehernes Gesetz der Gespenster und Träumer. Wenn ihr hier zu uns kommt, dann könnt ihr Abenteuer erleben, so lange, wie ihr wollt, beziehungsweise so lange, bis euch schlecht wird!“

Hermann hatte wieder sein süffisantes Grinsen aufgesetzt. „Aber wenn ihr dann wieder oben bei euren Leuten aufkreuzt, dann scheint die Zeit stehen geblieben zu sein; die merken nix, rein gar nix von eurer Abwesenheit. Denen kommt es so vor, als wäret ihr mal eben zum Klo gegangen. Mehr kriegen die nicht mit.“

Die vier Freunde staunten. Dann muss jeder von uns jetzt sein Abenteuer erleben?“, fragte Terence.

„Nicht jeder! Einer reicht voll und ganz. Der kann die anderen mitnehmen. Gemeinsam macht es viel mehr Spaß. Also, wer will anfangen?“

„Sie blickten einander unsicher an, aber keiner sagte etwas.

„Na, dann überlegt in Ruhe“, unterbrach Hermann das Schweigen. „Ich zeige euch zunächst unsere Welt.“

„Sag mal, Hermann, gibt es eigentlich noch mehr von deiner Sorte hier unten?“, wollte Annika wissen.

„Näh, Freunde; ich muss alles hier unten alleine machen“, sagte Hermann und strahlte dabei in seinem hellsten Grün. „Aber wir haben ja Zeit, viel Zeit, unendlich viel Zeit!“

„Und wie bist du hierhergekommen?“, fragte Annika weiter. Hermann antwortet nicht gleich und alle merkten, dass ihm diese Frage ungelegen kam.

„Naja,“ sagte er gedehnt und zögerlich. Er blickte verlegen an ihnen vorbei. „Ich war früher einmal Hausmeister da oben!“, er deutete dabei mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand zur Decke. „Und dann kamen die ..., ach, ich erzähle es euch ein andermal!“ Gleich darauf schwebte er los und die anderen folgten ihm. Die große Halle mit ihrem diffusen Licht war auch heute mit vielen Gestalten angefüllt, die zumeist nur schemenhaft unter ihren Umhängen zu erkennen waren. Manche wirkten größer und kräftiger, andere klein und schwächlich. Laura versuchte, die Gesichter zu erkennen, die meist unter Kapuzen verborgen waren, aber es gelang ihr nicht; es war wie mit einem unscharfen Bild oder als wenn sie durch eine angelaufene Scheibe blicken würde. „Warum haben die alle so undeutliche Gesichter?“, fragte sie.

„Weil sie bloß geträumt wurden; wenn sie hier bei uns ankommen, sind sie noch deutlich zu sehen, aber wenn sich  niemand an sie erinnert, dann vergehen sie allmählich.“

„Was heißt das, sie vergehen?“, wollte Levke wissen.

„Sie verschwinden, lösen sich in Nebel auf, sind weg. Aber ihr müsst sie mal sehen, wenn sie aufgeweckt werden!“, kreischte Hermann. „Dann ist was los!“

 Plötzlich erstarrte Hermann und sein Leuchten wurde ganz schwach. Die vier schauten ihn an und Levke fragte: „Was ist los, Hermann?“

„Da kommt der Direktor!“, flüsterte der kleine Mann und starrte weiter in dieselbe Richtung. Sie folgten seinen Augen und sahen einen roten Lichtschein, der sich ihnen näherte. Die schemenhaften Gestalten der Träume wichen vor der Leuchterscheinung zurück. Es schien Annika, als wenn sie von dem roten Licht abgestoßen würden. Das Leuchten kam näher und sie erkannten einen kleinen Mann, der wie Hermann über dem Boden schwebte. Sein Körper leuchtete ganz ähnlich wie der Hermanns, aber das Licht, das er ausstrahlte, waberte rötlich um seine Gestalt herum. Jetzt hatte er die Gruppe erreicht und sie konnten spüren, dass Hermann sich vor dem anderen Gespenst fürchtete.

„Na, ihr Nichtsnutze!“, fuhr das rote Gespenst die Freunde an, „habt wohl nichts Ordentliches zu tun, dass ihr eure Zeit hier unten verplempern müsst? Aber wartet nur, euch erwische ich schon noch!“ Sie sahen in ein missmutiges Gesicht mit stechenden Augen, einer spitzen Nase und einem großen Mund, aus dem ihm beim Sprechen der Speichel herausspritzte.

