Störtebekers Erlösung
„Victoria! Victoria!“
Die Schüler der Klasse 5 sprangen auf der Brücke herum und wiederholten im Chor: „Victoria! Victoria!“
„Los, spring rein!“, brüllte Björn.
„Traust dich wohl nicht?“, fragte Freya.
„Feigling, Feigling!“, tröstete Tim.
Victoria stand auf der Brücke und lehnte sich über die Brüstung. Der Schlüssel blinkte am Grund der Au, ein paar Enten schwammen aufgeregt hin und her, Herr Ellenberg war am Weg stehen geblieben und erklärte Christian und Gerrit eine Frühlingsblume.
Ein Hubschrauber brummte vor den blauen Himmel. Die Blätter der Silberpappeln rauschten im Ostwind.
Victoria starrte noch immer von der Brücke hinunter. Der Schlüssel blinkte am Grund aus dem Sand, die Sonne blitze hier und da auf den kurzen Wellen.
„Victoria! Victoria!“, rief der Chor der Klasse wieder.
Victoria richtete sich auf.
„Nein!“, sagte sie, „ich hole ihn nicht!“
„Na, mach doch!“, rief Roman, „Du hast doch kurze Hosen an!“
„Las mich in Ruhe!“, sagte Victoria und lief zum Radweg, der zur Schule führte. Gyde schloss sich ihr an.
„Willst du nicht doch reingehen?“, fragte sie.
„Nein, hol' du ihn doch“, antwortete Victoria kurz und wandte sich ab. Insgeheim ärgerte sie sich, dass ausgerechnet Gyde so etwas zu ihr sagte. Gyde war doch ihre beste Freundin, und nun auch sie! Nein, sie wollte auf keinen Fall in das Wasser steigen, um den blöden Schlüssel zu holen. Sollten die anderen doch! Sie aber wollte nicht. Basta! Victoria lief zurück zum Schulgebäude.
Mittlerweile hatte Herr Ellenberg zur Rückkehr gerufen. Die Schüler schlenderten zur Schule, der kurze Ausflug war beendet. Sie stiegen die zwei Treppen zum Klassenraum hinauf und setzten sich auf ihre Stühle.
Tim und Sebastian rangen miteinander, weil Sebastian behauptete, Taubnessel und Brennnessel seien ein und dieselbe Pflanze; Tim hingegen meinte, es handele sich um zwei verschiedene Pflanzen. Nina kramte in ihrer Tasche verzweifelt nach der Hausaufgabe und Constanze versuchte vergeblich, ihr zu erklären, dass sie die nächste Stunde überhaupt keine Hausaufgaben auf hatten.
Victoria saß still auf ihren Platz, Gyde sprach nicht mit ihr. Jetzt ging die Stunde weiter. Herr Ellenberg erzählte etwas über Frühlingsblumen und japanische Haikus. Victoria musste an den Schlüssel denken, wie er unten am Grund des Wassers lag, fest und bleich und wie er in der Sonne blitzte.
Die Stunde war zu Ende. Jetzt kam die Pause, bald klingelte es zur nächsten Stunde.
Die Klasse hatte Mathematik, und Frau Kindel wunderte sich, dass Tanja ihren Zollstock vergessen hatte. Frau Kindel fand es unbegreiflich, dass ein Schüler seinen Zollstock vergessen konnte.
„Ja“, dachte Victoria, „für Frau Kindel ist es undenkbar, dass irgend einer auf der Welt keinen Zollstock bei sich haben könnte.“
Dann aber dachte sie an den Schlüssel auf dem Grund der Au und wie tief das Wasser wohl sein würde.
Frau Kindel fragte nach einem Rechenergebnis. „Victoria“, sagte sie. „Victoria!“, wiederholte sie nach einer kurzen Pause mit etwas mehr Nachdruck.
„40!“, sagte Victoria, die nicht zugehört hatte und die 40 cm Wassertiefe meinte, von der sie sich gerade vorgestellte, dass sie leicht darin waten konnte, ohne dass ihre Hose nass würde. Dabei lächelte über das ganze Gesicht.
„Richtig!“, sagte Frau Kindel. Schön, dass du heute so gut aufpasst, Victoria!“
Victoria dachte an den Schlüssel. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie ihn vorhin nicht herausgeholt hatte.
Langsam reifte in ihr ein Plan. Gleich nach dieser Stunde war große Pause, da wollte sie schnell zur Brücke laufen und den blöden Schlüssel herausholen. Niemand sollte das sehen. Aber in der Lateinstunde wollte sie dann ganz lässig mit dem Schlüssel spielen, so dass Herr Tölke ihn unweigerlich entdecken musste. Dann könnten alle sehen: Victoria hat den Schlüssel doch aus der Au geholt. Victoria ist kein Feigling!
Die Mathestunde ging nur langsam vorüber; immer wieder malte Victoria sich aus, was sie gleich machen würde. Endlich klingelte es. Die Schüler liefen aus dem Klassenraum.
Victoria rannte die Treppe hinunter und versteckte sich hinter einer Säule. Die anderen liefen hinaus auf den hinteren Schulhof. Langsam ging Victoria zur Vorderseite des Gebäudes. Sie sah niemanden mehr aus ihrer Klasse, drängelte sich durch zwei oder drei Schülerhaufen und lief schnell zum Radweg.
Nach wenigen Schritten hatte sie die Au erreicht und war schon auf der Brücke. Der Schlüssel blinkte noch immer vom sandigen Grund zu ihr herauf.
