Rungholt
In Rungholt in der Edomsharde nahe Pellworm wohnten früher reiche Leute, denn sie bauten hohe Deiche und trotzten so der Nordsee fruchtbare Ländereien ab. Wenn sie an Feiertagen auf ihren Deichen entlang wanderten, dann blickten sie nach Südwesten hinaus aufs offene Meer und sprachen: „Trotz nu, blanke Hans!“, Denn so nannten die Menschen im Norden den Sturm, der die große Flut brachte, manchmal die Deiche zerstörte und weite Ländereien überflutete, so dass Menschen und Vieh ertrinken mussten.
Am Weihnachtsabend anno domini eintausenddreihunderteinundsechzig machten die Bauern im Wirtshaus eine Sau trunken, setzten ihr eine Schlafmütze auf und legten sie ins Bett. Dann riefen sie ihren Pastor und forderten, er solle dem Kranken, da er auf Leben und Tod läge, das heilige Abendmahl reichen. Als der fromme Mann sich weigerte und sie ob ihres gottlosen Tuns schalt, verschworen sie sich, dass, wenn er ihren Willen nicht auf der Stelle erfülle, sie ihn in den Graben stoßen und mit Stangen so lange untertauchen wollten, bis er die Englein im Himmel würde singen hören.
Als der Gottesmann merkte, dass sie nichts Gutes mit ihm im Sinne hätten, machte er sich stillschweigend davon. Aber ein paar Burschen zogen ihn mit Gewalt ins Wirtshaus, zwangen ihn zum Trinken und gossen die Büchse, darin das heilige Sakrament gewesen, voll Biers und sprachen gotteslästerlich: Wenn Gott darinnen sei, so müsse er auch mit ihnen saufen!
Wie der Prediger auf seine begütigenden Vorhaltungen seine Büchse hat wiederbekommen, ist er in die Kirche gelaufen und hat Gott angefleht, er möge jene Leute für ihr lästerliches Tun strafen. In der folgenden Nacht wurde er gewarnt: Er solle aus dem Land gehen, denn es werde bald darauf verderben. So stand er auf und machte sich gleich darauf davon. Es erhob sich aber ein ungestümer Wind und Sturm, wie ihn noch kein Mensch je erlebt hatte, und das Wasser kam und stieg vier Ellen hoch über die Deiche. Da mussten Mensch und Vieh jämmerlich ersaufen, und das Land ging unter und mit ihm der Flecken Rungholt und sieben andere Kirchspiele. Die Flut aber wurde die Mandränke genannt.
An einem sonnigen Sommermorgen kündigte Christians Vater an, dass er morgen mit Bekannten eine Wattwanderung unternehmen wollte. Freunde aus einer im Süden gelegenen Stadt waren zu Besuch gekommen, und die sollten etwas Besonderes sehen. Ob Christian mitgehen wolle?
„Wohin denn? Nach Nordstrandischmoor?“, fragte Christian.
„Nein, nach Rungholt! Vielleicht finden wir Spuren von untergegangenen Häusern.“
Und ob Christian wollte! Das hatte er sich schon immer gewünscht, einmal hinaus vor den Deich zu wandern und über die grau spiegelnden Watten zu laufen, weit hinaus in die unendliche Leere zwischen den Inseln und Halligen und dort nach Steinen und Scherben zu suchen. Und nun sogar nach Rungholt, der sagenhaften Stadt weit draußen im Meer, von der allerlei Sagen im Umlauf waren.
„Wann gehen wir los?“
„Morgen um drei; wir fahren mit den Rädern hin.“
„Prima! Kann Rhea mit?“
„Rhea?“
„Die geht in meine Klasse und kommt aus Köln. Sie ist bestimmt noch nie durch das Wattenmeer gelaufen.“
„Meinetwegen, wenn ihre Eltern einverstanden sind.“
Rheas Mutter war einverstanden und ließ ihre Tochter gleich nach der Schule mit zu Christian nach Hause gehen. Dort gab es ein kräftiges Mittagessen, und dann bereitete man sich auf die Expedition vor. Außer Rhea und Christian wollten Klaus und Inge mitgehen, das waren die Freunde, von denen der Vater gesprochen hatte. Alle nahmen Gummistiefel mit, denn Christians Vater hatte vor den scharfen Rändern der Sandklaffmuscheln gewarnt, an denen man sich sehr leicht die Füße aufschneiden konnte.