„Das sind die Neuen, Herr Direktor“, sagte Hermann, ohne den anderen direkt dabei anzuschauen.

„Wir waren gestern schon mal hier“, sagte Terence. Der Direktor flog auf ihn zu, bis sein rotes Gesicht dicht vor dessen Nase schwebte.

„Wer hat dich denn gefragt?“ stieß er wütend hervor. „Halte deinen Mund und tu, was man dir sagt, sonst wird es ein schlimmes Ende mit dir nehmen, vorlauter Bengel!“

Terence wollte etwas erwidern, aber Hermann, der hinter dem Professor schwebte, schüttelte so dringlich den Kopf, dass Terence lieber schwieg. Der Professor drehe sich von Terence weg und guckte sich jedes der drei Mädchen genau an.

„Das sind also die Neuen, murmelte er. Und Mädchen sind auch dabei. Damit ihr gleich Bescheid wisst, ich halte überhaupt nichts von diesen überflüssigen Träumen. Wenn Jungen ihrer Fantasie die Zügel schießen lassen, ist das schon schlimm genug. Aber bei Mädchen ist das noch viel schlimmer. Alles wertlos und unnütz. Ihr solltet besser etwas Ordentliches lernen, als hier eure Zeit zu vertrödeln.“

Als er sprach, spritzte ihm die Spucke aus dem Mund; das fanden die drei ganz widerlich, aber ihm schien das nichts auszumachen. Der Direktor fuhr unbeirrt fort:

„Wenn ihr aber unbedingt hierher kommen müsst, so denkt daran: Jeder hat sich hier unten an die Schulregeln zu halten. Und ich verstehe keinen Spaß, merkt euch das! Hermann!“

„Ja, Herr Direktor.“

„Zeigen Sie den Neuen am besten gleich unsere geschlossene Anstalt, damit sie auf keine dummen Gedanken kommen!“ Ohne Gruß schwebte er davon und verschwand in einem der Gänge.

„Wer war das?“, wollte Annika wissen.

„Das war der Direktor dieser Schule“, erklärte Hermann, dessen Leuchten wieder kräftiger geworden war.

„Hier unten gibt es auch einen Direktor?“, fragte Laura.

„Natürlich. Irgendwer muss den ganzen Laden doch leiten und verwalten,“ sagte Hermann.

„Dann gibt es auch Lehrer hier unten?“, fragte Terence erstaunt.

„Lehrer verirren sich selten zu uns, die haben doch keine Fantasie.“

„Doch, Herr Ellenberg schon“, dachte Laura und stellte sich vor, ihrem Deutschlehrer hier unten zu begegnen.

„Und warum ist dieser spuckende Kerl hier unten?“, fragte Levke.

„Der Direktor war früher Lateinlehrer und hat seine Schüler so sehr gequält, dass er zur Strafe ein Gespenst wurde und nun hier den Schulleiter spielen muss.“

Hermann sah sich nach allen Seiten um. Dann flüsterte er: „Ihr müsst euch vor ihm in acht nehmen.“

„Warum?“

„Wir nennen ihn den Spielverderber.“

„Den Spielverderber?“, wunderte sich Levke.

„Er mischt sich immer wieder in die Abenteuer ein, und dann kann's gefährlich werden. Passt also auf, dass er euch nicht in die Quere kommt.“

Hermann hatte sich umgedreht zum Zeichen, dass er dieses Gespräch nicht fortsetzen wollte, und war mit ihnen in einen der Gänge geschwebt, die seitlich vom großen Saal abzweigten. „Kommt mit, der Direktor will, dass ich euch unsere geschlossene Abteilung zeigen soll!“

„Geschlossene Abteilung?“, wunderte sich Terence. „Was ist das denn?“

Sie waren schon eine Weile in die Tiefe des Gangs hineingelaufen, als sie einen Lärm hörten, der immer mehr anschwoll. Er kam vom Ende des Gangs und schien aus einem wirren Gemisch von Schreien, Brüllen und Kreischen zusammengesetzt zu sein; dieser Lärm schwoll immer mehr an, als sie sich einem Gitter näherten, der einen Raum am Ende des Gangs versperrte.