Victoria blickte sich um. Niemand war zu sehen. Vom Schulhof her hörte sie lautes Schreien und Lachen. Ein paar Oberstufenschüler eilten vorüber, beachteten sie aber nicht. Schnell zog sie Schuhe und Strümpfe aus und kletterte vorsichtig die Uferböschung hinunter. Das Wasser war nicht tief, aber es fühlte sich eisig kalt an, als sie die Zehen des rechten Fußes vorsichtig hineintauchte.
Victoria warf einen Blick über den langsam fließenden Wasserspiegel nach Osten, wo die Au nach Norden einbog. Die Luft schien ihr nicht mehr so klar wie vorher, die Sonne war hinter einem milchigen Dunst verschwunden. Die Silberpappeln standen bleich im diffusen Licht; plötzlich bildete sich feiner Nebel. Auch bemerkte Victoria jetzt, dass es ganz still geworden war. Kein Vogel zwitscherte in den Büschen, keine Ente schwamm auf der Au umher. Sie konnte das Rufen und Toben der Schüler vom hinteren Pausenhof nicht mehr hören. Der warme Ostwind fühlte sich seltsam kühl an. Victoria begann zu frösteln. In diese Stille hinein brach plötzlich der harte Schrei einer Möwe. Victoria erschrak, und es wurde ihr unheimlich zumute.
„Bloß weg von hier!“, dachte sie, aber dann fiel ihr Blick auf den Grund der Au, und sie konnte den Schlüssel ein paar Schritte vor sich liegen sehen.
„Den hole ich!“, sprach sie sich Mut zu und watete vorsichtig drei Schritte zur Bachmitte.
Da lag der Schlüssel. Es war ein großer Schlüssel aus Eisen mit einem dicken Ring und einem kräftigen Bart. Victoria bückte sich, griff mit der rechten Hand vorsichtig ins Wasser und fasste den Schlüssel an.
In diesem Augenblick erhob sich ein Toben und Tosen und unterbrach die unheimliche Stille, die bisher geherrscht hatte. Victoria krallte ihre Finger um den Schlüssel und fuhr empor. Der Schlüssel wog schwer in ihrer kleinen Hand. Aus dem dichter gewordenen Nebel kam das tosende Geräusch direkt auf sie zu. Entsetzt sah sie, dass es fast völlig dunkel geworden war. Sie wollte schnell zum Ufer springen, doch da schoss es heran. Wie eine Wand aus dunklem Wasser und heller Gischt raste es aus der nebeligen Dämmerung auf sie zu. Gelähmt starrte das Mädchen auf die mächtige Wasserwand, die sich meterhoch über ihr türmte. Sie wollte laut schreien, da brach das Wasser über sie herein, kalte Schläge trafen sie am Kopf und am ganzen Körper, sie wurde unter Wasser gedrückt, und dann schwanden ihr die Sinne.
Victoria kam wieder zu sich, als sie schrecklich husten musste. Sie hatte Wasser geschluckt, das nun wieder aus ihr heraus brach. Wieder und wieder tauchte sie mit dem Gesicht in die Wellen und musste Wasser schlucken. Sie wollte sich irgendwo festklammern, doch fand sie nirgends Halt und tauchte erneut unter. Dann kriegte sie den Kopf doch wieder aus dem Wasser heraus und konnte nach Luft schnappen. Die Fluten rissen sie mit sich fort, dann wurde es dunkel.
Schließlich stieß sie unsanft gegen etwas Hartes. Sie griff mit der linken Hand nach einem Etwas, das sich metallen und rund anfühlte. Ihr Körper schlug an eine Wand, die dumpf und hohl klang.
„Irgendein Eisenring, der an einer hölzernen Wand festgemacht ist“, dachte sie.
Victoria griff fest zu und konnte sich so über Wasser halten. Der Strom riss sie nicht mehr mit sich. Mit der rechten Faust hielt sie noch immer den Schlüssel umklammert; sehen konnte sie nichts. Das Wasser tobte und toste so laut, dass ihr die Ohren weh taten.
Plötzlich begann der Schlüssel zu leuchten. Victoria sah ganz deutlich, dass er einen hellen Schein aussandte, der die Dunkelheit um sie herum nach und nach verdrängte. Sie hatte sich nicht getäuscht. Mit der linken Hand klammerte sie sich an einem eisernen Ring fest, der an einem hölzernen Tor angebracht war, das in halber Höhe aus den Fluten ragte und in eine gemauerte Wand eingelassen war.
„Das muss die alte Schleuse sein“, fuhr es ihr durch den Kopf, „durch die die Au in den Hafen mündet.“
Der Schein des Schlüssels wurde heller und heller, aber er fühlte sich noch immer kalt an. Das kalte Licht strahlte weiß und zeigte Victoria ein Rundes Loch unter dem Eisenring.
„Ein Schlüsselloch!“, sagte sie sich.
Der leuchtende Schlüssel zog und zerrte plötzlich in ihrer Hand. Victoria stieß einen Schrei aus und wollte ihn loslassen, aber ihre rechte Hand hatte sich so um das Metallstück verkrampft, dass sie die Faust nicht öffnen konnte. Der Schlüssel zog ihre Hand auf die hölzerne Tür zu. Mit einem Ruck war er im Schlüsselloch verschwunden. Victoria spürte, wie er sich langsam drehte, und endlich konnte sie ihn loslassen. Es krachte und knirschte im schloss. Dann schwang das hölzerne Tor auf. Schnell griff sie in die sich öffnende Mauerspalte und zog ihren Körper nach. Endlich saß das Mädchen im Trockenen.
