Die bleiche Frau

  

Im Osten der Stadt, gleich hinter dem Haus, in dem früher der Scharfrichter wohnte, liegt ein stattliches Gebäude. Die Leute nennen es Kloster, aber es ist ein Stiftsgebäude, in dem die Alten der Stadt die letzten Jahre ihres Lebens verbringen. Es trägt den Namen St. Jürgen, und die wohlhabenden Familien der Stadt rechnen es sich seit Jahrhunderten zur Ehre an, hier ihren Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen, indem sie Gelder spenden und ehrenamtlich Jahr über Jahr als Rechnungs- und Speisemeister wirken. In früheren Jahrhunderten war an dieser Stelle die Stadt zu Ende, und Felder und Wiesen grenzten hier an die Gärten der kleinen Leute.

Gleich neben dem Stift liegt der alte Kirchhof, wo man die Gestorbenen beisetzte und ihrer so lange gedachte, bis die Grabmäler zerfielen oder bis niemand mehr in der kleinen Stadt lebte, der einen von denen kannte, deren Namen man in den Gedenkstein eingemeißelt hatte.

Wie man in alten Büchern lesen kann, standen früher im Durchgang von den Zellen der Bewohner des Stiftshauses zur angegliederten Kapelle die Särge mit geöffneten Deckeln bereit, so dass die noch Lebenden sich allmählich an den Gedanken gewöhnen konnten, bald selber in der dunklen Kammer bei denjenigen zu liegen, die diesen letzten Weg bereits vor ihnen gegangen waren.

Über den Kirchhof führt ein Pfad, durch den man den Weg vom Süden der Stadt in den Nordosten beträchtlich verkürzen kann. Er beginnt an einem Spielplatz mit Schaukel- und Klettergeräten, auf dem die jüngsten Bewohner der Stadt sich unbekümmert in ihre Zukunft hineinturnen, wendet sich dann zwischen hohen Büschen nach rechts zum alten Gemäuer des Stifts, um schließlich durch das Feld der ehrwürdigen Grabsteine bis unter die großen Linden zu führen, die im Sommer mit ihren mächtigen Blätterkronen die Gruft der Familie Woldsen beschirmen. Dieses Erbbegräbnis ist mit großen Steinplatten bedeckt, die früheren Gräbern bereits als Abdeckungen gedient haben und heute noch erkennen lassen, wessen Ruhe sie einst beschützen sollten. Die Vorderseite des Grabmals zeigt zur Straße und gilt wegen der Berühmtheit des darinnen begrabenen Dichters unzähligen Menschen von fern und nah als ein bedeutender Anziehungspunkt der Stadt.

 

Tim kannte den Weg genau, denn er nutzte ihn mehrmals in der Woche, um von der Wohnung seiner Eltern zum Häuschen der Großmutter zu eilen, der er gelegentlich Grüße von seiner Mutter überbringen musste, die er aber viel häufiger deshalb besuchte, weil sie mit Süßigkeiten großzügiger umging als seine Eltern und auch sonst mehr Zeit für den Jungen hatte. In ihrem kleinen Haus fühlte sich Tim geborgen und wohl. Auf der Straßenseite rankte ein mächtiger alter Rosenbusch über die niedrige Tür, und im Juni, wenn hunderte von weißen Knospen aufbrachen und das ganze kleine Häuschen in eine schimmernde Blütenpracht hüllten, fiel nur noch gedämpftes Licht in das enge Wohnzimmer, das seine Helligkeit durch ein schmales Fenster erhielt, welches zur Straße hinausblickte.

Hier saß Tim am liebsten, denn in einem Wandregal waren die Bücher des Großvaters aneinandergereiht, der bereits vor Jahren gestorben war, und dessen kleine Bibliothek nun niemanden mehr interessierte. Nur Tim kannte die alten Schätze genau, und er fand immer wieder Zeit, um zur Großmutter zu laufen und in ihrem Wohnzimmer eines der alten Abenteuer- und Reisebücher vom Regal herunterzuholen. Dann setzte er sich gemütlich auf das alte Sofa, kuschelte sich in die bunten Häkelkissen und vergaß die Welt um sich her, bis schließlich die Großmutter „Tim!“, sagte und „Tim!“, was ihn zum Aufbruch mahnen sollte und aus den schönsten Phantasiewelten in die Wirklichkeit zurückrief.