Hinter der Absperrung erkannten sie zunächst nichts, sie sahen nur ein quirlendes Durcheinander von Schatten und Schemen, dann aber konnten sie verschiedene Gestalten voneinander unterscheiden. Annika blickte auf ein verschwommenes Knäuel, da sah sie plötzlich ganz deutlich eine fette Riesenspinne mit aufgeblähtem Bauch und stechenden Augen, die sie anstarrten. Annika konnte den Blick nicht aushalten und schaute weg. Da war ihr, als ob die Spinne wieder undeutlicher wurde und ihr Körper im wabernden Durcheinander verschwand. Den anderen ging es ganz ähnlich; immer wenn einer von ihnen genauer hinsah, so konnte er deutlich eine Troll ähnliche Gestalte, einen Gnom mit hässlich verzerrten Gesicht oder ein anderes Wesen mit schrecklichem Gebiss erkennen. Aber das Unheimliche war, alles was sie anschauten, wurde deutlich sichtbar, ganz scharf und plastisch traten seine Umrisse aus dem Nebel hervor und schreckliche Augen starrten sie an.

Levke hatte gerade einen dieser undeutlichen Nebelklumpen angeblickt, da sah sie, wie sich aus den ungeheuerlichen Umrissen etwas herausschälte: ein großes Tier mit kräftigen Muskeln und einem massigen Kopf; seine grüne Haut glänzte feucht, es richtete sich auf den Hinterbeinen empor und schob seinen aufgedunsenen Kopf mit dem messerscharfen Gebiss nach vorn, witterte durch die Nasenöffnungen und ließ Geifer zu Boden tropfen. Dann öffnete es sein riesiges Maul, ein roter Schlund wurde sichtbar und ein markerschütterndes Gebrüll erscholl. Sie sprangen zurück und klammerten sich ängstlich aneinander. Nur Levke konnte ihren Augen nicht von dem Schrecken lösen, der nun nicht mehr hinter den Gittern gefangen war, sondern davor stand, sich reckt, den fleischigen Kopf hin und her pendeln ließ, mit seinen kleinen Augen seine Beute fixierte und zum Sprung ansetzte. Da fuhr etwas zwischen das Untier und Levke, schreiend und gestikulierend.

„Guck weg! Schau es nicht an! Schließ die Augen!“ Es war Hermann und er kam in letzter Sekunde, denn Laura roch schon den stinkenden Atem des Tieres, Terence sah den riesigen Schatten, doch dann blickte Levke zur Seite und bedeckte ihre Augen mit beiden Händen. Sogleich war die Erscheinung verschwunden. Sie hockten vor Schrecken gelähmt am Boden und Hermann schwebte aufgeregt vor ihnen.

„Mein Gott! Mein Gott! Das hätte ich euch sagen müssen, das hätte ich auch sagen müssen!“, stammelte er immer wieder, und sein grünes Leuchten pulsierte unregelmäßig.

„Was hättest du uns sagen müssen?“, fragte Annika.

„Dass ihr einem Alptraum nie in die Augen sehen dürft!“; rief er. „Denn sonst gewinnt er Macht über euch und kann euch vernichten.“

„Ein Alptraum?“ Levke blickte vorsichtig durch ihre Finger in Richtung der Gitterstäbe, hinter denen nur noch das quirlende Durcheinander diffuser Schatten zu sehen war. Allerdings hatte der Lärm zugenommen und zwang sie, sehr laut zu sprechen, um einander verstehen zu können.

„Hier sperren wir die Alpträume ein, damit sie kein Unheil anrichten“, erklärte Hermann. „Also merkt euch: Ihr dürft niemals einem Alptraum in die Augen blicken! Nur wer sehr mutig ist, kann einen Alptraum beherrschen. Aber das können nur wenige, die meisten schaffen es gerade mal, ihn zu verscheuchen. Also versprecht mir, keinen Alptraum mehr anzustarren!“

Das taten die vier und gingen nachdenklich zurück zum großen Saal. Nur Levke schaute sich mehrmals um, als könne sie sich nicht ganz vom dem lösen, was sie gerade gesehen hatte.

Wartet hier mal einen Augenblick“, sagte Hermann plötzlich. „Da ruft jemand nach mir. Bin gleich wieder da.“ und sann sauste er davon, dass die vier nur noch das grüne Leuchten in einem der Gänge verschwinden sahen.

Sie hatten sich auf Stühle an einem freien Tisch gesetzt und beobachteten das Geschehen im Saal. In einiger Entfernung entdeckten sie eine Gruppe älterer Schüler, die mit einer grauen Gestalt verhandelten, die fast doppelt so groß war wie sie.