Hinter dem Tor war ein dunkler Gang, in dem sie nun triefend vor Wasser hockte. Victoria erhielt einen Stoß von hinten und schlug der Länge lang hin. Die Tür hatte sich wieder geschlossen. Sie blickte sich um, konnte aber nichts erkennen, denn es war ganz dunkel. Am Boden aber sah sie ein schwaches Leuchten. Sie bückte sich und erkannte den Schlüssel, der auch in den Gang geraten war. Sie hob ihn auf.
Victoria schritt langsam vorwärts. Der Gang mündete nach ein paar Metern in eine Treppe, die nach unten führte. Vorsichtig tastete sich das Mädchen Schritt für Schritt hinunter, bis es wieder einen Gang erreichte. Der war nach ein paar Schritten durch ein hölzernes Tor verschlossen.
„Wenn ich das aufmache, schießt das Wasser hier herein und ich muss ertrinken“, dachte Victoria.
Aber der Schlüssel nahm ihr die Entscheidung ab. Schon leuchtete er auf, aber schwächer als beim ersten Mal. Langsam zog er Victorias Hand zur Tür und in die Nähe des Schlüssellochs. Diesmal leistete das Mädchen keinen Widerstand; der Schlüssel berührte das Tor, löste sich aus ihrer Hand und fuhr in das Schlüsselloch ein. Schon drehte sich auch dies Tür mit lautem Quietschen und Krachen in den Angeln und ließ sie hindurch gehen.
Auf der anderen Seite öffnete sich der Gang in ein höhlenartiges Gewölbe, das von einem schwachen Feuerschein spärlich erleuchtet wurde.
Wieder schlug die Tür hinter Victoria zu, und sie konnte den hilfreichen Schlüssel vom Boden auflesen.
Victoria sah sich erstaunt um. Die Höhle war ein riesiger Saal, dessen Wände aus Steinquadern grob gefügt und dessen Decke durch mächtige Säulen abgestützt wurden. Fenster konnte sie nicht entdecken, aber auf der linken Seite liefen gemauerte Bögen an der Wand entlang, die tiefe Nischen bildeten. In der Mitte stand ein mächtiger Tisch, der von vielen groben Stühlen umgeben war. Das Licht, das den ganzen Saal in ein gespenstisches Halbdunkel hüllte, kam von einem Kamin an der Stirnseite des Raumes, in dem ein flackerndes Holzfeuer brannte.
„Hurra! Hurra! Victoria!“, krächzte es plötzlich.
Victoria fuhr zusammen und blickte vorsichtig zur rechten Längswand, von wo die Stimme kam. Dort hing ein großer Käfig, in dem sich etwas bewegte.
„Victoria, Victoria! Victoria ist endlich da!“, krächzte die Stimme wieder.
Die Angesprochene erkannte jetzt, dass ein großer Papagei im Halbdunkel des Raumes auf einer Stange des Käfigs saß und hin und her schaukelte.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte das Mädchen.
„Wer weiß, was ich weiß?“, krächzte der Papagei.
„Namen sind Schall und Rauch, Gespenster auch. Aber du bist ein Mensch aus Fleisch und Blut, das ist gut, das ist gut!“
„Was soll daran gut sein? Und warum sprichst du in Reimen?“
„Smeralda weiß nur, was sie weiß und reimt sich dies und das zusammen, zusammen!“
„Du heißt also Smeralda.“ stellte Victoria fest. „Wo bin ich hier?“
„Hier ist kein Ort!“
„Kannst du mir denn wenigstens sagen, wie ich hier wieder heraus komme?“
„Du kannst nicht fort!“
„Nicht fort? Aber ich kann doch nicht hier in dieser unterirdischen Höhle bleiben“, beharrte Victoria, „und wieso: kein Ort?“
„Den Schlüssel warf ich fort an einen fremden Ort. Dich brachte er her, tief unter das Meer.“
Victoria wurde ärgerlich.
„Du sprichst in lauter Rätseln, Smeralda. Kannst du dich bitte klarer ausdrücken? Und deine Reime finde ich so gut nun auch wieder nicht.“
Smeralda krächzte verächtlich und schwieg.
„Smeralda!“
Der Papagei antwortete nicht.
„Smeralda, bitte sag doch etwas!“
Smeralda schwieg.
„Bitte, bitte, liebe Smeralda, sprich wieder mit mir, du hast eben auch schön gedichtet“, sagte Victoria.
„Wirklich? Du findest meine Verse wirklich schön, Victoria?“
„Aber klar, ganz toll sogar. Aber jetzt sagt mir bitte, wie ich hier wieder raus komme. Ich muss doch zurück in die Schule!“
„Schule hin, Schule her, so einfach geht das nicht“, krächzte der Papagei.
„Wieso nicht?“, wollte Victoria wissen.
„Du bist ja auch nicht einfach hergekommen!“
„Das stimmt“, bestätigte Victoria und überlegte. „Der Schlüssel hat mir den Weg gezeigt.“
Victorias Rücken überlief ein kalter Schauer; sie spürte plötzlich die Kälte des Gewölbes und merkte, dass ihre Kleider noch triefend nass waren.
„Setz' dich ans Feuer, das wärmt ganz schön“, krächzte Smeralda. „Ich erkläre dir alles.“
Victoria setzte sich so nahe ans Feuer wie möglich, spürte aber seltsamerweise nur wenig von der Wärme. Smeralda hüpfte aus dem Käfig, der offenbar unverschlossen war, und setzte sich auf die dem Mädchen zugewandte Tischkante.