Wenn die Großmutter den Jungen endlich auf den Weg nach Hause gebracht hatte, war es meist schon spät. Tim musste dann schnell laufen, um noch rechtzeitig zum Abendbrot zu kommen, und er beeilte sich auch jedes Mal, denn sein Vater verstand in Fragen der Pünktlichkeit überhaupt keinen Spaß.

Da war es gut, dass der kurze Weg am Kloster vorbei über den Kirchhof und dann über den Spielplatz führte, auf dem Tim in wenigen Minuten nach Hause gelangte. Aber nicht immer hatte der Junge es so eilig, dann ging er in aller Ruhe über den Kirchhof und schlenderte durch die Büsche. Manchmal blieb er gleich am Anfang des schmalen Weges stehen und betrachtete das große Familiengrab der Woldsen mit einer gewissen Ehrfurcht. Er wusste von Herrn Ellenberg, seinem Deutschlehrer, dass Theodor Storm hier begraben lag und dort unten für immer ruhte. Einmal musste mit seinem Freund Gerrit ein großes Wandbild für den Klassenraum herstellen, auf dem sie das Grab des Dichters beschrieben.

 

Im Herbst, wenn die Blätter von den Linden abfielen und vom Wind zu riesigen braunen Haufen getürmt wurden, wenn ein kalter Nieselregen durch die fast kahlen Bäume tropfte und ein dichter Nebel den Blick auf das Klostergebäude verstellte, ging Tim diesen Weg nicht so gern wie im hellen Frühling oder Sommer. Gespenstisch lagen die Gräber während der dunklen Jahreszeit auf dem kleinen Kirchhof, die Stümpfe zerbrochener Denkmäler ragten wie drohende Finger empor, und es roch modrig und nach Verwesung. Dann sehnte Tim sich nach dem Frühling, wenn im März schon der bunte Teppich aus Krokussen und Schneeglöckchen aufblüht und gemeinsam mit den Märzenbechern dem ganzen Kirchhof ein heiteres und fröhliches Aussehen verleiht, noch bevor die Büsche und Bäume grün werden.

 

An einem solchen nebligen Herbsttag lief Tim wie schon so oft in den letzten Wochen mit langen Schritten vom Häuschen der Großmutter nach Hause. Er hatte sich trotz mehrfacher Ermahnungen nur schwer von seiner spannenden Lektüre trennen können und musste nun zusehen, wie er in letzter Minute noch pünktlich das gemeinsame Abendessen am Familientisch erreichen konnte.

Er war gerade auf den Kirchhof eingebogen - dem großen Grabmal schenkte er diesmal keine Aufmerksamkeit, da er im Geiste bereits vor, seinem Teller und der dampfenden Teetasse saß -, da stutzte er.

Hinter einer Linde trat eine weiße Gestalt hervor, er sah sie jetzt ganz deutlich. War das eine junge Frau? Sie wich nicht von der Stelle, bewegte aber die Arme, als ob sie ihn ansprechen wollte. Tim ging ein paar zögernde Schritte auf die Gestalt zu, da zerfloss die Erscheinung plötzlich. Im milchigen Nebel war nichts mehr zu sehen. Tim dachte nicht weiter darüber nach, denn er wollte auf jeden Fall noch pünktlich den Abendbrottisch erreichen, und lief schnell weiter.

 

Zwei Tage später - Tim hatte den ganzen Vorfall schon wieder vergessen - musste er erneut den Weg über den Kirchhof nehmen. Er bog gerade von der Straße am Grabmal des Dichterfamilie ein, als ihn ein eigentümliches Gefühl beschlich. Urplötzlich erinnerte er sich an die weiße Gestalt, die er vorgestern hier gesehen hatte, und sofort ging er langsamer. Heute war die Luft klar, die Dämmerung war längst hereingebrochen und der Mond schien durch die nur noch spärlich mit alten Blättern bedeckten Linden. Ab und zu fegten leichte Windstöße Blätterhaufen über das stille Gelände.

Tim blieb neben dem großen Grabmal stehen und blickte gespannt über das Gräberfeld zum Querbau des Stifts hinüber. Bewegte sich da etwas?

