Nis' Garten

  

Auf der anderen Seite der Straße, ganz in der Nähe des Hauses, in dem Nis mit seinen Eltern wohnte, stand eine große Villa. Sie war früher einmal ein prächtiges Gebäude gewesen mit einem großen, schön angelegten Garten; ein Arzt hatte sie erbauen lassen und dann darin mit seiner großen Familie gewohnt. Von der Straße stand sie einige Meter zurück im Grundstück, so dass ein breiter Kiesweg angelegt werden musste. Darauf spielten die Kinder der Familie mit bunten Bällen oder sie hüpften mit dem Seil, manchmal spielten sie auch in dem weitläufigen Garten Verstecken.

Eines Tages aber war die Familie fortgezogen, und keiner wollte das große Haus haben; so stand es viele Jahre leer. Die Fenster wurden mit Brettern vernagelt, der Garten verwilderte, überall stand das Gras meterhoch, und das Haus wurde mehr und mehr vergessen.

Wie es drin aussah, wusste auch Nis nicht, denn die schwere Tür war verschlossen, und in die Fenster konnte man nicht hineingucken. So blieb nur der Garten, der auf Nis eine große Anziehungskraft ausübte, denn sein Vater hatte ihm verboten, das fremde Grundstück zu betreten.

Aber an dieses Verbot hielt Nis sich nicht, denn es war viel zu interessant, vorsichtig durch die geheime Lücke in dem altersschwachen Maschendrahtzaun zu klettern, sich rückwärts durch die dichte, stachelnbewehrte Weißdornhecke zu drängeln, um dann auf der hinteren Seite der Villa vor der alten Säule stehenzubleiben und die seltsamen Markierungen auf dem Sandsteinblock zu betrachten. Es war eine gedrungene Säule, die Nis bis zur Brust reichte; auf ihrem runden Abschluss saß ein seltsamer Steinquader, in den Flächen und Vertiefungen eingelassen waren. Nis wusste aus einer Abbildung, die er in einem Buch aus der Bibliothek seines Vaters gesehen hatte, dass dies eine Sonnenuhr war, eine der alten Blocksonnenuhren, die in früheren Jahrhunderten an vielen Plätzen standen und den Menschen die Zeit anzeigten. Vorausgesetzt natürlich, die Sonne schien. Manchmal schaute Nis genau hin und konnte dann auch tatsächlich einen Schatten auf einer der Flächen oder in einer der halbrunden Vertiefungen erkennen. Und soviel verstand Nis von Sonnenuhren: Der Schatten ist der Zeiger, der auf einem in den Stein eingemeißelten Ziffernblatt die Stunden anzeigt.

Doch Nis hatte noch andere, sehr viel praktischere Gründe, seinen Garten zu besuchen; im Frühjahr waren es die Blumen, die versteckt im Garten zu finden waren, später die Stachel- und Johannisbeeren, dann verwilderte Erdbeeren und schließlich Äpfel, Mirabellen, Pflaumen, Birnen und im Herbst sogar Nüsse, die von einem mächtigen Walnussbaum herabfielen. Außerdem gab es dort viele Tiere zu beobachten; Nester von Heckenbraunellen und Rotschwänzen, freche Spatzen in den Holunderbüschen, Maulwürfe und Mäuse, manchmal ein scheues Wiesel, dann Bienen, Wespen, Hummeln und Libellen, Regenwürmer, Raupen, Käfer, Spinnen, Ameisen und vieles andere mehr. In der nordwestlichen Ecke des Gartens gab es sogar einen kleine Teich, über den Wasserläufer jagten und an dessen Rändern dicke grüne Frösche auf Fliegen und Käfer lauerten. Auf seiner Oberfläche spiegelte sich die Sonne zwischen gelben Mummeln und weißen Teichrosen, an seinen sumpfigen Rändern wuchsen Schwertlilien, Binsen und Rohrkolben.

Nis hatte den Garten „Paradies“ getauft und war schon oft mit Freunden aus seiner Klasse hier gewesen. Aber nie mit Mädchen, denn es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass im Paradies Frauen nicht zu suchen hatten. Außer natürlich, wenn sie in Gefahr waren und man sie retten musste.

In diesem Garten fanden die meisten seiner spannenden Expeditionen und Weltreisen statt; hier waren die hohen Berge Zentralasiens, auf die es zu klettern galt; die weiten Steppen Afrikas mit den wilden Löwen und den großen Elefanten; die gefährlichen Jagdgründe der nordamerikanischen Indianer, durch die man nur mit allergrößter Vorsicht reiten konnte; hier lebten auch Nis' Freude, die großen Abenteurer und Entdecker. Und sogar im Winter, wenn alle Blätter abgefallen waren und die Bäume ihre Zweige wie Gerippe in den fahlen Himmel streckten, machte sich Nis in seinen Garten auf, um an einer Expedition zum Südpol teilzunehmen oder um mit Reinhold Messner einen eisbedeckten Bergriesen im Himalaja zu bezwingen.