„Dies ist kein Ort! du kannst nicht fort! Wisse: Hier hausen die grausigen Seeräuber!“
„Seeräuber?“, fragte Victoria ungläubig und blickte sich um. „Wo sind sie denn?“
„Jetzt sind sie nicht hier. Um Mitternacht aber kommen sie und zählen ihren Goldschatz.“
„Das verstehe ich nicht“, wunderte sich Victoria.
„Hier mitten in der Stadt, in einer unterirdischen Höhle sollen Seeräuber hausen?“
„Sie hausen nicht, sie spuken!“
„Sie spuken?“
„Na klar tun sie das! Meinst du, hier unter in der feuchten Höhle könnte irgend ein normaler Mensch hausen?“
„Nein“, bestätigte Victoria.
„Drum spuken sie eben, weil sie nicht leben!“
„Jetzt sprichst du wieder in Rätseln und in Reimen!“, tadelte Victoria den Papagei.
„So, und sie gefallen dir nicht, meine Reime, nicht wahr?“, empörte sich Smeralda.
„Doch, doch“, beruhigte sie Victoria. „Ich habe doch schon einmal gesagt, dass ich deine Reime toll finde, aber du sollst nicht in Rätseln sprechen, bitte!“
„Also gut. Du hast ja auch ein Recht, alles zu erfahren, weil ich dich hergeholt habe.“
„Du mich hergeholt?“, wunderte sich Victoria.
„Aber klar! Ich war das!“, bestätigte Smeralda und plusterte sich vor Stolz auf.
„Hör' mal gut zu. Alles hier unten, die dunkle Höhle, liegt direkt neben dem Hafen unter der Erde. Früher war hier ein geheimes Versteck, das haben die Schmuggler und Seeräuber angelegt, um ihre Waren und Schätze zu verstecken. Hast du jemals was von Störtebeker gehört?“
„Störtebeker?“, Victoria überlegte. „War das nicht ein berühmter Seeräuber?“
„Und ob, und ob!“, krächzte der Vogel und hüpfte aufgeregt auf dem Tisch umher. „Das war der größte Seeräuber überhaupt. Klaus Störtebeker hieß er und befehligte eine große Flotte kampftüchtiger Schiffe, die mit verwegenen Gesellen bemannt waren, so dass keine Macht zwischen Ost- und Nordsee ihnen etwas anhaben konnte. Likedeeler nannte sich die Bande.“
„Likedeeler?“, unterbrach Victoria die Erzählung.
„Sie hießen so, weil sie alle Beute in gleiche Teile teilten. - Das war ein herrliches Leben; Tag für Tag durchstreiften die stolzen Schiffe die Meere, und die Männer nahmen sich, was sie gerade brauchen konnten. Da herrschte kein Mangel an Gesottenem und Gebratenem, und mit dem Wein war der Hauptmann auch nicht knauserig.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte Victoria ungläubig.
„Später, später“, erwiderte Smeralda und setzte ihre Erzählung fort.
„Eines Tages kaperte das Schiff des Hauptmanns ein englisches Fahrzeug, das den Schatz des Königs geladen hatte, mit dem sie einen Kreuzzug ins Heilige Land finanzieren wollten. Unermessliche Schätze an Gold und Geld waren das, wie sie noch keinem Seeräuber jemals in die Hände gefallen waren. Klaus Störtebeker und einige Männer seiner Besatzung beschlossen, diesen Schatz nicht mit den andern zu teilen, sondern ihn für sich zu behalten. Einige waren dagegen, aber der Hauptmann, den die Goldgier übermannt hatte, setzte sich durch. So wurde der riesige Schatz die Eider und Treene hinauf geschifft, in der Holbeek an Land gebracht und dann heimlich in dieses Versteck geschleppt.
Einer seiner Unterführer aber, der ein anderes Schiff befehligte, es war der berüchtigte Godeke Michel, schöpfte Verdacht und kam der Sache auf die Spur. Aus Rache verrieten Michel und seine Leute ihren Hauptmann. Vor Helgoland wurde unser Schiff von einer Flotte Kriegsschiffe überrascht, die der Hamburger Senat hatte ausrüsten lassen, damit sie der Seeräuberei ein Ende setzen sollten. Es gab ein hartes Gefecht zwischen unseren Leuten und der Hamburger Flotte. Aber der Feind war übermächtig. Klaus Störtebeker und wir wurden gefangen gesetzt, zum Tode verurteilt und hingerichtet.“
Smeralda schüttelte sich wie jemand, der einen bösen Traum geträumt hatte.
„Du warst dabei? Und wie kommst du dann hierher?“, wollte Victoria wissen.
„Auf dem Richtplatz gewährte man dem Störtebeker eine letzte Bitte. Der bat um Gnade für alle diejenigen seiner Kampfgenossen, an denen er noch ohne Kopf vorbeilaufen würde. Als der Henker ihm mit einem fürchterlichen Beilhieb den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, lief Klaus Störtebeker noch an elf seiner Kameraden vorüber, gerade aber als er seine Schritte an mir vorbei machen wollte, stellte ihm der Henker ein Bein, so dass der kopflose Körper strauchelte und in den Sand fiel.“
Der Vogel unterbrach seine Schilderung, krächzte und schüttelte sich.
„Du warst einer von Störtebekers Männern“, fragte Victoria verwundert, „und heißt Smeralda?“
„Ja!“, krächzte Smeralda, „ich kämpfte mit seinen Männern unter seinem Befehl, aber ich war ein Mädchen, das sich als Mann verkleidet hatte, um meinem Helden nahe sein zu können.“
Der Vogel schwieg, und Victoria sagte auch nichts mehr.