Nichts zu sehen, beruhigte er sich. Die alten Grabsteine standen einsam inmitten des feuchten Herbstlaubs, das der Wind vor ihnen aufgehäuft hatte, das Mondlicht ließ die Wand des alten Klostergebäudes hell schimmern, und hinter den Fenstern der Kapelle war ein dumpfer gelber Lichtschein zu erkennen. Tim ging langsam weiter. Als er etwa die Hälfte des Weges zum Spielplatz zurückgelegt hatte, glaubte er, ein Geräusch zu hören. Mit einem Mal überfiel ihn die Angst, etwas könnte sich ihm von hinten nähern. Ohne sich umzusehen rannte er, so schnell er konnte, die letzten Meter über das Gräberfeld, bis er den Sand des Spielplatzes unter seinen Füßen fühlte. Etwas mussten Kinder hier liegen gelassen haben, denn Tim stolperte und schlug der Länge nach hin.

Wieder packte ihn das grausige Gefühl, als befinde sich jemand hinter seinem Rücken. Im Aufstehen blickte er sich schnell um und - sah die Gestalt. Ganz deutlich konnte er erkennen, dass es eine junge Frau war, die in weißen Gewändern auf ihn zu ging, den Blick starr auf ihn gerichtet, beide Hände leicht nach vorn angewinkelt, als ob sie etwas vor sich her trüge: So kam sie langsam über den Kirchhof geschritten.

Tim wollte sich aufrappeln, aber mitten in der Bewegung erstarrte er; zu seinem Entsetzen sah er, dass die Augen der Frau auf ihn gerichtet waren, gespenstisch kalte Augen, und er konnte kein Glied mehr rühren. Immer näher kam die Gestalt; die weißen Gewänder umflossen sie wie Nebel, und Teile davon schienen sich von ihr zu entfernen. Aber der Junge gewann blitzschnell die Kontrolle über seinen Körper wieder, sprang auf und lief davon.

Wie er nach Hause gekommen war, wusste er nicht mehr. Nur dass seine Mutter ihn besorgt fragte: „Tim, was ist los?“, worauf er, ein paar entschuldigende Worte murmelnd, sich schnell die Hände wusch und dann an den Esstisch setze, als ob nicht geschehen sei. Denn mit seinem Vater über den Vorfall zu reden, kam überhaupt nicht in Frage, weil dieser sowieso kein Verständnis dafür aufbringen wollte, dass sein Sohn über die Lektüre von abenteuerlichen Geschichten die in seinen Augen viel wichtigeren Schulaufgaben vernachlässigte. Väter haben nur selten Verständnis dafür, dass ihre Söhne die Abenteuer von Tom Sawyer und seinem Freund Huckleberry spannender finden als lateinische Vokabeln. Und dann gar ein Gespenst gleich um die Ecke! Damit konnte er ihm erst recht nicht kommen.

„Das macht deine überhitzte Phantasie!“, würde er sagen. „Wenn du nicht andauernd in Opas Büchern schmökern würdest, sondern ab und zu etwas für die Schule arbeitetest, brauchtest du dir auch keine Gespenster im Halbdunkel einzubilden!“

Das Erlebnis musste aber Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen haben, denn als er kaum etwas von seinem Teller aß, meinte sein Vater: „Unser Tim ist doch nicht etwa krank?“

Als er dann auch noch heftig niesen musste und beteuerte, dass er überhaupt keinen Appetit habe und heute ganz gerne früh ins Bett gehen wolle, blickten sich seine Eltern besorgt an und beschlossen, seinem Wunsch nachzukommen.

„Das kommt von dem nasskalten Herbstwetter“, sagte die Mutter.

„Draußen zieht wieder ein Sturm auf; die Böen sind schon recht heftig“, sagte der Vater.

Tim schwieg und erreichte auf diese Weise, dass ihn heute niemand mehr verfängliche Fragen wegen seines Abenteuers stellte. Denn trotz des großen Schrecks, den er bei seiner seltsamen Begegnung auf dem Heimweg erlitten hatte, war bereits der Forschergeist in ihm erwacht, und er hatte längst beschlossen, der mysteriösen Sache mit der gespenstischen Frau auf den Grund zu gehen. Allein allerdings wollte er nicht noch einmal über den nächtlichen Kirchhof gehen, aber er hoffte, dass ihn sein Freund Gerrit bei dieser Expedition begleiten würde.