 

Eines Tages, es war in den Herbstferien, und Nis hatte eine Expedition zu den geheimnisvollen Sonnentempeln der Inka am Titicacasee geplant, klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Benjamin und verkündete, dass er gleich nachher Nis besuchen wolle.

„Mein Gott“, dachte Nis, „hoffentlich dreht er nicht wieder durch.“

Laut aber sagte er: „Toll, dann kannst du mich auf meiner Expedition begleiten.“

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte Benjamin.

„Ich will den geheimnisvollen Titicacasee erkunden; vielleicht finden wir Reste des berühmten Sonnentempels der Inka.“

„Vielleicht finden wir auch Willi, das Wasserschwein!“, rief Benjamin ins Telefon und legte auf.

Nis blickte nachdenklich vor sich hin. Mit Benjamin spielte er zwar gern, aber manchmal konnte der einen ganz schön nerven, besonders, wenn er Geschichten von seinem Superschwein Willi erfand. Andererseits hatte Benjamin viele gute Ideen und verstand eine ganze Menge von den Sachen, auf die man bei gefährlichen Expeditionen auf das Altiplano im Grenzgebiet zwischen Peru und Bolivien auf gar keinen Fall verzichten konnte. Und vielleicht war es ja auch sicherer, den Versuch, auf die geheimnisvolle Insel der Aymará vorzudringen, nicht ganz ohne kameradschaftlichen Beistand zu unternehmen. Nis wartete also, bis Benjamin mit seinem Fahrrad angedüst kam und fing ihn am Gartentor ab.

„Kein Wort vom Paradies!“, sagte er leise.

Benjamin verstand sofort.

„Kein Sterbenswörtchen, Ehrensache!“

Schon kam Nis' Mutter aus der Haustür und fragte: „Wo soll es denn hingehen, Nis?“

„Runter zur Treene, angeln.“ sagte Benjamin.

„Ohne Angel?“, fragte Nis' Mutter.

„Die bauen wir uns selber“, sagte Nis schnell; Angelhaken und Schnur nehme ich mit.“

Ohne weitere Erklärungen lief er in die Garage und kehrte nach ein paar Minuten mit einer Tüte Angelhaken und einer Rolle Nylonschnur zurück. Sein Fernglas hatte er sich um den Hals gehängt.

„Wozu nimmst du denn das Fernglas mit?“, fragte seine Mutter misstrauisch.

„Wir wollen Vögel beobachten“, antwortete Nis schnell.

„Na, dann passt auf und fallt nicht ins Wasser“, sagte Nis' Mutter und ging ins Haus.

Nis schnappte sein Fahrrad, stopfte Schnur und Angelhaken in die Satteltasche, und die Jungen radelten los. Sie fuhren einige hundert Meter die Straße entlang, bis sie außer Sichtweite waren. Dann bogen sie in einen Seitenweg ein, über den sie - ohne von Nis' Mutter gesehen zu werden - das Villengrundstück mit dem Garten erreichen konnten.

Plötzlich bremste Nis ohne ersichtlichen Grund.

„Pass doch auf, du Blödmann!“, rief Benjamin, der beinahe aufgefahren wäre.

„Still!“, entgegnete Nis mit unterdrückter Stimme.

Aber es war zu spät. Nina hatte sie schon gesehen.

Langsam kam sie auf die beiden zu. Nis und Benjamin waren von ihren Rädern abgestiegen und wussten nicht, was sie jetzt machen sollten.

„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte Nina, als sie die beiden erreicht hatte.

„Och, nirgendwo hin“, sagte Nis.

„An die Treene, Wasserschweine angeln!“, sagte Benjamin.

Nina hatte sich mitten auf den Weg vor die beiden Jungen gestellt und ihre Arme vor der Brust verschränkt.

„Das könnt ihr mir doch nicht weismachen!“, sagte sie. „Ich weiß genau, wo ihr hin wollt, in den Garten der alten Villa. Aber das darfst du nicht, Nis, dein Vater hat es dir verboten, das weiß ich ganz genau!“

Die beiden Jungen und das Mädchen standen sich gegenüber, und keiner sagte etwas.

Nach einiger Zeit unterbrach Nis das Schweigen: „Nina, wenn du meinem Vater ein Sterbenswörtchen sagst, dann ...“

„Was dann, Nis?“, unterbrach ihn Nina und trat einen Schritt näher.

Die drei schwiegen sich wieder an.