„Die kenne ich; eine ist ein Freund meines Bruders“, sagte Laura. „Die müssen in der 7. Klasse sein. Mit wem sprechen die denn da?“

„Der sieht aus wie Arnold Schwarzenegger“, sagte Terence und wollte hinlaufen, aber da zuckte ein Blitz durch den Saal und die ganze Gruppe verschwand in einer blauen Leuchterscheinung, die allmählich verglomm.

„Ob es hier noch mehr solcher Gespenster gibt wie Hermann?“ fragte Annika.

„Frag ihn doch selbst,“ antwortete Levke. Hermann kam nämlich gerade wieder angesaust und lächelte zufrieden.

„Musste gerade ein paar Quartaner nach Pandora schicken?“

„Nach Pandora, dem Planeten der Na'vi?“ wunderte sich Terence. Was wollen die da denn?

„Na, Jake Sully dabei begleiten, wie er mit seinem Avatar den Planeten betritt!“

„Wem wobei begleiten?“, fragte Levke.“

Na, ihr wisst doch, Avatar - Aufbruch nach Pandora!“

„Klasse!“, rief Terence. Da möchte ich auch hin.“

„Das geht aber nicht so einfach.“ Hermann schüttelte den Kopf. „Hier kannst du nur deine eigenen Tagträume aufwecken. Mit anderen ein Abenteuer miterleben, das ginge schon, aber ich glaube nicht, dass einer von euch Kontakt mit Jake Sullys Avatar aufnehmen kann.“ Er blickte sich um, aber von den Schatten, die im großen Saal herumdösten, bewegte sich keiner.

„Seht ihr. Es klappt nur, wenn ihr eure eigenen Träume trefft.“

„Und wie macht man das?“

„Das ist ganz einfach. Ihr ruft einfach euren Traum und schon kommt der angesaust und braust mit euch ab. Also, wer fängt an?“

Die vier schwiegen, als ob sie allen Mut verloren hätten

„Na los, Terence! Du hast den ganzen Schlamassel angefangen, jetzt kannst du auch den Glibberpudding für dich und deine Freunde bezahlen. Wo soll's hingehen?“, fragte Hermann.

„Ich?“, fragte Terence erstaunt. „Was soll ich machen?“

„Du sollst dir ein Abenteuer aussuchen!“

„Und wie geht das?“, wollte er wissen.

„Du brauchst dich bloß an einen Tagtraum erinnern, den du irgendwann einmal während des Unterrichts hattest, dann geht's los.“

Terence dachte angestrengt nach, aber ihm fiel nichts ein; er dachte an seinen Platz in der Klasse, an die Stifte, die er sich ins Haar geklemmt hatte, an den Stuhl, auf dem er immer schaukelte, wenn er sich im Deutschunterricht langweilte, dann sah er plötzlich Ameisen und alles versank um ihn.

 

 

Terence' Traum

Sie standen inmitten von einem endlosen Geröllfeld, dessen rundgeschliffenen Steine zu Hunderten und Tausenden meterhoch aufeinander getürmt waren. Sie blickten sich in der unheimlichen, fremden Landschaft erstaunt um. Im Hintergrund erhob sich ein undurchdringlicher Wald aus Riesenhalmen und ihnen unbekannten Pflanzen, die Dutzende von Metern in den blauen Himmel ragten.

„Wo sind wir?“, fragte Levke; „wohin hast du uns gebracht, Terence?“

„Ich?“, fragte Terence ganz erstaunt. „Wieso ich?“

„Weil das dein Abenteuer ist, du Blödmann!“, sagte Laura.

Plötzlich brach hinter ihnen ein donnerndes Geräusch los. Ein Knattern wie das der Rotoren eines Hubschraubers näherte sich von links. Terence fuhr erschrocken herum und erkannte etwas Riesiges, Blaurotes, das unter sagenhaftem Getöse mit rotierenden Flügeln auf sie zu sauste.

„Hinlegen!“ kommandierte er.

Schon lagen sie am Boden und drückten sich zwischen die Felsen. Das donnernde Etwas schoss dicht über ihre Köpfe hinweg und verschwand hinter einem Felsbrocken.

„Was war das?“ fragte Levke ängstlich.

„Keine Ahnung“ sagte Terence.

Annika begriff als Erste. „Wir sind geschrumpft!“ rief sie.

„Geschrumpft?“ fragte Levke. „Das kann nicht sein!“

„Das eben war kein Hubschrauber, das war eine Fliege!“ rief Annika.

„Du spinnst total!“ schrie Laura Terence an. „Uns in so ein blödes Abenteuer mitzunehmen!“ Plötzlich war ein seltsames Zischen zu hören.