Nach einer Weile fragte sie: „Aber wie bist du zu dieser Gestalt gekommen, Smeralda?“
„Als ich ihn da so liegen sah, meinen Klaus Störtebeker, ohne Kopf tot in den Sand lang hingeschlagen, da verfluchte ich mein Leben, und da verfluchte ich auch ihn, für den ich es auf mich genommen hatte. Und als der Henker mir den Kopf abschlagen wollte, erfüllte sich der Fluch. Störtebeker und seine bereits hingerichteten Männer wurden als Geister in diese Höhle verbannt, ich aber wurde in einen Papageien verwandelt und konnte so dem Henker entkommen.“
„Das ist ja schrecklich!“, war alles, was Victoria sagen konnte.
„Schrecklich, ja schrecklich!“, krächzte Smeralda.
„Und was machen die Seeräuber hier unten?“, fragte Victoria nach einer Weile.
„Jeden Tag um Mitternacht tragen sie eine der Schatztruhen hier herein, die sie damals den anderen unterschlagen haben. Und dann müssen sie alle Dukaten zählen. Nach einer Stunde verschwindet der Spuk. Das ist ihre Strafe, weil sie ihrem Schwur untreu geworden sind und weil sie ungleich geteilt haben.“
„Und du, was machst du hier unten?“, wollte Victoria wissen.
„Ich muss hier sitzen und den Schlüssel bewachen, weil ich den unseligen Fluch ausgesprochen habe“, krächzte der Papagei.
„Und was soll jetzt werden?“
„Wir müssen diesen Spuk ein für alle Mal beenden, Victoria!“
„Ja, das meine ich auch, aber wie, wie denn nur?“
„Darum habe ich dich hergelockt!“, sagte Smeralda.
„Du hast mich hergelockt?“
„Aber natürlich! Ich habe den Schlüssel in die Au geworfen, damit du ihn finden solltest. Der Schlüssel hat dich hierher gebracht.“
„Aber warum denn gerade mich?“, wollte Victoria wissen.
„Auch das musst du noch wissen. Nur ein lebendiger Mensch kann den Fluch von uns nehmen, wenn er nämlich einen der Gulden berührt, den die Seeräuber gerade zählen wollen. Wer aber kann sechsundsechzig gespenstischen Seeräubern trotzen?“
„Ja wer?“, fragte Victoria.
„Nur du!“
„Nur ich?“
„Weil du keine Angst vor ihnen hast.“
„Ich soll keine Angst vor sechsundsechzig wilden Seeräubern haben, die noch dazu grausige Gespenster sind?“, fragte Victoria.
„Genau!“, bestätigte Smeralda.
„Na klar!“, rief Victoria, obwohl sie über Smeraldas Witze überhaupt nicht lachen konnte. „Ich gehe einfach hin und sage, gebt mir doch bitte einen von euren Gulden.“
„Das wirst du nicht tun, denn sie werden dich umbringen.“
„Ach ja, sie werden mich umbringen?“
„Ja, denn sie hassen alles Lebendige, weil sie nicht mehr am Leben sind und doch nicht tot! Ihr Hass auf die Menschen ist sogar größer als ihr Wunsch, ewige Ruhe zu finden.“
„Und wie soll ich dann an den Gulden herankommen?“
Smeralda schlug mit den Flügeln und hüpfte vom Tisch auf den Steinboden. Dann rief sie krächzend:
„Horch, die Stunde naht, sie vollbringt die Tat, wenn sie sagt, was keiner wagt!“, und verschwand wieder im Käfig.
Victoria wollte gerade entgegnen, dass ihr die Geschichte eigentlich zu unheimlich sei, um Witze darüber zu machen, da vernahm sie dumpfe Glockenschläge. Die mochten vom Turm der Marktkirche stammen, der nicht weit entfernt irgendwo über ihnen lag. Unwillkürlich zählte Victoria die Schläge: „... neun, zehn, elf, zwölf. Zwölf!“
Gerade wollte sie Smeralda fragen, wieso es so schnell Mitternacht hatte werden können, wo es doch gerade erst kurz vor Mittag sein konnte, da hörte sie Geräusche von dem Wandstück rechts neben dem Kamin.
„Sie kommen! Versteck dich!“, kreischte Smeralda aus dem Käfig.
Victoria konnte gerade noch zur Wand mit den gemauerten Bögen laufen und sich in einer der Nischen kauern, da passierte es.
Die Wand veränderte sich. Es war keine Öffnung zu sehen und doch drängte etwas aus der Wand hervor. Zunächst sah Victoria schemenhafte Schatten, dann konnte sie Gestalten unterscheiden. Richtig! Jetzt erkannte sie Männer, die aus der Wand in die Halle traten. Immer mehr von ihnen kamen aus der türlosen Mauer; sie schienen zunächst nur Nebel zu sein, nahmen allmählich Gestalt an, dann schritten sie langsam zum Tisch in der Mitte der Halle und stellten sich um ihn herum auf. Da bemerkte Victoria, dass sie alle keine Köpfe hatte. Die trugen sie unter ihrem linken Arm, diejenigen aber, die den Tisch erreicht hatten, setzten sich den Kopf zwischen die Schultern.
Jetzt erst wurde sich Victoria der Tatsache bewusst, dass sie sich nicht fürchtete, ja sie verspürte überhaupt keine Angst. Diese Erkenntnis versetzte sie viel stärker in eine gewisse Unruhe als die Tatsache, dass immer mehr Männer aus der Wand herausquollen und in die Halle drängten. Sie hatte längst zu zählen aufgehört und starrte auf das Schauspiel, das sich vor ihr darzustellen begann. Victorias Unruhe wuchs, aber es war die Unruhe eines Menschen, der das Gefühlt hat, gleich etwas tun zu müssen. Dennoch blieb sie wie angewurzelt auf ihrem Platz an der Seitenwand der Halle stehen und beobachtete, was weiter geschah.