„Ich mache euch einen Vorschlag“, begann Nina das Gespräch nach einer Weile wieder. „Ich sage niemandem etwas, wo ihr beiden hingeht, wenn ...“

„Wenn was?“, fragte Benjamin.

„Wenn ihr mich mit ins Paradies nehmt.“

„Nein, nur das nicht!“, rief Benjamin mit kreischender Stimme. „Das kann Superschwein Willi nicht ertragen!“

„Du kennst unser Gesetz“, sagte Nis; „im Paradies haben Weiber nichts zu suchen!“

„So ein Quatsch, Nis. In wirklichen Abenteuern sind immer Frauen dabei. Neulich habe ich im Fernsehen einen Abenteuerfilm gesehen, da spielte ein Mädchen sogar die Hauptrolle!“

 Wieder herrschte eisiges Schweigen.

„Überlegt es euch gut“, begann Nina erneut das Gespräch, und Nis erkannte an ihren blitzenden Augen, dass sie es ernst meinte. „Entweder ein Abenteuer zu dritt oder gar kein Abenteuer! Nehmt ihr mich mit?“

„Na gut!“, sagte Nis nach einigem Zögern.

„Uff!“, war alles, was Benjamin herausbrachte. Das hätte er nie gedacht, denn er wusste, dass Nis das Gesetz des Paradieses über alle Maßen heilig war.

Nina sagte: „Das finde ich toll!“, und sauste schon in Richtung Villa los.

„Willst du die wirklich mitnehmen?“, fragte Benjamin leise mit ungläubigem Blick.

„Es muss sein!“, sagte Nis düster und trat in die Pedale.

Sie standen gleich darauf am Zaun und schoben vorsichtig ihre Räder durch das Loch. Nis und Benjamin drückten die Dornenzweige auseinander, so dass Nina hindurchschlüpfen konnte.

„Röcke sind auf Südamerika-Expeditionen außerordentlich praktisch“, murmelte Benjamin.

Nina knurrte: „Sei bloß still!“

Die drei standen am Rande des Kieswegs, der zur Rückseite der Villa führte. Nina, die noch nie hier gewesen war, blickte sich erstaunt um.

„Was ist denn das da?“, fragte sie.

„Eine Sonnenuhr“, sagte Nis abschätzig.

„Und wozu soll die gut sein?“, fragte Nina weiter.

Da erklärte Nis geduldig, wie eine Sonnenuhr funktioniert, und weil Nina offen zugab, überhaupt nichts von Sonnenuhren zu verstehen, konnte er zeigen, was er alles wusste.

Nicht umsonst hatte er sich bei seinem Abenteuer auf der geheimnisvollen Insel von Cyrus Smith genau erklären lassen, wie man mit Hilfe des Sonnenstandes nicht nur die Uhrzeit, sondern sogar die geographische Längen- und Breitenposition eines jeden Ortes auf der Erde bestimmen kann.

Bald machte ihm das Erklären sogar Spaß, denn Nina verglich die angezeigte Zeit mit ihrer Armbanduhr: „Stimmt; es ist genau 11 Uhr!“

Nis hatte gerade angefangen zu erläutern, wozu Sonnenuhren früher gebraucht wurden, da fragte das Mädchen:

„Was ist denn das für ein Ding obendrauf?“

„Das ist die Ampel für tolldreiste Weiber!“, rief Benjamin, der sich bisher zurückgehalten hatte. „Die hat Willi gerade auf rot gestellt! Willi sieht immer rot, wenn Weiber durch sein Paradies latschen.“

„Ruhe!“, befahl Nis, denn er hatte dieses seltsame rote Ding, das plötzlich über dem Uhrenblock schwebte, noch nie gesehen.

 

Die drei traten näher und erkannten, dass es eine Kugel war, so groß wie ein Handball; sie leuchtete von innen heraus und sandte ein helles, rotes Licht aus.

„Die Kugel wächst ja,“ sagte Nina, „eben war sie noch viel kleiner.“

Jetzt sah Nis es auch. Die rote Kugel schien sich aufzublähen, sie schwebte dabei höher und immer höher, ohne vom Sandsteinblock abzuheben. Das Licht, das sie ausstrahlte, wurde intensiver und fühlte sich warm an.

„Die Sonnenuhr wächst auch!“, rief Benjamin.

Tatsächlich! Nina und Nis sahen, wie der Block vor ihnen sich ausdehnte und immer höher in den blauen Himmel hinauswuchs. Die rote Kugel hatte sich schon ganz hoch in den Himmel entfernt, der Schatten der gewaltigen Säule verdeckte die Sonne, aber das rote Licht strahlte noch intensiver, und es wurde wärmer und immer wärmer.