Mit dem Rad fuhren sie eine Stunde auf engen Wegen zum Deich und dann noch ein gutes Stück auf seiner Krone entlang.
Christian musste Rhea, die noch nie hier draußen gewesen war, alles genau erklären. Er erläuterte ihr Ebbe und Flut, erzählte von den Deichen, die die Menschen seit Hunderten von Jahren am Rande des Wattenmeeres bauen mussten, um das tiefer liegende Land zu schützen, und von den Dörfern und Flecken, die in früheren Zeiten vom Meer verschlungen worden waren.
Dann langten sie an der Stelle an, von wo aus ihre Wanderung beginnen sollte. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, ein warmer Wind kam vom Meer, Möwen strichen über den Deich, Austernfischer schimpften schrill und Schafe blökten. Weit draußen über dem Horizont schwamm etwas auf dem spiegelnden Meer.
„Das ist eine Hallig“, erklärte Christian; „auf der Warft siehst du zwei Häuser.“
„Was ist eine Warft?“, fragte Rhea.
„Das ist ein Hügel, der von der Flut nicht überschwemmt wird und auf dem die Bauernhöfe errichtet wurden.“
Sie stellten ihre Räder zusammen, zogen die Gummistiefel an und stiegen die steile Deichböschung hinunter. Christians Vater versammelte seine Freunde und die Kinder und erklärte ihnen, wie man sich bei einer Wattwanderung verhalten muss.
„Wir haben jetzt ablaufende Flut und genau drei Stunden Zeit, bis das Wasser wieder aufläuft. Ihr müsst euch an folgende Regel halten: Immer zusammenbleiben, Sicht- und Rufkontakt halten, dann kann nichts passieren.“
Endlich gingen sie los.
Rhea wunderte sich, dass man auf dem Meeresboden so gut laufen konnte. Der Schlick trug sie gut, denn das Wasser war vollständig abgelaufen; nur hier und da glänzten Wasserlachen in der Sonne. Überall waren wellenförmige Streifen zu sehen, Muschelschalen lagen herum, sie konnten Spuren von Wattwürmern erkennen und sahen kleine Krebse wegflitzen.
Christians Vater zeigte nach draußen aufs offene Meer: „Da soll Rungholt gelegen haben.“
Christian wusste es genauer: „Vor sechshundert Jahren gab es eine große Sturmflut, dabei sind viele Dörfer hier draußen von den Fluten weggerissen worden.“
Sein Vater ergänzte: „Der größte Ort hieß Rungholt, und die Leute erzählen, die ganze Stadt stehe mit unbeschädigten Häusern tief in der Erde. Manchmal aber tauche sie aus dem Wasser auf und dann könne man die Glocken läuten hören. Aber das ist eine Sage. Niemand weiß, wo Rungholt wirklich gelegen hat; aber manchmal findet man Spuren von alten Siedlungen im Watt, die dann durch die Gezeitenströme freigelegt worden sind. Vielleicht haben wir Glück und finden ein paar Steine und Scherben.“
Sie gingen zügig vorwärts. Bald kamen sie an einen Priel, den sie durchwaten mussten. Das Wasser war ganz flach und wies keine Strömung auf. Auf der anderen Seite sah der Schlick schwarz aus, und sie sanken bei jedem Schritt tief ein.
„Trägt mich das, oder muss man hier versinken?“, fragte Rhea.
„Wenn du den Stiefel schnell wieder herausziehst, kann nichts passieren“, antwortete Christians Vater. „Versinken kann man hier nicht, aber stecken bleiben.“
Rhea bekam einen Schreck.
„Und wenn ich stecken bleibe?“, fragte sie ängstlich.
„Dann musst du hier bleiben, bis die Flut kommt.“ meinte Christian.
„Rede keinen Unsinn“, sagte sein Vater. „Wenn jemand stecken bleibt, ziehen wir ihn wieder heraus!“
So ging es langsamer voran, und der Schlick schmatzte, wenn sie die Stiefel nach jedem Schritt herauszogen.
Christian entdeckte, dass man viel schneller voran kam, wenn man über den Schlick wie auf Schlittschuhen gleitet. Das machte den Kindern großen Spaß. Plötzlich rutschte Christian aus und sauste mit dem Hosenboden in den glitschigen Schlick. Rhea musste lachen, half ihm aber, aufzustehen.
„So ein Mist!“, schimpfte Christian und sah sich seine beschmierte Hose und die schwarzen Beine an.
„Macht nichts, kann man alles waschen!“, lachte sein Vater.