Tim ertrug geduldig die Fülle der Maßnahmen, die seine Mutter jetzt ergriff, um den vermeintlich kranken Sohn mit allerlei heißen Getränken und Einreibungen ins Bett zu befördern, denn alle Mütter denken, das Bett sei der einzige Ort auf dieser Welt, wo Krankheiten wie Husten, Masern, Mumps, Scharlach, Schnupfen und Windpocken schnell wieder ausgeheilt werden können. Und als das Fiberthermometer dann auch noch achtunddreißigfünf zeigte, glaubte auch Tim, dass irgend etwas mit ihm nicht stimmen könnte. Draußen war der böige Wind zum Sturm angeschwollen, der an den Fensterläden riss. Das Heulen und Jaulen wurde immer stärker.

„Vielleicht bin ich ja wirklich krank“, dachte er, „oder das Gespenst hat mich so aufgeregt.“ Er überlegte noch einmal genau, was er am nächsten Morgen Gerrit erzählen wollte, dann schlief er ein.

 

Gerrit schaute ihn an und grinste. „Du willst ein Gespenst gesehen haben?“, fragte er ungläubig. „War wohl 'ne alte Plastiktüte, die der Wind durch den Park gefegt hat.“

Tim erzählte ihm den Vorgang noch einmal ganz von vorn. „Jetzt haben wir Mathe!“, war alles, was an Reaktionen kam.

„So ein Mist!“, dachte Tim, als Frau Kindel die Hausaufgaben kontrollierte. Er hatte seine mal wieder vergessen, und da kannte Frau Kindel kein Erbarmen. Irgendwie ging die Stunde aber herum, die nächste auch. In der Pause versuchte es Tim noch einmal.

„Stell' dir doch mal vor, was wir heute Nachmittag machen. Wir rüsten eine Expedition aus, und erforschen den alten Kirchhof ganz gründlich. Vielleicht finden wir ja einen geheimen Eingang zu Storms Grab.“

Langsam erwachte Gerrits Interesse. Vor der Deutschstunde betrachteten sich beide noch einmal genau die Zeichnung, die an der Rückwand des Klassenzimmers hing und die Gerrit vor einigen Wochen für das Wandbild aus einem Buch kopiert hatten. Sie zeigte das große Grabgewölbe auf dem St. Jürgen-Friedhof im Querschnitt.

Leider war Herr Ellenberg heute nicht dazu zu bewegen, etwas von Storm und von seinem Grab zu erzählen. Sonst war es ziemlich leicht, ihn dazu zu bringen, ein ihn interessantes Problem zu erklären oder einfach etwas zu zählen, und dann konnte man sich so schön gemütlich nach hinten lehnen, brauchte einfach nur zuzuhören, und schon war die Stunde vergangen.

Heute aber sollte Grammatik gelernt werden. Irgend etwas mit Präfix und Suffix. Tim musste immerzu an Idefix denken und dass sein Suffix ein Schwanz war.

„Können Hunde mit dem Präfix bellen?“, fragte er Herrn Ellenberg und hätte fast eine Zusatzaufgabe aufgebrummt bekommen.

Die Deutschstunde ging vorbei und auch Musik und Biologie. Endlich war Schulschluss. Tim bestand mit Nachdruck darauf, dass Gerrit ihn Punkt vier von zu Hause abholen sollte.

„Und bring' deine Taschenlampe mit!“, schärfte er ihm ein.

Nach dem Mittagessen erledigte Tim schnell seine Hausaufgaben, dann begann er, die Expedition vorzubereiten. Zunächst erklärte er seiner Mutter: „Nachher holt Gerrit mich ab. Wir müssen noch einmal rüber zum Kloster.“

„Lest ihr immer noch Storm im Deutschunterricht?“, fragte seine Mutter.

„Ja, wir sollen ein Referat halten!“, log Tim.

„Schön, aber um sechs bist du zu Hause, verstanden?“

„Alles klar, um sechs.“

 

Gerrit kam um zehn nach vier.

„Endlich!“, sagte Tim. „Hast du alles mit?“

Gerrit packte aus. „Taschenlampe, Messer, Notizblock und Bleistift. Und du?“

Tim hatte sich gut vorbereitet, und das waren die Dinge, die er in seinen Rucksack gepackt hatte: Ein Klappmesser, eine Taschenlampe, starken Bindfaden, eine Zange, eine Rolle Draht, Nägel, Notizblock mit Stift, ein Zollstock und Pflaster für den Notfall.