Nis stolperte über einen großen Stein, der neben ihm aus dem Boden ins rote Licht hinauf zu streben schien.

Überall wuchsen jetzt die Steine; sie standen gar nicht mehr auf einem Kiesweg, sondern inmitten eines endlosen Geröllfeldes, dessen rundgeschliffenen Steine zu immer größeren Felsen heranwuchsen.

Die Kinder schrieen auf; um sie herum dehnte sich mit einem Mal eine endlose rote Steinwüste, von riesigen Findlingen bedeckt, die zu Hunderten und Tausenden meterhoch aufeinander getürmt waren.

Sie standen da inmitten der unheimlichen, fremden Landschaft und blickten noch immer erstaunt um sich. Die Säule, auf der die Sonnenuhr gestanden hatte, war wie eine gewaltige, glatt behauene Felsenwand in die Höhe gewachsen. Sie war so groß geworden, dass man ihre Krümmung kaum noch erkennen konnte. Alles um sie herum war in eine grelles rotes Licht getaucht.

Plötzlich brach hinter ihnen ein donnerndes Geräusch los. Ein Knattern wie das der Rotoren eines Hubschraubers näherte sich von links. Nis fuhr erschrocken herum und erkannte etwas Riesiges, Blaurotes, das unter sagenhaftem Getöse mit rotierenden Flügeln auf sie zu sauste.

„Hinlegen!“, kommandierte er.

Schon lagen sie am Boden und drückten sich zwischen die Felsen. Das donnernde Etwas schoss dicht über ihre Köpfe hinweg und verschwand hinter der Felswand.

„Was war das?“, fragte Benjamin ängstlich.

„Keine Ahnung“ sagte Nis.

Nina begriff als erste.

„Wir sind gar nicht gewachsen, wir sind geschrumpft!“, rief sie.

„Geschrumpft?“, fragte Benjamin. „Das hält mein Willi nicht aus!“

„Das eben war kein Hubschrauber, das war eine Fliege!“, rief Nina.

„Die spinnt total!“, sagte Benjamin zu Nis und verzog sein Gesicht zur Grimasse. Dann drehte er sich von Nina weg und meinte: „Wir hätten sie besser bei ihrer Mama lassen sollen.“

Plötzlich war ein seltsames Zischen zu hören.

„Was war das eben?“, fragte Nis unsicher.

Benjamin wollte antworten, als Nina laut zu schreien begann. Die beiden Jungen fuhren herum und erstarrten. Nina wurde von einem großen Tier zur Seite gezerrt, das sie fest mit seinen Beißwerkzeugen gepackt hatte. Nis und Benjamin sprangen vor Entsetzen drei, vier Schritte zurück. Ein riesengroßes Insekt - daran gab es keinen Zweifel - hatte sich in Ninas Kleid verbissen und zerrte das Mädchen hinter sich her. Der hintere Teil des gepanzerten Leibes verschwand langsam zwischen Steinbrocken in einem Loch; die großen, langen Fühler betasteten den Kopf des Mädchens.

Nina schrie: „Helft mir! Helft mir doch!“

Nis löste sich als erster aus seiner Erstarrung. Mit drei großen Sätzen war er neben Nina und fasste sie am Arm. Er hielt diesen Arm fest, zog und zerrte, aber vergebens. Dann rief er Benjamin: „Komm, hilf mir doch!“

Benjamin begann, sich endlich auch wieder zu bewegen.

„Ich komme, ich komme!“, antwortete er und sprang neben die beiden.

Das große Insekt war rückwärts bis zum Kopf in das Loch gerutscht und zog Nina mit Riesenkräften hinter sich her. Benjamin packte den anderen Arm, und nun zogen beide gemeinsam. Auch das Mädchen stemmte sich mit aller Kraft ihres Körpers gegen das zerrende und zischende Untier.

Plötzlich hörten sie ein lautes „Ratsch!“, und fielen kopfüber zu Boden. Ninas Körper schlug auf Benjamin, Nis stolperte einige Meter zwischen den aufgetürmten Steinbrocken entlang. Dann war es still.

Als sie sich aufgerappelt hatte, war von dem Untier nichts mehr zu sehen. Aus Ninas Kleid war ein großes Stück Stoff herausgerissen. Benjamin, dem wie den anderen der Schreck noch im Gesicht stand, fasste sich als erster.

„Siehst du, Röcke taugen nichts für Expeditionen in die Wildnis!“, sagte er.

„Das ist kein Rock, sondern ein Kleid“, bemerkte Nina ärgerlich, „oder vielmehr - es war eins!“, und blickte bekümmert auf die Reste ihres geblümten Sommerkleides, von dem nur noch hässliche Fetzen herunterhingen. Zum Glück trug sie darunter eine kurze Hose aus dem gleichen Stoff.