Nach einer halben Stunde erreichten sie einen festeren Wattstreifen.
„Das ist Sandwatt, hier können wir wieder schneller laufen“, erklärte ihr Wattführer. Auch Inge war froh, nicht mehr durch den Schlick stapfen zu müssen, denn sie ärgerte sich über die schwarzen Spritzer, die ihre Hose bedeckten.
Sie gingen längere Zeit über das feste Sandwatt, die Kinder lasen schöne Muscheln auf, die sie in den kleinen Rucksack steckten, den Rhea auf dem Rücken trug. Über den fernen Watten spiegelten sich Wolken vor einem blaugrauen Himmel.
Klaus, der etwas seitlich vorausgegangen war, rief plötzlich: „Hierher! Ich habe etwas gefunden.“
Er war auf einen großen Ziegelstein gestoßen, der halb aus dem Watt herausragte. Sie umringten den Fund, und Christians Vater erklärte:
„Das ist ein Klosterstein. So nennt man die Ziegelsteine, aus denen früher Kirchen und feste Häuser gemauert waren. Hier in der Nähe muss ein Haus gestanden haben.“
Sie hoben den Stein aus dem sandigen Schlick und betrachteten ihn genauer. Er war fast doppelt so groß, wie heutige Mauersteine und an einer Seite von weißen Seepocken besetzt.
Dann schwärmten sie aus, um weitere Siedlungsspuren zu suchen. Vor ihnen lag ein dunkler Streifen im Watt, der sich weit auszudehnen schien.
„Das ist eine Muschelbank“ erklärte Christians Vater.
Sie gingen jetzt durch Tausende und aber Tausende von Muscheln, die auf kleinen, wellenförmigen Hügeln saßen, die sich kaum vom anderen Wattboden abhoben, die aber ein klein wenig über das Wasser hinausragten, das zwischen ihnen in kleinen Pfützen stand.
Ihre Schritte knirschten, wenn sie auf den Muschelbesatz traten. Rhea schauderte, als sie daran dachte, dass Christian zuerst vorgeschlagen hatte, barfuss durch das Watt zu laufen.
Jetzt tauchten vereinzelt weiße Steine zwischen den schwarzblauen Muscheln auf, die ebenfalls von Seepocken bedeckt waren.
„Das sind Findlinge!“, rief Christians Vater zu Klaus und Inge hinüber. „Die hat man früher beim Hausbau benutzt.“
Klaus winkte die anderen erneut zu sich. Aus dem Watt ragte ein brauner Gegenstand mit einem Loch in der Mitte hervor.
„Holz, das ist altes Holz“, sagte Christians Vater.
Sie standen vor einem alten Eichenpfahl, dessen Stumpf aus dem Boden ragte. Rings umher wurden nun immer mehr Holzstücke sichtbar; sie waren tief braun oder schwarz, und als Christian und Rhea das alte Holz anfassten, zerbröckelte es ihnen unter den Fingern. Manche Stücke waren in Reihen angeordnet und schienen runde Pfosten gewesen zu sein. Andere lagen flach auf dem Boden, das waren Bretter, die nur mit der Kante aus dem Schlick herausschauten. Dazwischen steckten immer wieder zerbrochene Klostersteine.
„Hat hier Rungholt gelegen?“, fragte Rhea.
„Das ist durchaus möglich“ antwortete Christians Vater. „Zumindest sind wir auf die Spuren eines Dorfes gestoßen, das einst an dieser Stelle stand.“
Christian, der weiter vorwärts gegangen war, entdeckte eine kreisrunde Stelle im Watt. In der Mitte stand eine Wasserpfütze.
„Ein alter Sodenbrunnen“ sagte Klaus und erklärte seiner Frau und den Kindern, dass die früheren Bewohner Torfsoden zu Ringen aufgesetzt hatten, in deren Mitte ein Fass stand und in dem sie das Regenwasser sammelten.
„In dieser Gegend konnte man nämlich keine Trinkwasserbrunnen bauen.“
„Und warum nicht?“, wollte Rhea wissen.
„Weil das Grundwasser hier viel zu salzig ist.“
Auch die Überreste eines solchen Fasses entdeckten sie bald. Die Dauben ragten bis zu dreißig Zentimeter aus dem Schlick und ließen die Form des alten Gefäßes noch gut erkennen. Rhea konnte dreizehn Dauben zählen.