„Was war das eben?“ fragte Terence unsicher. Levke wollte antworten, als Annika laut zu schreien begann. Die anderen fuhren herum und erstarrten. Annika wurde von einem großen Tier zur Seite gezerrt, das sie fest mit seinen Beißwerkzeugen gepackt hatte. Terence und Levke sprangen vor Entsetzen drei, vier Schritte zurück. Ein riesengroßes Insekt - daran gab es keinen Zweifel - hatte sich in Annika verbissen und zerrte das Mädchen hinter sich her. Der hintere Teil des gepanzerten Leibes verschwand langsam zwischen Steinbrocken in einem Loch; die großen, langen Fühler betasteten den Kopf des Mädchens.

Annika schrie: „Helft mir! Helft mir doch!“

Terence löste sich als Erster aus seiner Erstarrung. Mit drei großen Sätzen war er neben Annika und fasste sie am Arm. Er hielt diesen Arm fest, zog und zerrte, aber vergebens. Dann rief er Levke und Laura zu: „Kommt, helft mir!“

Levke bewegte sich als erste, dann folgte Laura: „Ich komme!“ „Ich komme!“ riefen beide und sprangen hinzu.

Das große Insekt war rückwärts bis zum Kopf in das Loch gerutscht und zog Annika mit Riesenkräften hinter sich her. Levke packte den anderen Arm, Laura fasste Annika um den Leib, und nun zogen alle gemeinsam. Auch Annika stemmte sich mit aller Kraft ihres Körpers gegen das zerrende und zischende Untier.

Plötzlich spürten sie einen kräftigen Ruck und fielen kopfüber zu Boden. Annikas Körper schlug auf Levke, Terence stolperte einige Meter zwischen den aufgetürmten Steinbrocken entlang und stürzte mit einem Aufschrei neben Laura zu Boden. Dann war es still.

Als sie sich aufgerappelt hatte, war von dem Untier nichts mehr zu sehen. Laura, der wie den anderen der Schreck noch im Gesicht stand, fasste sich als erste. Levke stand gerade auf und auch Terence war nichts weiter passiert, er hatte sich aber mit seinem Gipsarm abstützen wollen, was sehr wehgetan hatte.

„Gipsarme taugen nichts für Expeditionen in die Wildnis!“ sagte Laura. „Aber wir haben jetzt andere Sorgen; das eben war eine Riesenameise. Wir sind plötzlich kleiner geworden und laufen hier in einer Riesenwelt herum. Wenn es noch mehr von dieser Sorte gibt, geht es uns bald an den Kragen. Was soll das alles, Terence?“

Der schwieg. Also zogen sich hinter einen kleinen Hügel zurück und setzten sich auf die herumliegenden Steine. Levke schien allen Mut verloren zu haben.

„Ich will nach Hause!“ murmelte sie mehrmals leise vor sich hin. „Das ist kein Abenteuer, das ist ein Alptraum!“

Annika stand auf und schüttelte sie an der Schulter.

„Levke! Levke!“ rief sie, „du darfst jetzt nicht den Mut verlieren!“

„Das ist alles deine Schuld, Terence. So ein blödes Abenteuer!“, rief Laura ärgerlich.

Levke guckte sie aus großen feuchten Augen an, und schüttelte den Kopf. „Wir sind verloren! Wir haben uns in der Wildnis verirrt und werden gleich von wilden Riesen-Ameisen aufgefressen!“

„Terence hat also in der Deutschstunde von einer Ameise geträumt und die einmal ein Junge war, der bis in die Hölle gelaufen ist“, knurrte Laura ärgerlich.

Die Unterhaltung stockte, als es plötzlich im Grasdickicht ganz in ihrer Nähe rauschte; riesige Grasblüten brachen mit lautem Getöse um; Samenkapseln - so groß wie Ananasfrüchte - flogen durch die Luft und sausten gar nicht weit von ihnen auf die Steine des Geröllfeldes nieder. Einen Moment später donnerte es so gewaltig, als habe es ein Erdbeben gegeben; von der Erschütterung wurden die vier zu Boden geworfen.

„Wir müssen hier weg!“ rief Annika.

Sie liefen am Rande des Graswaldes entlang, kamen aber wegen der Geröllmassen nur langsam voran. Plötzlich verdunkelte ein riesiger Schatten die Sonne und zog langsam über sie hinweg.

„Ein Elefant!“ rief Levke.