„Hier, für alle Fälle!“, sagte Gerrit und holte eine Tafel Schokolade aus der Tasche. Tim verstaute auch Gerrits Sachen in seinem Rucksack. Gerrit musste ihn tragen. Dann gingen die beiden los.

Am Spielplatz unterbrachen sie ihre Expedition. Sie setzten sich auf eine Bank, um ihren Plan noch einmal durchzusprechen und um Gerrits Notproviant zu verspeisen.

Heute spielten keine Kinder hier, alles lag leer und verlassen. Am Himmel zogen dunkle Wolken, die dann und wann aufrissen; es regnete zwar nicht, aber ein feuchter Wind fegte durch die Häuserzeilen und wirbelte vereinzelte Blätter von den Bäumen. Die Sonne war bereits hinter den Häusern im Westen versunken, aber ein letzter Lichtschein erhellte den Spielplatz und den Kirchhof, so dass die beiden Abenteurer jeden Grabstein deutlich erkennen konnten.

„Zunächst untersuchen wir die alten Gräber, ob irgendwo ein Loch zu entdecken ist“, bestimmte Tim.

„Vielleicht kam das Gespenst da herausgeklettert“, meinte Gerrit. „Wir sollten uns vorsichtshalber Stöcke besorgen.“

Tim nahm das Klappmesser aus seinem Rucksack und stand auf. Bald hatten sie zwei geeignete Stöcke gefunden und grob so zugeschnitzt, dass man sie wahlweise als Speere, Knüppel oder für ähnliche Zwecke verwenden konnte.

Dann gingen sie los. Sie stocherten mit ihren Stöcken im dicht mit abgefallenem Laub bedeckten Gras, fanden aber nichts Besonderes. Grabstein für Grabstein wurde untersucht, und Tim achtete darauf, dass sie nahe beieinander blieben.

Manchmal konnten sie eine der alten Inschriften entziffern; einige Familiennamen wie „Delff“ und „Hansen“ waren ihnen vertraut, andere klangen seltsam fremd, so zum Beispiel die „Ruhestätte der Familie Kaftan“. Schließlich hatten sie alle Grabstellen untersucht und setzen sich etwas enttäuscht auf eine der steinernen Bänke, die südlich des großen Grabmals aufgestellt waren. Die beiden Stöcke, die sie vorher sorgfältig angespitzt hatten, rammten sie in den weichen Boden, so dass sie sich am oberen Ende etwas überkreuzten, und stellten Tims Rucksack dazwischen.

„Nichts zu finden“, sagte Gerrit.

„So ein Mist!“, schimpfte Tim.

„Hast wohl doch bloß geträumt.“

„Quatsch! ich habe das Gespenst hier ganz deutlich gesehen.“

„Aber da ist doch ... nichts!“, wollte Gerrit sagen und zeigte in Richtung des Spielplatzes, von dem sie aufgebrochen waren. Er kam aber nicht dazu, denn die Worte blieben im Halse stecken.

Auch Tim hatte sich umgedreht, und nun sahen sie es beide. Hinter der großen Linde, die nicht mehr als zwanzig Schritte von ihnen entfernt in den grauen Himmel ragte, war die weiße Gestalt einer Frau hervorgetreten.

„Das ist sie!“, raunte Tim und fasste nach Gerrits Hand.

Der saß noch immer stumm da und starrte die Erscheinung an. Die weiße Frau schritt langsam näher. Diesmal sah Tim, dass der Körper und das weiße Gewand matt leuchteten. Wieder war es ihm, als zerflössen die Konturen des langen Kleides in milchigem Nebel.

„Was sollen wir tun?“, fragte er Gerrit. Der gab noch immer keinen Laut von sich.

Tim zerrte an seinem Arm.

„Gerrit! Gerrit!“, sagte er laut. „Was sollen wir denn bloß machen?“

„Ich habe Angst!“, war alles, was Gerrit herausbrachte.