Diesmal rief Inge alle zu sich, sie hatte nämlich eine Stelle entdeckt, auf der Steine regelmäßig zusammenlagen und ein gepflastertes Rechteck bildeten.
„Ob das eine Feuerstelle war?“, fragte sie.
„Möglich“, antwortete Christians Vater, „oder eine umgestürzte Wand.“
Die Steine waren ebenfalls aus Ton gebrannt, aber aus gelbem Material, und sie waren nur halb so groß wie die Klostersteine. Zwei Schichten lagen übereinander.
Rhea bückte sich; sie las ein paar Scherben auf und zeigte sie Klaus.
„Das sind Tonscherben von Töpfen oder Tellern“, sagte er.
Jetzt begannen alle damit, nach Scherben zu suchen.
Bald hatte jeder etwas Interessantes gefunden, und manches schöne Einzelstück wanderte in Rheas Rucksack. Nur schwerere Teile steckte Christians Vater ein.
Nachdem sie noch Reste einer alten Straße gefunden hatte, entschied Christians Vater, dass sie nun zum Festland zurückkehren sollten.
Der Himmel hatte sich bezogen, die Sonne schien nicht mehr, und es war merklich kühler geworden.
Sie schlugen einen Bogen, um einem breiten Priel auszuweichen, der sich zwischen die Muschelbank auf der alten Siedlungsstelle und das Sandwatt geschoben hatte, über das sie hierher gekommen waren. Er mündete weiter im Süden in den großen Strom, der den Schiffen auch bei Ebbe den Zugang zum Husumer Hafen ermöglichte.
Der Wind hatte aufgefrischt und blies immer kräftiger aus Westsüdwest.
Rhea blickte auf den Boden, auf dem die Muschelbänke mit den hellen Sandflächen abwechselten, und suchte weiter nach Scherben; plötzlich blieb sie stehen, denn sie hatte etwas Rundes gesehen. Sie bückte sich und konnte vorsichtig einen Krug bergen, der nur mit einer Seite im Schlick steckte. Sie hob das Stück empor und erkannte, dass es vollständig war, nur der Boden fehlte.
Da blinkte etwas im Sand. Wieder bückte sie sich und fasste mit ihrer rechten Hand eine runde Scheibe. Es war eine Goldmünze. Darunter schienen noch mehr zu liegen. Rhea kniete sich neben die Stelle nieder und begann, vorsichtig im schwarzen Schlamm zu graben. Immer mehr Münzen kamen ans Tageslicht; kaum waren sie in einer kleinen Pfütze zu Rheas Rechten etwas abgespült, so glänzten ihre flachen Seiten munter im Licht.
Rhea hatte bald einen ganzen Haufen Goldmünzen aus dem schwarzen Schlick geborgen und steckte sie in den Krug ohne Boden, den sie mit der Seite auf die Muschelbank gelegt hatte. Immer neue Münzen kamen zum Vorschein.
Über ihrer Arbeit war ihr ganz warm geworden; sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und wollte Christian rufen, doch der war nicht mehr da. Rhea blickte sich um, konnte aber zunächst nichts erkennen. Sie stand erschrocken auf und sah in eine Nebelwand, die ihr jeden Ausblick versperrte. Rasch drehte sich das Mädchen um, doch es war überall dasselbe.
Undurchsichtige milchige Nebelschwaden umgaben sie von allen Seiten. Sie blickte nach oben. Die Sonne war hinter dunklen Wolken verschwunden; der Wind hatte wieder aufgefrischt und die Nebenschwaden flogen über die Watten. Rechts konnte sie einige Stangen erkennen, die sie auch vorher bereits gesehen hatten. Christian meinte, das seine Zeichen für die Schiffe, die auf diese Weise den tiefen Priel erkennen konnten, wo genügend Wasser war, damit sie nicht auf das trocken gefallene Watt aufliefen.
Rings um sie herum war keine Menschenseele zu sehen. Ein furchtbarer Schreck durchfuhr das Mädchen. Sie war allein im Wattenmeer, mutterseelenallein! Der Nebel flog in Fetzen an ihr vorbei. Immer neue Schwaden kamen heran, und Rhea wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte.
Sie begann zu rufen: „Christian! Christian!“
Aber niemand antwortete. Ihre Stimme klang dünn, und sie merkte wohl, dass sie in diesem Nebel nicht weit tragen würde.
Sie blickte dorthin, wo sie glaubte, den Deich und das Festland erkennen zu können, aber alles verschwamm in milchigem Dunst. Dann war der Nebel so hoch gestiegen, dass sie nicht mehr über die wabernden Schwaden hinweg blicken konnte.