„Wir haben jetzt andere Sorgen“, sagte Nis. „Das eben war eine Riesenameise. Nina hat recht. Wir sind plötzlich kleiner geworden und laufen hier in einer Riesenwelt herum. Wenn es noch mehr von dieser Sorte gibt, geht es uns bald an den Kragen.“

Sie zogen sich hinter einen kleinen Hügel zurück und setzten sich auf die herumliegenden Steine.

Benjamin schien allen Mut schon wieder verloren zu haben.

„Ich will nach Hause!“, murmelte er mehrmals leise vor sich hin. „Das ist kein Abenteuer, das ist bitterer Ernst!“

Nina stand auf und schüttelte ihn an der Schulter.

„Benjamin! Benjamin!“, rief sie, „du darfst jetzt nicht den Mut verlieren!“

„Aber was sollen wir machen?“, fragte Nis.

„Lasst uns genau überlegen. Wir müssen zunächst herausfinden, was mit uns passiert ist“, sagte Nina mit großer Entschlossenheit.

Benjamin guckte sie aus großen feuchten Augen an, und schüttelte den Kopf. „Wir sind verloren! Wir haben uns in der Wildnis verirrt und werden gleich von wilden Riesen-Ameisen aufgefressen!“

„Die Ameise, die Ameise!“, rief Nis.

„Die Ameise?“, fragte Benjamin.

„Ja, die Ameise. Wie groß werden normalerweise Ameisen, Benni?“

„Na, so drei, vier Millimeter höchstens“, antwortete er.

„Und diese, die vorhin Nina gepackt hatte, wie groß war die?“

„Mindestens einen Meter!“, rief Benjamin.

„Übertreib man nicht“, wies ihn Nina zurecht. „Die war so groß wie unser Hund. Und der ist knapp einen halben Meter lang.“

„Dann sind wir also ... warte mal ...“ rechnete Nis, „... hundertmal kleiner geworden!“, ergänzte Nina.

„Hundertmal kleiner?“, fragte Benjamin und ließ den Mund offen.

 

Die Unterhaltung stockte, da plötzlich von weit her ein dumpfes Brummen zu hören war.

„Was ist das?“, fragte Nis.

„Keine Ahnung“, antwortete Nina.

Das Geräusch kam langsam näher. Sie standen auf und spähten in die Richtung, aus der die Töne kamen, aber sie sahen nur Steine und Felsen. So sehr sie sich auch auf die Zehenspitzen stellten und reckten, die Quelle des Geräuschs konnten sie nicht ausmachen.

„Wieder ein Hubschrauber. Vielleicht kommt da Willi angesaust“, sagte Benjamin, der die Sprache wieder gefunden hatte.

Das Brummen wuchs zu einen Dröhnen, das geradezu ohrenbetäubend anschwoll. Dann war es plötzlich da. Ein gelbrotes Etwas schwebte heran, und die Kinder duckten sich. Eine kräftige Sturmböe fegte über ihre Köpfe hinweg. Dann krallten sich scharfe Klauen um Nis Körper und zerrten ihn hoch. Benjamin warf sich zur Seite und blieb leblos zwischen den Steinen liegen. Nina wich ein paar Schritte aus, damit sie nicht von den mächtigen Flügeln getroffen wurde, die auf die Steine nieder peitschten und etliche von ihnen hoch in die Luft wirbelten.

Das Mädchen musste sich vor den faustgroßen, herumfliegenden Steinbrocken in acht nehmen, doch begriff es sofort, dass dieses geflügelte gelbe Riesenvieh Nis in die Lüfte entführen wollte. Die vier Insektenbeine klammerten sich um den Leib des Jungen, und der gab keinen Laut mehr von sich. Nina sprang nach vorn, so dass sie neben dem Kopf des Tieres stand. Zwischen zwei großen Facettenaugen saßen mächtige Beißwerkzeuge, die sich an Nis' Kopf zu schaffen machten.

„Das will Nis den Kopf abbeißen!“, schrie Nina. Sie wusste später nicht mehr genau zu sagen, was nun geschah. Schnell bückte sie sich und griff einen fußballgroßen Felsbrocken. Sie fasste den Stein mit beiden Händen, hob ihn hoch über den Kopf und schmetterte ihn mit aller Kraft ihres kleinen Körpers mitten zwischen die beiden Augen des Ungeheuers.

Dabei stolperte sie und fiel zu Boden.

Ein Zittern ging durch den mächtigen Körper; das Schlagen der Flügel verstärkte sich, die krallenbewehrten Beine ließen ihr Opfer fahren. Dann erhob sich das Ungeheuer langsam, das Brummen der Flügel schwoll Ohren betörend an, der Luftzug wirbelte Steine umher, dann flog es langsam in die Richtung, aus der es gekommen war.