Mehr als fünfzig verwegene Gestalten umstanden bereits den Tisch.
„Sechsundsechzig, sechsundsechzig!“, durchfuhr es das Mädchen.
Da hörte sie ein lautes Gepolter. Vier kräftige Männer erschienen auf einmal vor der unheimlichen Wand. Sie trugen eine schwere, eisenbeschlagene Kiste, die sie unter großen Anstrengungen mitten auf den Tisch wuchteten. Dann trat der letzte der Männer aus der Wand. Victoria erkannte ihn sofort: Das war Klaus Störtebeker, so wild, so herrisch stand er da. Von Smeralda war ein kurzes Krächzen zu hören, auf das aber keiner der Männer zu achten schien.
Auch Klaus Störtebeker trug seinen Kopf unter dem Arm und setzte ihn, nachdem er zum Tisch getreten war, langsam auf. Die Männer waren ehrfurchtsvoll zurückgetreten. Der Anführer verschränkte seine Arme und sprach mit dumpfer Stimme: „Männer, ihr wisst, warum wir uns hier versammelt haben. So bestimmt es der Fluch: Die Gulden in dieser Truhe müssen gezählt werden. Erst wenn der letzte durch die Hand eines jeden von uns gegangen ist, haben wir unser Werk vollbracht!“
Die Männer riefen tonlos: „Ans Werk! ans Werk!“
Der Hauptmann forderte mit lauter Stimme: „Den Schlüssel, Smeralda, den Schlüssel!“
Smeralda antwortete nicht.
Der Hauptmann wiederholte seinen Befehl: „Den Schlüssel, Smeralda, den Schlüssel!“
Victoria spürte, dass sich der Schlüssel in ihrer Hand heftig bewegte. Was dann geschah, blieb ihr ewig ein Rätsel. Als der Hauptmann seine Forderung „Den Schlüssel, Smeralda, den Schlüssel!“, zum dritten Mal - und diesmal sehr laut - durch den Saal gerufen hatte, löste sie sich aus dem Schatten der Wandnische, trat ein paar Schritte nach vorn in die Nähe des Feuers und hob ihre rechte Hand, die noch immer den Schlüssel umklammert hielt, in die Höhe.
„Hier ist der Schlüssel, Klaus Störtebeker!“, hörte Victoria sich rufen.
Störtebeker durchzuckten diese Worte wie ein Peitschenhieb. Seine Männer standen erstarrt in eisigem Schweigen. Die Stille lastete so unerträglich in der Halle, dass Victoria nicht anders konnte, als erneut zu reden.
„Ich schließe eure Kiste auf, Klaus Störtebeker!“, rief sie und ging auf die Mitte der Halle zu.
Der Seeräuber hatte sich von seiner Verblüffung erholt und trat ihr in den Weg. Andere Männer umringten sie von hinten.
„Ein lebendiger Mensch!“, rief der Hauptmann. Ein schrilles Kreischen aus fünfundsechzig Kehlen antwortete ihm.
Victoria stand inmitten der gewaltigen Männerschar, unschlüssig, was sie tun sollte. Sie konnte sich noch nicht einmal darüber wundern, dass sie immer noch keine Angst verspürte. Der Hass der Männer um sie herum war so stark, dass das Mädchen ihn am ganzen Körper spürte. Fast wäre sie unter dieser Last zusammengebrochen, aber der Schlüssel, den sie in ihrer kleinen Faust hoch über ihrem Kopf hielt, zog sie nach oben und gab ihr so genügend Halt. Jetzt leuchtete er plötzlich auf, so dass sein helles Licht die ganze Halle durchflutete.
„Den Schlüssel!“, rief Klaus Störtebeker noch einmal, und der Schlüssel begann sich zu bewegen. Hoch aufgerichtet schritt Victoria durch die Halle auf den Tisch und die darauf stehende Kiste zu. Die Männer wichen aus und öffneten ihr eine Gasse. Hell leuchtete der Schlüssel in ihrer emporgereckten Hand und tauchte die unheimliche Szene in gleißendes Licht.
Victoria - oder genauer: der Schlüssel - konnte ungehindert die Kiste erreichen. Er fuhr ins Schlüsselloch und entglitt Victorias Hand. Es wurde dunkel. Mit einem lauten, hellen Geräusch klappte der schwere Deckel der Kiste auf. Matt schimmerte das Gold aus der Truhe.
Klaus Störtebeker erwachte als erster aus seiner Erstarrung.
„Tötet sie! tötet sie!“, rief er.
„Tötet sie! tötet sie!“, riefen die anderen. Aus fünfundsechzig rauen Männerkehlen erklang der schreckliche Ruf: „Tötet sie! tötet sie!“
Victoria verspürte noch immer keine Angst. Hoch aufgerichtet stand sie vor der geöffneten Truhe und blickte furchtlos in die wilde Runde. Bleiche, gefühllose Augen starrten sie an.