„Quatsch. Elefanten können doch nicht fliegen.“

Der Schatten zog über sie hinweg und landete krachend inmitten des Steinfeldes. Da sahen sie es. Es war mindestens zehn Meter lang und bestimmt fünf Meter hoch.

„Eine Kröte!“ rief Terence. „Eine Elefantenkröte!“

Das rosa Maul der Riesenkröte öffnete sich und heraus drang etwas, das wie eine Keule aussah und mit erheblicher Geschwindigkeit auf die drei zu sauste.

„Weg! Schnell weg!“ rief Annika.

Gerade noch rechtzeitig konnten sie ihren Standort verlassen, da schlug die Keulenzunge bereits an der Stelle ein, wo eben noch Levke gestanden hatte.

„Das ist ein Frosch und der glaubt, wir seien Fliegen und will uns fressen!“ rief Laura und ihre Stimme überschlug sich.

„Schnell, schnell weg von hier!“ rief Annika noch einmal.

Sie rannten, so schnell sie nur konnten. Jetzt zeigte sich, dass sie vorhin richtig beobachtete hatten. Der riesige Koloss von Frosch drehte seine großen runden Glubschaugen langsam hinter den weglaufenden Kindern her, aber bevor er seine Keulenzunge erneut herausschleudern konnte, waren sie aus seiner Reichweite verschwunden.

„Gerettet!“ rief Levke und blieb keuchend stehen. „Er ist zu langsam.“

„Weiter, weiter!“ drängte Annika. „Er kann weit springen, sehr weit sogar!“

Sie liefen wieder los, und es dauerte nur ein paar Minuten, da erschütterte erneut ein schweres Beben die Geröllhalde, sodass die drei noch einmal das Gleichgewicht verloren und zwischen den Steinen zu Boden stürzten.

Annika drängte sofort zum Weiterlaufen. Die vier liefen um ihr Leben, denn das hatten alle begriffen: wenn der Riesenfrosch zu einem dritten Sprung ansetzte, waren sie verloren.

„Terence! Tu doch endlich etwas!“, rief Laura ängstlich.

„Was soll ich denn machen?“ fragte der hilflos.

„Schließ doch endlich deine Augen, das ist doch ein Alptraum. Denk an Hermanns Worte!“

Da endlich kapierte Terence, was los war und hielt sich mit seiner gesunden rechten Hand beide Augen zu.

Sie stolperten mehr als sie liefen; mit einem Mal spürten sie ein Ziehen am ganzen Körper.

„Wir wachsen!“ rief Terence.

Die Steinwüste um sie herum verschwand; das rote Licht hüllte sie ein und dann standen die vier wieder in der großen Halle. Hermann sah sie mit besorgtem Blick an.

„Das wurde aber auch Zeit“, sagte Laura und atmete auf.

 „Immerhin wissen wir jetzt, dass Terence seinen Traum in einem gefährlichen Augenblick abbrechen konnte“, sagte Annika.

„Na, ist alles gut gegangen?“, fragte Hermann.

„Uns ist nichts passiert“, beruhigte ihn Annika.

„Heute nicht“, sagte er mit bedenklicher Miene und sein grünes Leuchten wurde schwächer, „aber ob es auch beim nächsten Mal klappt, weiß keiner“, murmelte er leise. Laut aber sagte er: „Warum hast du nicht schon Schluss gemacht, als es für euch zum ersten Mal gefährlich wurde?“, fragte er Terence.

Der wusste keine Antwort und schwieg betroffen.

„Na ja, aller Anfang ist schwer!“, sagte Hermann, begleitete sie zum Aufzug.

Als sie die Halle durchquerten, in der die Träume undeutlich vor sich hin dösten, fiel Terence eine große Tafel auf, die mit vielen Buchstaben bedeckt war.

„Was ist denn das?“, fragte er und blieb stehen.

„Das ist unsere Traum-Abenteuer-Ehrentafel!“, sagte Hermann stolz.

„Traum-Abenteuer-Ehrentafel? Was ist das denn?“, fragte Annika.