Es war wieder still geworden. Nina rappelte sich langsam auf. Nis und Benjamin lagen wie leblos neben ihr zwischen den Steinen. Zuerst kümmerte sie sich um Nis; er hatte die Augen geschlossen, atmete aber heftig. Nina fasste seinen Oberkörper und schüttelte ihn kräftig.

Nis kam zu sich und blickte wild umher. Langsam begriff er, dass die Gefahr vorüber war.

„Ist es weg?“, fragte er gequält.

„Ja, aber wir müssen hier weg und Deckung suchen. Die Wespe könnte wiederkommen!“, rief Nina.

„Die Wespe?“, fragte Nis.

„Ja, eine Riesenwespe wollte dir den Kopf abbeißen.“

Nis schüttelte sich vor Entsetzen.

„Und du hast sie verscheucht?“, fragte er.

„Na klar ich“, antwortete Nina.

„Danke!“

„Benjamin ist ja schon vorher in Ohnmacht gefallen“.

„Benjamin!“, rief Nis und bückte sich nach seinem Freund.

Der lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken und strampelte mit Armen und Beiden.

„So groß wie mein Schwein Willi! So groß wie mein Schwein Willi!“, rief er immer wieder. Und das war alles, was sie für eine ganze Zeit aus ihm herausbrachten.

Als sie ihn einigermaßen beruhigt hatten, beschlossen sie, sich nach einer geeigneten Deckung umzusehen.

In einiger Entfernung schien es einen Wald zu geben, darauf steuerten die drei los. Nach etwa zehn Minuten beschwerlicher Wanderung durch eine ausgedehnte Geröllhalde hatten sie den Rand des Waldes erreicht; sie sahen nun, dass es sich nicht um Bäume handelte, sondern dass dieser „Wald“ aus riesengroßen Grashalmen bestand, von denen die kürzeren schon dreißig bis vierzig Meter hoch in den Himmel ragten. Einige Pflanzen waren so groß, dass sie die Spitzen gar nicht sehen konnten.

 

Nina, die nun die Führung der Gruppe übernommen hatte, sagte: „Ihr seht, dass ich recht hatte. Alles um uns ist größer geworden, die Grashalme ragen riesenhoch in den Himmel, der Kies auf dem Weg ist zur Felsengeröll geworden. Das Untier vorhin war eine Wespe von mindestens zwei Meter Länge. Also etwa hundert Mal größer als normal. Wir sind tatsächlich hundertmal kleiner geworden.“

„Aber wie konnte das passieren?“, fragte Nis.

„Mir ist da noch etwas aufgefallen“ sagte Nina. „Die Wespe flog ziemlich langsam. Die Flügel bewegten sich im Zeitlupentempo. Wie ist das möglich?“

„Im Zeitlupentempo?“, fragte Benjamin.

„Du hast recht“, bestätigte Nis, „das habe ich schon bei der Ameise gemerkt. Und seht mal, wie langsam die Grashalme im Wind schwanken.“

„Die Zeit! Die Zeit!“, rief Nina mit einem Mal.

„Was ist mit der Zeit?“, wollte Benjamin wissen.

„Sie geht langsamer, seht ihr das denn nicht?“

„So ein Quatsch. Warum sollte die Zeit langsamer gehen?“, fragte Benjamin und tippte sich an die Stirn.

„Weil wir so klein zusammengeschrumpft sind“, sagte Nina. “Wie spät ist es jetzt?“

Alle drei schauten auf ihre Armbanduhren. Es war kurz vor halb zwölf.

„Gib mal dein Fernglas, Nis!“

„Was willst du denn damit?“, fragte Nis, als er das Glas Nina hinreichte.

„Die Zeit auf der Sonnenuhr ablesen! Der Schatten müsste jetzt zwischen dem Elf- und den Zwölfuhrstrich stehen.“

„Genau“, nickte Nis.

Nina visierte mit Nis' Fernglas die Sonnenuhr an, die sich in Schwindel erregender Höhe über den Kindern auf der mächtigen Säule gegen den blauen Himmel abhob.

„Kannst du was erkennen?“, fragte Nis.

„Augenblick. Jetzt sehe ich das Zifferblatt von eben. Der Schatten steht immer noch auf elf!“

„Das kann doch nicht sein!“, sagte Nis. „Gib mal her!“

Aber auch Nis konnte bald erkennen, dass Nina richtig beobachtet hatte. Der Schatten der Steinkante war nur ein kleines Stück über den Strich mit der eingemeißelten 11 hinausgewandert. Auf der Sonnenuhr war es nur ein paar Minuten später als vorhin, als Nis Nina erklärt hatte, wie man dort die Zeit ablesen kann.