„Ja, tötet mich!“, sagte sie mit fester Stimme. „Aber dann werdet ihr niemals Ruhe finden! Nacht für Nacht müsst ihr als kopflose Gespenster dieses nutzlose Gold zählen. Kein Tageslicht leuchtet je in diese finstere Halle. Ihr kennt keine Frühling mehr, keinen Sommer und keinen Winter. Ihr habt vergessen, wie die Drossel singt, wie die Waldbeere schmeckt und wie der Schnee unter den Stiefeln knirscht. Gespenster seid ihr, kopflos und ohne Leben!“
Die Seeräuber waren eine Weile sprachlos ob dieser Rede eines kleinen Mädchens, das so furchtlos in ihre Mitte getreten war. Doch dann besannen sie sich, und Klaus Störtebeker rief erneut: „Tötet sie!“
Victoria geriet nun doch ein ganz klein wenig in Panik und rief: „Smeralda! Hilf mir doch!“
Aus dem Käfig erschallen die Worte: „Die Stunde naht, sie vollbringt die Tat, wenn sie sagt was keiner wagt!“
Die Seeräuber blickten sich um und starrten zum Käfig.
Der Hauptmann wiederholte seinen Befehl: „Tötet sie!“
Victoria überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Ihr gingen die Worte Smeraldas durch den Kopf: „...wenn sie sagt was keiner wagt!“
Da ahnte Victoria plötzlich, was sie zu tun hatte.
„Klaus Störtebeker, hör' mich an!“, rief sie, ohne genau zu wissen, warum sie es sagte, und versuchte, ihrer Stimme eine möglichst tiefen Klang zu geben. „Wenn ihr mich schon unbedingt töten wollt, so tötet mich nach Seeräuberart!“
Ob es die unerwarteten Worte des kleinen Mädchens waren oder ob die seltsame Situation, in der sich das alles abspielte, die Seeräuber waren von dieser Rede offenbar verblüfft. Victoria musste eine ganze Weile warten, bis sie eine Reaktion auf ihren mutigen Ausruf wahrnehmen konnte.
Zuerst brach ein einäugiger Räuber, der seinen Kopf mit einem roten Tuch umwickelt hatte, das Schweigen: „Wir wollen ihr den Hals umdrehen!“
Einer mit einem Holzbein schrie: „Schlagt sie tot!“
Ein anderer zischte: „Stecht sie ab!“
Ein dritter brüllte: „Hängt sie an den Großmast!“
„Schlitzt sie auf!“, rief ein weiterer, dem der rechte Arm fehlte.
Die Seeräuber überboten sich geradezu in ihrem Wettbewerb, einander die scheußlichste Todesart anzupreisen, die sie sich gerade auszudenken vermochten. Die Zurufe wurden immer lauter, dann begannen die Handgreiflichkeiten. Der Streit wuchs sich zu einer regelrechten Keilerei aus.
Jetzt begriff Victoria endgültig, was Smeralda mit dem Rätselwort meinte: „Die Stunde naht, sie vollbringt die Tat, wenn sie sagt, was keiner wagt!“
Noch niemand hatte es gewagt, auf die Ankündigung, von den Seeräubern getötet zu werden, eine Todesart nach Seeräuberart zu fordern, selbst die mutigsten Helden nicht. Diese Worte der kleinen Victoria waren es, die die gespenstischen Seeräuber außer Rand und Band gebracht hatten.
Aus der Keilerei war längst eine Massenschlägerei geworden, und es blieb nicht aus, dass hier und da ein Kopf von den Schultern geschlagen wurde. In dem Gerangel fand natürlich keiner so schnell seinen Kopf wieder, und mit einem fremden Kopf zwischen den Schultern konnte auch ein kampferprobter Seeräuber nur schlecht sehen und kaum erkennen, was um ihn herum geschah. So wurden die Aktionen der Männer immer wilder und wirrer, und bald gab keiner mehr auf Victoria acht.
Das Mädchen erkannte die Situation sofort und handelte schnell. Im Nu war sie auf den Tisch geklettert, hatte sich über den Rand der Kiste gebeugt und starrte nun gebannt in das Funkeln und Glitzern der angehäuften Dukaten. Sie erinnerte sich der Worte Smeraldas: „Nur ein lebendiger Mensch kann den Fluch von uns nehmen, wenn er nämlich einen der Gulden berührt, den die Seeräuber gerade zählen wollen.“
Victoria richtete sich auf und blickte in die große Halle. Der sinnlose Kampf hatte gerade aufgehört. Die Seeräuber besannen sich wieder; einige kamen auf den Tisch zu gestürmt. Allen voran Klaus Störtebeker, dessen blutiger Kopf nun wieder fest zwischen seinen Schultern saß. Seine bleichen Augen starrten Victoria kalt an. Das kleine Mädchen fühlte, wie dieser Blick ihren ganzen Körper erstarren ließ. Sie verstummte und konnte keinen Finger mehr rühren. Schon waren die Männer auf Armlänge heran. Da sah Victoria einen schemenhaften Schatten vorbei huschen.
„Victoria, Victoria!“, krächzte es. „Nimm einen Gulden, nimm einen Gulden!“
Die kräftige Faust von Klaus Störtebeker schlug den Papageien zur Seite; Victoria sah entsetzt, wie Smeralda durch die Luft taumelte und hörte, wie ihr Körper auf den Steinfliesen aufschlug.
„Smeralda!“, wollte sie rufen, und dann war Klaus Störtebeker ganz nah bei ihr.
Der Seeräuber erhob seine gewaltige Hand und griff nach dem Mädchen. Victoria wollte einen Schrei ausstoßen, brachte aber noch immer keinen Ton heraus und fiel nach hinten. Im Fallen drehte sie sich, und ihr kleiner Körper knickte über der Kante der Kiste zusammen. Mit der linken Hand stützte sie ihren Fall ab und griff in die Gulden. Dann war alles still.