Beide Jungen hockten gelähmt vor Entsetzen auf ihrer Bank und sahen, wie die Erscheinung Schritt für Schritt auf sie zu kam. Wieder fühlte Tim diesen kalten Blick der bleichen Augen, die starr auf ihn gerichtet waren; wieder sah er die angewinkelten Arme, die die Frau zu ihnen hinstreckte. Nur noch drei Schritte. Tim wollte weglaufen, aber er konnte seine Füße nicht bewegen. Starr saßen beide, und es war ihnen, als verginge eine Ewigkeit. Dann hatte die Frau die beiden erreicht. Keiner brachte einen Schrei heraus, keiner rührte auch nur einen Finger.

Aber was war das? Gerade als die Frau mit ihrer Hand Gerrit berührte, sah Tim, dass sie weiterging, durch beide hindurch, auch von der steinernen Bank ließ sie sich nicht aufhalten.

Die Jungen drehten sich um und sahen die Frau nun von hinten, wie sie langsam auf das große Grabmal zuschritt. Sie war einfach durch beide hindurchgegangen, als wären sie Luft.

Jetzt konnte Gerrit wieder sprechen.

„Sie schwebt ja über dem Boden!“, sagte er tonlos.

Auch Tim sah es. Die bleiche Frau trat mit ihren langsamen, gleichmäßigen Schritten gar nicht auf die Steinplatten auf, mit denen der Platz hinter dem Grab gepflastert war, sie schwebte mehrere Handbreit über dem Boden. Als sie den Rand der großen Steinplatten erreicht hatte, die sich wie ein breites Bett über dem Grabgewölbe erhob, begann sie plötzlich im Inneren des Grabes zu verschwinden. Es sah aus, als ob sie eine Treppe hinunter stiege. Und doch blieben die Steinplatten unbeweglich auf ihrem Platz. Die ganze Gestalt und ihr milchige schimmerndes Kleid wurden vom Boden aufgelöst. Dann war die Erscheinung verschwunden. Nur auf den Steinplatten blieb noch etwas von dem leuchtenden Nebel zurück, bis auch der langsam verblasste.

Tim und Gerrit sahen sich an.

„Das, das war ein Gespenst.“ sagte Gerrit schließlich.

„Na, glaubst du mir jetzt?“, fragte Tim triumphierend.

Die Jungen gingen mehrmals um das Grabmal herum, konnten aber keine Spur der seltsamen Erscheinung entdecken.

Plötzlich begann es zu knarren und zu scharren. Es hörte sich an, als ob schwere Steinplatten aufeinander verschoben würden. Tim und Gerrit hasteten erschrocken ein paar Schritte zurück und suchten Schutz hinter einem mächtigen Lindenstamm.

Am Grabmal ertönten wieder diese Geräusche. Etwas bewegte sich auf seiner Südseite. Tim und Gerrit konnten sich aus ihrer neuerlichen Erstarrung lösen und huschten im Schutz der Baumstämme einige Schritte nach Süden. Von diesem neuen Standpunkt konnten sie genauer sehen, was passierte.

An der hinteren Seite des Grabes hatte sich eine Öffnung gebildet. Eine Treppe schien hinabzuführen. Von unten quollen milchige Nebel hervor, die sich zwischen Gras und Blättern verloren. Dann ertönte plötzlich ein klagender Ruf aus der geöffneten Gruft. - Was war das?

Tim fühlte sich wie magisch von diesem Laut angezogen. Er erinnerte ihn an das Rufen seiner Mutter, von ganz weit schien es zu kommen. Wieder und wieder ertönte dieser Laut, und Tim hatte das dringende Bedürfnis, hinabzusteigen und nachzuschauen, wer dort klagte und rief.

Gerrit schien es ebenso zu gehen, denn ohne es zu wollen, hatten die beiden die schützenden Baumstämme verlassen und waren wieder näher zum Grabmal getreten. Jetzt standen sie Hand in Hand am Rande der Treppe, die in eine unbekannte Tiefe führte.

Ein mächtiger Zwang hatte sich beider bemächtigt; sie fühlten keine Angst mehr, sondern kannten nur noch ein Ziel: Hin zu dem herzzerreißenden Klagen und Rufen. Die beiden Jungen stiegen langsam die Treppenstufen hinunter und verschwanden in den feuchtkalten Nebeln, die noch immer aus der Öffnung hervorquollen.