Rhea lief ein paar Schritte in die Richtung, in der sie die anderen hatte vorhin weggehen sehen, aber das nütze nichts. Der Nebel wurde dichter und dichter. Er hatte sich wie eine mächtige Wattewand zwischen sie und die umliegende Welt geschoben und erstickte jeden Versuch, ihn mit den Augen zu durchdringen.
Sie lief noch ein paar Schritte, stolperte dabei über einen Gegenstand, der im Weg lag, schlug hin und sprang wieder auf. Nun war sie über und über mit Schlick bedeckt und begann zu frieren. Sie war über den Topf ohne Boden gefallen, und die Goldmünzen lagen ringsumher verstreut. Aber dafür hatte Rhea nun kein Auge mehr. Sie musste die anderen finden. So weit konnten sie doch nicht entfernt sein.
Sie rief wieder: „Christian!“, und „Hallo!“, und immer wieder „Christian!“, Aber keine Menschenseele schien sie zu hören.
Von Verzweiflung gepackt lief das Mädchen in die Richtung, in der sie das Land vermutete. Doch nach ein paar Schritten stand sie an einem Wasser, das rasch tief wurde und über die Ränder ihrer Gummistiefel lief. Sie musste umkehren.
Nun wusste sie gar nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte. Bald kam die Flut, und dann würde sie hier ertrinken! Eine panische Angst überkam das Mädchen, und sie lief in die andere Richtung. Aber auch hier endete ihr Lauf bald am Rand eines Priels, der ihr den weiteren Weg versperrte. Jetzt hatte sie alle Orientierung verloren. Und da die Sonne nicht mehr schien, konnte sie auch nicht sagen, wo die Himmelsrichtungen lagen.
Der Wind hatte sich ganz gelegt, der Nebel lastete überall auf den Watten, und es war unheimlich still geworden. Nur hier und da gluckste es seltsam, aber wo die Geräusche her kamen, das konnte sie nicht erkennen.
Plötzlich sah das verzweifelte Mädchen einen schemenhaften Schatten im Nebel.
„Christian!“, rief sie und „Christian!“
Aber der Schatten antwortete nicht. Langsam näherte sich eine hohe Gestalt. Rhea blieb auf ihrem Platz stehen und starrte auf die Erscheinung. Es schien eine alte Frau zu sein, die mit gebeugtem Rücken langsam näher kam. Bald hatte sie das Mädchen erreicht, das nun erleichtert war und fragte: „Wer sind Sie?“
Die Frau antwortete nicht. Sie blickte zur Seite und hielt in ihrer rechten Hand einen Krug; Rhea erkannte, dass es der Krug war, den sie vorhin im Schlick gefunden hatte.
„Hier Kind, das hast du verloren.“ sagte die Frau; Rhea erschauderte, denn die Stimme klang seltsam hohl und teilnahmslos.
Sie griff nach dem Krug, der schwer war und aus dem es matt leuchtete. Er war voller Goldmünzen. Am meisten wunderte sich Rhea darüber, dass er ganz war und einen Boden hatte.
Die Frau sagte: „Komm!“, wandte sich um und ging los.
Das Mädchen beeilte sich, ihr zu folgen, denn sie wollte auf gar keinen Fall allein in diesem Nebel bleiben.
Nun erst fiel Rhea die seltsame Kleidung der Frau auf; sie passte nicht für diese Jahreszeit und wirkte altmodisch. Die Frau trug ein einfaches dunkles Kleid aus groben Stoff, und über die Schultern hatte sie ein Tuch geschlagen. Der Kopf steckte unter einem Kopftuch, so dass man das Gesicht nicht sehen konnte.
Die Frau ging so schnell voran; Rhea konnte ihr kaum folgen. Sie schien den Weg genau zu kennen, denn sie ging immer geradeaus und blickte nie zurück.
Einmal mussten sie einen kleinen Priel durchwaten; Rhea erschrak, denn die Füße der Frau, die mit wollenen Strümpfen bekleidet waren und in groben Holzpantinen steckten, schienen auf der Wasseroberfläche zu schweben. Rhea blieb entsetzt stehen, aber die Frau wandte sie kurz um und winkte.
„Komm, komm!“, war alles, was Rhea verstehen konnte.