Victoria, die nun doch von Angst befallen war, erwartete zittern den Griff der brutalen Räuberhand. Aber nichts geschah. Dumpfes Schweigen lastete auf allen im Saal.
Victoria drehte sich herum. Von weit her, aus der Tiefe der Erde, ertönten drei dröhnende Schläge. Ihre aufgerissenen Augen erblickten über sich das Gesicht Klaus Störtebekers, das sich entsetzt zur linken Seitenwand des Saales wandte.
Dort, wo die Wand durch große Steinbögen gegliedert war, krachte und polterte es plötzlich. Steine brachen heraus, Mörtelwolken stieben, wie von kleinen Explosionen zerrissen, aus der Wand. Risse taten sich auf, das Gewölbe ächzte und stöhnte. Dann schoss das erste Wasser durch den Spalt.
Jetzt erst begriff Victoria, dass sie den Bann gelöst hatte, als sie in die Kiste mit den Goldschatz fasste; mit der linken Hand umklammerte sie noch immer einen goldenen Dukaten aus der Schatzkiste.
Aus den fünfundsechzig rauen Kehlen der Seeräuber drang erneut das schrille Kreischen, das Victoria schon einmal durch Mark und Bein gegangen war. Nur Klaus Störtebeker sagte nichts. Sein Mund blieb stumm, langsam, wie in Zeitlupe, wandte er sich von der Kiste mit den Gulden ab und stand aufrecht inmitten des Saales, der nun von kräftigen Erdstößen erschüttert wurde.
Die ganze Längsseite riss auf, und Wasser brach durch die Spalten ein. Ein ohrenbetäubendes Tosen begann, das Gewölbe wankte, Steine brachen heraus und schlugen viele der Männer zu Boden. Das Wasser stieg rasch.
„Das ist das Ende“, sagte Victoria.
Sie sagte es aber ganz ruhig und fühlte nichts dabei. Sie setzte sich auf den Tisch und lehnte ihren Rücken an die hölzerne Wand der großen Schatzkiste.
„Auf Wiedersehen, Smeralda“, sagte sie leise.
Dann verspürte sie einen kalten Stoß, als die Wassermassen auf sie zuschossen und über ihr zusammenschlugen.
„Victoria! Victoria!“, rief jemand von ganz weit her.
„Victoria! Victoria!“, Der Chor der Klasse wurde lauter.
„Victoria! Victoria!“
Als Victoria die Augen aufschlug, sah sie das Gesicht von Gyde über ihr.
„Victoria, sag' doch was!“, bat Gyde und hatte Tränen in den Augen. Victoria hob mühsam den Kopf und blickte in die Gesichter vieler Klassenkameraden. „Sie lebt, sie lebt!“, rief Tim.
Gleich war Herr Tölke da und sagte: „Aber Mädchen, was machst du für Sachen?“
Frau Kindel umarmte sie und schluchzte. Herr Ellenberg hatte noch rotere Ohren als sonst.
„Gott sei Dank, sie lebt! Sie lebt!“, rief er immer wieder und sprang aufgeregt hin und her.
Dann kam der Krankenwagen. Zwei Männer brachten eine Liege heran, auf die sie Victoria vorsichtig legten und den zitternden Körper mit einer Decke mollig eingewickelten. Jetzt spürte sie erst, wie sehr sie vor Nässe und Kälte bibberte.
„Kann Gyde mit?“, bat Victoria.
Auf dem Weg zum Krankenhaus erzählte ihr Gyde, was passiert war.
Ein großes Stauwehr, das sich ein paar Kilometer oberhalb der Stelle befindet, wo die Brücke über die Au führt, war plötzlich leer gelaufen. Wieso die große Schleuse geöffnet wurde, wusste niemand zu sagen. Das Wasser hatte eine Flutwelle ausgelöst, von der Victoria weggespült worden war. Spaziergänger hatte das Unglück mit angesehen und das leblos im Wasser treibende Mädchen schnell an Land gezogen. Zum großen Glück atmete das Mädchen noch. Dann waren schon die Klassenkameraden angekommen, die ihren Lehrern nach dem Ende der Pause vom rätselhaften Verschwinden Victorias erzählt hatten. So fand man Victoria gerade in dem Moment, als sie aus ihrer kurzen Ohnmacht erwachte.
„Wie lange habe ich im Wasser gelegen?“, fragte Victoria leise.
„Nur ein paar Minuten“ antwortete Gyde. „Hätte es länger gedauert, wärst du vielleicht ertrunken“, schluckte sie.
Victoria dachte nach.
„Nur ein paar Minuten? Und wo haben die Leute mich rausgezogen?“
„Auf der Höhe des Schulgebäudes, keine dreißig Meter von der Brücke entfernt“, gab Gyde ihr Bescheid.
Victoria war verwirrt.
„Dann habe ich das alles bloß geträumt“, murmelte sie, „von Störtebeker und Smeralda.“
„Was redest du da?“, fragte Gyde.
„Ach, nichts!“, antwortete Victoria und war etwas enttäuscht.
Noch einmal fluteten die Bilder durch ihren Kopf, sie sah die unheimliche Höhle, die schrecklichen Seeräuber, die kleine Smeralda und den glänzenden Goldschatz.
„Hab' ich mir alles nur eingebildet und geträumt. Schade!“, sagte sie zu sich selbst und seufzte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich unter der Wolldecke zu entspannen.
Da bemerkte sie, dass sie etwas in ihrer linken Hand hielt. Vorsichtig zog sie die Hand unter der Decke hervor und öffnete die Faust. Ein schön geprägtes großes Goldstück lag darin.