Nach wenigen Schritten hatten sie den Boden des Gewölbes erreicht und standen in einem länglichen Gang, in dessen Wände Eisenstangen eingelassen waren. Rechts und links sahen sie dunkle Särge, von denen einige in sich zusammengesunken und andere von den Eisenstäben heruntergefallen waren. Hier und da lagen Gegenstände herum, die wohl aus ihren umgestürzten Behältnissen gefallen sein mochten, doch die beiden konnten nichts richtig erkennen, denn es gab kein Licht hier unten. Nur ein bleicher Schein durchdrang schwach die milchigen Nebel.

Sie blieben am Fuße der Treppe stehen. Auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Gewölbes kauerte eine Gestalt, von der das schwache Leuchten ausging. Es war die bleiche Frau, deren Erscheinung sie vor kurzer Zeit in Angst und Schrecken versetzt hatte. Zusammengesunken hockte sie am Boden, schluchzte und stieß leise Klagelaute aus. Tim wollte auf sie zugehen, aber Gerrit hielt ihn zurück.

„Tim!“, rief er, „Tim! geh nicht!“

Aber Tim fühlte einen unwiderstehlichen Drang, auf die bleiche Frau zuzugehen. Diese hob plötzlich den Kopf und sagte: „Tim!“, und Tim hörte die Stimme seiner Mutter. Tim fühlte erneut den kalten Blick der bleichen Augen, dann hörte er wieder die Stimme seiner Mutter.

„Tim! Tim! Komm zu dir, mein Junge. Was hast du?“

Tim riss sich von Gerrits Hand los und ging auf die weiße Erscheinung zu. Bleiche Augen starrten ihn an, und er konnte fleischlose Zahnreihen erkennen, die sich zu einem schmalen Grinsen formten. Als er die Frau fast erreicht hatte, stürzte er mit einem Schrei zu Boden.

 

Auf einmal wurde es hell. Tim sah in das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn beugte. Sie fasste seinen Hand, und Tim wollte wieder schreien. Da merkte er, dass er in seinem Bett lag. Die Lampe in seinem Zimmer brannte und seine Mutter strich ihm über die Stirn.

„Was ist denn?“, fragte er verwirrt.

„Du hast laut nach mir gerufen“, sagte seine Mutter. „Geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch“, beteuerte Tim, der sich nun in seinem Bett aufrichtete, „ich habe wohl nur geträumt.“

„Das wird ein Fibertraum gewesen sein“, beruhigte ihn die Mutter.

Tim fand sich allmählich in der Wirklichkeit zurecht, und da das Fiberthermometer keine erhöhte Temperatur anzeigte, durfte er aufstehen und saß schließlich noch ziemlich von seinen Traumbildern gefangen am Frühstückstisch.

In die Schule musste er an diesem Morgen nicht gehen, da er sich nach Meinung seiner Eltern zumindest einen Tag lang auskurieren sollte, eine Entscheidung, gegen die er keinerlei Einspruch erhob.

 

Der Sturm hatte in der Nacht einige Schäden in der Stadt angerichtet, die sich Tim aber nicht ansehen durfte, obwohl er seiner Mutter immer wieder in den Ohren lag. Nach dem Mittagessen aber quengelte er ihr so lange etwas vor, bis sie ihn schließlich zu Gerrit gehen ließ. Dort erwartete ihn eine Überraschung.

„Gerrit ist krank und lag bis heute Mittag im Bett“, empfing ihn Gerrits Mutter.

„Kann ich zu ihm?“

„Komm rein.“

„Hallo Gerrit. Was ist den los?“, sagte er, als er seinen Freund in seinem Zimmer fand.

„Weiß nicht, habe heute Nacht so komisch geträumt“, antwortete Gerrit.

„Wovon denn?“, wollte Tim wissen.

„Das war eine unheimliche Sache. Ich habe geträumt, wie du mir in der Schule was von einem Gespenst erzählt hast. Na, und das haben wir beiden dann auf dem Kirchhof gesucht.“

„Wo?“, fragte Tim bloß, und er bekam ganz plötzlich einen trockenen Mund.

„Na, beim Kloster“, antwortete Gerrit.

„Und weiter?“

„Wir haben sie tatsächlich gesehen, so wie du erzählt hast“, berichtete Gerrit, „eine junge weiße Frau.“

„Und dann?“, drängte Tim, dem es heiß und kalt den Rücken hinunterlief.