Dann begann ganz in der Nähe eine Glocke zu läuten. Im dichten Nebel tauchten Schatten auf; es schienen Häuser zu sein, deren tief heruntergezogene Dächer mit Reet gedeckt waren. Rhea glaubte, das Blöken von Schafen und das Stampfen von Hufen zu hören.
Unvermutet blieb die Frau stehen. Rhea hielt ebenfalls an und erstarrte. Die Frau hatte sich umgedreht und wandte dem Mädchen das Gesicht zu. Aber Rhea konnte weder Augen, noch Nase oder Mund erkennen. Dort, wo das Gesicht sein müsste, war nichts als dunkle Leere. Die Kleidung schien eine bloße Hülle zu sein, die durch magische Kräfte aufrecht über dem Meeresboden schwebte.
Die Schatten der Häuser verschwanden, aber die Gestalt näherte sich dem zitternden Kindes. Das Mädchen verspürte eine eisige Kälte, als die hohle Stimme wieder rief: „Komm, komm zu uns!“
Rhea wurde von Entsetzen gepackt. Rasch drehte sie sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie konnte ihre Spuren deutlich im Watt erkennen. Aber es waren keine Spuren einer zweiten Person zu sehen. Hinter sich hörte sie jemanden laufen. Schwere Schritte hallten auf dem Watt, das hier sandig und sehr fest war. Rhea fühlte, dass sie immer näher kamen, aber sie wagte nicht, sich umzublicken. Fort! Nur fort! war ihr einziger Gedanke.
Sie lief, so schnell sie konnte, aber die Schritte kamen näher und näher. Auf einmal tauchte vor ihr eine Wasserfläche auf; Rhea wollte nach links ausweichen, glitt aber auf dem Schlick aus und schlug der Länge nach hin.
Die Schritte hatten sie schnell erreicht. Etwas griff nach ihr und fasste sie an der Schulter. Rhea schrie laut auf. Dann hörte sie ihren Namen rufen.
„Rhea! Rhea! - Kind, was ist mit dir?“
Rhea schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht von Christians Vater.
„Gott sei Dank, dass ich dich gefunden habe!“, sagte er erleichtert. „Aber warum bist du denn vor mir weggelaufen? Du hättest dich im Nebel verirrt. Bald läuft die Flut auf, Kind. Wir müssen zurück!“
„Wo sind Christian und die anderen?“, fragte Rhea, als sie sich aufrappelte.
„Die warten ein paar hundert Meter von hier.“
„Uns wie sollen wir sie finden, es ist doch nichts zu erkennen!“, sagte Rhea besorgt.
„Wir gehen auf meinen Spuren zurück. Komm!“
Christians Vater nahm sie bei der Hand und ging los. Rhea folgte willig. In der linken Hand hielt sie noch immer den Krug, den sie ganz vergessen zu haben schien.
Nach kurzer Zeit tauchten die Umrisse dreier Menschen im Nebel auf. Klaus und Inge waren sehr aufgeregt und freuten sich, dass Christians Vater Rhea so schnell wieder gefunden hatte.
„Wo bist du bloß gewesen?“, fragte Christian.
„Ich habe nur ein paar Scherben aufgelesen“ antwortete Rhea.
Christians Vater sagte: „Das war knapp. Wenn wir dich nicht gefunden hätten, wärst du von der Flut überrascht und vielleicht hinausgespült worden.“
Sie liefen nun schnell in Richtung auf das Festland zurück. Der Nebel hatte sich gelichtet, aber den Deich konnten sie lange nicht sehen. Sie fanden den Weg leicht, weil die Spuren sie führten, die sie auf dem Herweg im Watt hinterlassen hatten.
Nach einer guten halben Stunde sahen sie den Deich als dunklen Strich in der Ferne. Nun dauerte es nicht mehr lange, bis sie das Festland wieder gewonnen hatten. Alle waren erleichtert.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte Christians Vater. „In dieser Jahreszeit und dann ein so plötzlicher Nebel!“
„Was hast du denn da mitgebracht?“, fragte Christian.
Jetzt erst merkte Rhea, dass sie den Henkel des Kruges noch immer mit ihrer linken Hand fest umklammerte. Sie hielt ihn hoch, so dass die anderen erkennen konnten, dass der Boden fehlte.
Der Krug wurde von allen bewundert.
„Schade“, dachte Rhea, „jetzt liegen die Münzen wieder auf dem Meeresgrund, und sie haben so schön geglänzt!“
Von der seltsamen Frau und ihren Erlebnissen, als sie allein im Watt war, hat sie niemandem erzählt.