„Da verewigen wir die gelungenen Abenteuer der Schüler. Aber nur, wenn sie gemeinsam einen tollen Traum erleben“, sagte Hermann, „nicht bei einem so verkorksten Alptraum wie dem eben von Terence.“

Levke las: „Jasmin, Johanna, Lukas und Frederik, Quinta c, 1999: Reise zu Anakin Skywalker auf Tatooine, dem Planeten der Huths. Erfolgreiche Teilnahme beim Kapselrennen am Boonta-Abend.“

„Krieg der Sterne, Episode 1!“, sagte Terence lässig. „Da möchte ich auch mal hin.“

Annika entzifferte: „Claudia, Linda, Axel und Felix, Untertertia b, 1976: Erfolgreiche Teilnahme an den Olympischen Spielen in Montreal, Canada. - Toll!“

Terence las: „Horst, Hans, Walter und Wolfgang Quarta a, 1930: Reise mit dem Luftschiff Graf Zeppelin nach London zum Endspiel um die englischen Fußballmeisterschaft. - Klasse!“

Das sind ja nur Jungen!“, rief Annika.

„Und hier auch!“ Laura las eine andere Inschrift vor: „Theodor, Peter, Hartmuth und Ulrich, Tertia 1830: Teilnahme am Trojanischen Krieg als Freunde von Achilles, anschließend Rundreise durchs Mittelmeer mit Odysseus. - Auch nur Jungen!“

„Ja, früher durften nur Jungen auf die Husumer Gelehrtenschule gehen“, sagte Hermann. Heute ist das anders.

„Und deinen Keller gibt es schon seit über hundert Jahren?“, fragte Laura ungläubig.

„Viel länger“, sagte Hermann. „Solange die Schüler von Abenteuern träumen, hat es auch diese Gewölbe gegeben.“

„Wie alt bist du denn?“, wollte Levke wissen.

Hermann lachte. „Das erzähle ich euch später einmal. Jetzt müsst ihr wieder nach oben, kommt“.

Plötzlich stutzte Annika. „Was ist das?“, fragte sie und deutete auf eine schwarze Marmortafel, die eine lange Liste von Namen enthielt. „Thorge, verschwunden im Amazonas 1991“, las sie und weiter: „Christina, vermisst in Australien 1978, Walter, abgestürzt mit der Graf Zeppelin, Lakehurst 1937!“ Annika blieb die Sprache weg.

Levke las weiter: „Thomas, untergegangen mit der Titanic, Nordatlantik 1912, Lothar, verschollen in China, Boxeraufstand 1900, Johannes, am Marterpfahl …“, sie musste heftig schlucken, „massakriert von den Sioux-Indianern 1887!“, und die Liste war noch gar nicht zu Ende.

„Was ist mit denen passiert?“, fragte Laura. Die vier standen wie versteinert.

Hermann blickte verlegen, sagte aber nichts.

„Nun sag schon!“, drängte Levke, der es eiskalt den Rücken hinunterlief.

„Die sind verschwunden“, sagte Hermann leise.

„Verschwunden?“, fragte Annika. „Einfach so verschwunden?“

„Das passiert schon mal“, gab Hermann zu und krümmte sich wie ein Wurm. „Aber ihr braucht keine Angst zu haben, euch kann sowas doch gar nicht passieren, euch doch nicht!“

Da schrie Annika den grünen Geist an: „Du willst und hier unten in Abenteuer schicken und hast uns nicht erzählt, dass man dabei ums Leben kommen kann!“

Hermann sagte gar nicht und starrte nur geradeaus.

„Nun rede schon!“ rief Annika ganz außer sich. „Wieso können Schüler hier unten in Gefahr geraten? Und warum hast du uns das nicht schon vorhin gesagt?“

„Na, das hat mit den Alpträumen zu tun“, sagte Hermann leise. „Die haben eben nicht aufgepasst. Aber ihr wisst ja, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Und ein bisschen Risiko gehört eben dazu. Das ist wie im Sport. Da verunglückt auch mal ein Rennfahrer auf dem Nürburgring oder ein Bobfahrer knallt mit dem Kopf gegen ein Geländer und dann ist es aus mit ihm.“

„Ein bisschen Risiko nennst du das? − Ich will aber nicht im Amazonas ertrinken oder von Indianern massakriert werden!“, schrie Annika ihn an. „Du musst uns genau sagen, welches Risiko mit einer Traumreise verbunden ist!“

„Das habe ich euch doch schon in der geschlossenen Abteilung gesagt. Ihr dürft Alpträumen nicht in die Augen sehen, denn sonst bekommen sie Gewalt über euch.“

„Dann erkläre mir mal, wie man der Titanic oder einem Luftschiff in die Augen sehen soll!“ sagte Laura.