Auch Benjamin bestätigte, was die anderen bereits gesehen hatten. Ein Vergleich mit den drei Armbanduhren ergab, dass diese bereits eine halbe Stunde weitergegangen waren, denn sie zeigten übereinstimmend halb zwölf.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Benjamin, „die Uhren gehen doch genau so schnell wie der Schatten wandert!“

„Oder Nina hat richtig vermutet, und für uns geht die Zeit schneller“, meinte Nis.

„Genau so muss es sein“, sagte das Mädchen, „die Zeit geht für uns sogar mehr als doppelt so schnell, und das ist unsere Rettung.“

„Wieso ist das unsere Rettung?“, fragte Benjamin.

„Weil wir schneller sind als alle die ungeheuer großen Tiere um uns herum.“

„Das stimmt, Nina“, bestätigte Nis.

„Klasse!“, rief Benjamin. „Wir sind die Schnellsten und renne einfach weg. Ach, wenn das Willi erleben könnte. Schade, dass er nicht dabei ist!“

„Las doch deine blöden Sprüche“, sagte Nina ärgerlich. „Wir wissen immer noch nicht, wieso wir überhaupt geschrumpft sind.“

„Und ich möchte gerne wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, wieder größer zu werden“, ergänzte Nis.

Sie überlegten, aber keiner wusste, was sie tun sollten. Sie beschlossen endlich, den Wald aus Gräsern zu erkunden. Kaum hatten sie die Geröllhalde verlassen und waren ein paar Schritte zwischen die mächtigen Grashalme getreten, verschwand das rote Licht plötzlich. Sie blieben stehen.

„Hier ist das Licht zu Ende“, sagte Benjamin.

„Die Kugel beleuchtet also nur den Kiesweg bis zum Rand der Wiese“, stellte Nina fest.

Sie ging ein paar Schritte zurück. Richtig! An der Stelle, wo die Wiese aus Riesengräsern endete, standen sie wieder im warmen Licht, das hier alle Steine in eine unwirklich rote Farbe tauchte.

Nina nahm noch einmal das Fernglas und richtete es auf die Sonnenuhr.

„Der rote Ball ist noch immer da.“

„Willis Verkehrsampel!“, blödelte Benjamin.

„Kannst du Einzelheiten erkennen?“, fragte Nis.

„Nein, das leuchtet rot. Aber warte mal, links kann ich auch einen grünen Schein sehen.“

Nis nahm das Glas und guckte hindurch. Die Kugel schwebte unbeweglich über dem Sandsteinblock. Sie verströmte noch immer das rote Licht, das sie am ganzen Körper spüren konnten. Am linken Rand der Kugel schiene die Farbe aber nach Grün zu wechseln.

„Ist ja komisch. Wozu soll das gut sein?“, fragte er Nina.

„Die Kugel beleuchtet den Kiesweg nur auf dieser Seite der Säule rot, vielleicht scheint sie auf der anderen Seite grün.“

„Das rote Licht macht Willi klein!“, rief Benjamin laut. „Und das grüne Licht ...“

„Aber klar!“, meinte Nis aufgeregt, „das grüne Licht lässt uns wieder wachsen!“

„Hoffentlich hast du recht“, sagte Nina. „Wir müssen versuchen, in den grünen Lichtschein zu kommen!“

In diesem Moment wurden die drei erneut von einem unbekannten Geräusch aus ihrer Unterhaltung gerissen. Ein dumpfes „Bumm“ war zu hören, dann etwas lauter wieder: „Bumm“. Und dann noch lauter: „Bumm!“, so dass sie die Erschütterung am ganzen Körper spüren konnten.

„Da kommt irgend etwas“, sagte Nina.

„Willi ist das nicht, der bummst nicht so schwer, wenn er auf den Boden springt“, meinte Benjamin.

Nach einigen Minuten rauschte es im Grasdickicht ganz in ihrer Nähe; riesige Grasblüten brachen mit lautem Getöse um; Samenkapseln - so groß wie Ananasfrüchte - flogen durch die Luft und sausten gar nicht weit von ihnen auf die Steine des Geröllfeldes nieder. Einen Moment später donnerte es so gewaltig, als habe es ein Erdbeben gegeben; von der Erschütterung wurden die Kinder zu Boden geworfen.

„Wir müssen hier weg!“, rief Nina.

Sie liefen am Rande des Graswaldes entlang, kamen aber wegen der Geröllmassen nur langsam voran. Plötzlich verdunkelte ein riesiger Schatten die Sonne und zog langsam über sie hinweg.