„Ich meine ja nur, ihr sollt euch vorsehen in euren Abenteuern, dann wird schon nichts schief gehen. Wenn du mit dem Fahrrad von Schobüll nach Husum fährst wie Hans-guck-in-die-Luft, dann wirst auch du von einem Auto überfahren.“

„Dann waren das also Unfälle?“, fragte Terence, der immer noch wie gebannt auf die schwarze Marmortafeln starrte.

„Ja, so könnte man das nennen“, sagte Hermann schnell. „Ihr müsst euch nur vorsehen und mutig sein, dann kann euch gar nichts passieren.“

„Wenn das so gefährlich ist, dann verzichte ich lieber auf ein Abenteuer“, sagte Levke leise.

„Quatsch!“, rief Terence. „Mädchen haben vor allem Angst. Ich verzichte doch nicht auf so tolle Abenteuer, nur weil ein früher mal ein paar Memmen einen Unfall hatten.“

„Ich habe keine Angst“, sagte Laura, „aber wenn eine solche Reise wirklich gefährlich ist, dann sollte man genau überlegen, was man tut.“

„Wir müssen uns nur vorsehen, hast doch gehört, was Hermann gesagt hat, dann kann uns nichts passieren!“, sagte Terence.

„Wie du dich vorgesehen hast, haben wir ja gerade gesehen“, sagte Laura.

Sie liefen zum Aufzug und Hermann nickte ihnen zum Abschied zu.

Bald standen sie wieder in der Mensa und die Pause hatte gerade erst angefangen.

„Beim nächsten Mal müssen wir es klüger anfangen!“, schimpfte Laura noch einmal; Terence schämte sich ein bisschen, sagte aber trotzig: „Du brauchst ja nicht mehr mit uns runterzugehen!“

„Ich denke auch gar nicht daran!“, sagte Laura schnippisch und lief davon.

„Du hättest deinen Traum wirklich früher abbrechen müssen!“, sagte Annika zu Terence. „Du hast uns in große Gefahr gebracht.“

„Aber ich habe doch noch rechtzeitig Schluss gemacht und niemand ist etwas passiert“, erwiderte er trotzig. Jetzt standen sie zu dritt in der Cafeteria und wussten nicht so recht, was sie sagen sollte.

„Eigentlich wollten wir unser Geheimnis ja für uns behalten“, begann Annika, „aber ich glaube nicht, dass Laura wieder mit uns runtergeht. Sie hat sich ganz schön über dich geärgert, Terence.“

„Na wenn schon, Dann gehen wir eben zu dritt.“

„Du denkst immer nur an dich“, ärgerte sich Levke.

„Wir könnten aber auch mit anderen aus der Klasse runterfahren“, meinte sie; „Hermann hat doch gesagt, dass auch Schüler aus anderen Klassen den Weg zu ihm gefunden haben.“

 Sie ließen Terence stehen und liefen zu den anderen. Terence trottete langsam hinter ihnen her, bis er Veit und Vladislav sah. Ganz aufgeregt erzählte er ihnen von Hermann und den Tagträumen. Und auch Levke und Laura waren in einer Traube von Mitschülern verschwunden.

So kam es, dass bereits in der zweiten großen Pause fast alle aus ihrer Klasse von ihrem Abenteuer wussten. Und obwohl unsere Abenteurer auch von der schwarzen Marmortafel erzählt hatten, beteuerte jeder Junge, er wolle mit Annika, Laura oder Levke hinuntersteigen. Veit war so begierig, hinunter zu Hermann zu gehen, dass er sogar bereit war, sich die Tür von Terence nicht nur zeigen zu lassen, sondern auch mit ihm (und natürlich mit einem oder zwei Mädchen, von ihm aus auch mit Saskia oder Vanessa) hinunterzusteigen, denn Terence hatte auch die Drei-vier-J-M-Regel erwähnt, die in der Geisterwelt gilt, dass man nämlich mindestens zu dritt und höchstens zu viert, aber Jungen und Mädchen gemeinsam hinabsteigen musste. Und Veit wollte seinen Namen unbedingt auf der Traum-Abenteuer-Ehrentafel lesen und über die schwarze Tafel konnte er nur lachen. Und davon träumten auch die anderen in der Klasse 5a, selbst die Mädchen, die von Laura gehört hatten, welche Gefahren dort unten auf sie lauerten.

 Aber ob sie auch alle den Mut hätten, den dunklen Weg zu Hermann hinabzuklettern? Und ob alle, die sich für den gefährlichen Weg entscheiden, auch unversehrt wieder hinauf kommen?

 

 

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