„Ein Elefant!“, rief Benjamin.

„Quatsch. Elefanten können doch nicht fliegen.“

Der Schatten zog über sie hinweg und landete krachend inmitten des Steinfeldes. Da sahen sie es. Es war mindestens zehn Meter lang und bestimmt fünf Meter hoch.

„Ein Frosch!“, rief Nis.

„Ein Elefantenfrosch!“

Das rosa Maul des Riesenfroschs öffnete sich und heraus drang etwas, das wie eine Keule aussah und mit erheblicher Geschwindigkeit auf die drei zu sauste.

„Weg! Schnell weg!“, rief Nina.

Gerade noch rechtzeitig konnten sie ihren Standort verlassen, da schlug die Keulenzunge bereits an der Stelle ein, wo eben noch Benjamin gestanden hatte.

„Der glaubt, wir seien Fliegen und will uns fressen!“, rief Nis und seine Stimme überschlug sich.

„Schnell, schnell weg von hier!“, rief Nina noch einmal.

Sie rannten, so schnell sie nur konnten. Jetzt zeigte sich, dass sie vorhin richtig beobachtete hatten. Der riesige Koloss von Frosch drehte seinen großen runden Glubschaugen langsam hinter den weglaufenden Kindern her, aber bevor er seine Keulenzunge erneut herausschleudern konnte, waren sie aus seiner Reichweite verschwunden.

„Gerettet!“, rief Benjamin und blieb keuchend stehen. „Er ist zu langsam.“

„Weiter, weiter!“, drängte Nina. „Er kann weit springen, sehr weit sogar!“

Sie liefen wieder los, und es dauerte nur ein paar Minuten, da erschütterte erneut ein schweres Beben die Geröllhalde, so dass die drei noch einmal das Gleichgewicht verloren und zwischen den Steinen zu Boden stürzten.

Nina drängte sofort zum Weiterlaufen.

„Wir müssen den grünen Lichtbereich erreichen!“, rief sie.

Die drei liefen um ihr Leben, denn das hatten alle begriffen: wenn der Riesenfrosch zu einem dritten Sprung ansetzte, waren sie verloren.

Endlich tauchte ein grüner Schein auf; die Farbe der sich weit ausbreitende Geröllhalde wechselte an einer scharf begrenzten Stelle von rot nach grün.

„Schnell, lauft in das grüne Licht!“, rief Nina.

Sie stolperten mehr als sie liefen; mit einem Mal merkten sie eine plötzliche Kälte. Sie stoppten ihren Lauf und spürten ein Ziehen am ganzen Körper.

„Wir wachsen!“, rief Nis.

Die Steinwüste um sie herum verschwand; die grüne Kugel schwebte mit ihrer Säule vom hohen Himmel herunter. Sie hatten das Gefühl, als stürze die Welt um sie herum in einen tiefen Abgrund.

Dann standen sie wieder auf dem Kiesweg ganz nahe bei der Säule mit der Sonnenuhr.

„Wo ist die grüne Kugel?“, fragte Nis.

„Verschwunden!“, quietschte Benjamin. „Von Willi verschluckt und ratzeputz aufgefressen!“

„Mein schönes Kleid!“, jammerte Nina. „Was sage ich bloß meiner Mutter?“

Auch Nis und Benjamin hatten ihre Pullover und Hosen zerrissen und sahen ziemlich schmutzig aus.

„Das kriegen wir schon hin“, meinte Nis. „Wir erfinden einfach einen Unfall am Treeneufer.“

Nina lachte. „Ich bin ins Wasser gefallen, und ihr habt mich im letzten Augenblick vor den Treenekrokodilen gerettet!“

„Genau!“, rief Nis begeistert. „Und dabei haben sie dein Kleid zerrissen.“

Benjamin murmelte: „Ich möchte nur gerne wissen, wie das mit der Zeit abgelaufen ist.“

Auf der Sonnenuhr war es gerade viertel nach elf, während die Armbanduhren der Kinder viertel vor Zwölf anzeigten.

„Dann hat unser Abenteuer also fast eine Stunde gedauert“, sagte Nina.

„Den Titicacasee haben wir nicht erreicht und leider auch nicht die geheimnisvolle Insel der Aymará gefunden“, bedauerte Nis.

„Morgen versuchen wir es noch einmal“, tröstete ihn Benjamin. „Vielleicht entdecken wir dann endlich Willi, das Wasserschwein im Titicacasee!“

„Aber ich komme mit!“, rief Nina, und niemand widersprach ihr.

Als die Jungen ihre Fahrräder durch das Loch im Zaun geschoben hatten, hörten alle drei die Uhr am Kirchturm schlagen. Sie zählten mit, es waren zwölf Schläge.

 

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