„Dann sind wir ins Grab vom ollen Storm hinunter gestiegen.“

„Und dann?“

„Dann bin ich aufgewacht, und meine Mutter hat gesagt, ich hätte im Fiber nach ihr gerufen.“

„Aber das habe ich doch geträumt!“, rief Tim.

„Du auch?“, fragte Gerrit verdutzt.

Sie schauten sich verdutzt an, dann erzählten sie sich ihre Träume wechselseitig noch einmal genau und mussten erstaunt feststellen, dass sie in allen Einzelheiten gleich waren. Nur hatte eben jeder die Sache aus seiner Sicht geträumt. Wie war so etwas möglich? fragten sie sich, fanden aber keine Erklärung.

Mit Tims Unterstützung erreichten sie, dass Gerrits Mutter ihren Sohn („Für höchsten eine Stunde!“) aus der Wohnung ließ. Die beiden liefen sofort zum Kloster.

 

Der Sturm hatte tatsächlich bedeutende Schäden verursacht, das konnten sie überall sehen. Abgebrochene Äste lagen herum, Ziegel waren von den Dächern herabgewirbelt worden, und überall flogen Papierfetzen herum.

Als sie in die Osterreihe einbogen, sahen sie schon von weitem einen großen Kranwagen. Schnell liefen sie hin und fanden den Kirchhof abgesperrt. Die Leute hievten mit Hilfe des Autokrans gerade einen großen Baumstamm in die Höhe, den der Sturm umgeknickt hatte und der direkt hinter Storms Grab aufgeschlagen war.

Die beiden mogelten sich unauffällig durch die Absperrungen, um die Angelegenheit näher in Augenschein nehmen zu können.

„Da! Stufen!“, rief Gerrit.

Tim sah es auch. Der schwere Baumstamm hatte die Platten, die den Boden hinter Storms Grabmal bedeckten, hoch gedrückt. Darunter kamen steinerne Treppenstufen zum Vorschein. Einige Männer umringten die Stelle. Tim erkannte Herr Ellenberg, ihren Deutschlehrer.

„Hallo Tim, Hallo Gerrit! Wollt ihr euch die Unglücksstelle einmal ansehen?“, fragte er.

„Fast hätte es das alte Grabmal erwischt, aber nur fast“, fügte er hinzu.

„Wir waren da unten drin!“, sagte Tim.

„Wo?“, fragte Herr Ellenberg ungläubig.

„Na, da unten in dem Gewölbe. Einige Särge sind umgestürzt.“

„Und da war, da war auch die weiße Frau!“, ergänzte Gerrit.

„Ich habe euch wohl zu viele Gespenstergeschichten vorgelesen?“, lachte Herr Ellenberg.

„Nee, wir haben das geträumt!“, sagte Tim.

„Alle beide das gleiche geträumt!“, bestätigte Gerrit.

„Nein, das kann nicht sein.“ Herr Ellenberg schüttelte den Kopf. Gerrit stieß Tim heftig in die Seite.

„Guck mal da!“, sagte er und zeigte hinter die steinernen Bänke.

Tim folgte seiner Hand und sah, dass da zwei kräftige Stöcke in den weichen Boden gerammt waren, zwischen denen etwas Graues lag.

„Mein Rucksack!“, sagte er verdutzt.

Er wollte Herrn Ellenberg darauf aufmerksam machen, aber der sagte nachdenklich: „Die Idee ist gar nicht so schlecht. Eine weiße Frau erscheint auf einem Kirchhof und lockt zwei Jungen in Theodor Storms Grab. Das erinnert mich an eine Geschichte, die der Dichter als junger Mann aufgeschrieben hat.“

„Wirklich?“, fragte Gerrit.

„wisst ihr was? Besucht mich doch einmal zu Hause und erzählt mir euren Traum“, sagte Herr Ellenberg. „Vielleicht wird noch eine spannende Geschichte daraus.“

 

Schon am darauf folgenden Nachmittag saßen sie bei Herrn Ellenberg im Arbeitszimmer und tranken heißen Kakao. Nachdem sie ihrem Lehrer ihre Erlebnisse noch einmal genau erzählt hatten, sagte der nach einer langen Pause: „Manchmal kann einem die Phantasie ganz schöne Streiche spielen. Vielleicht hat der eine von euch geträumt und der andere sich alles nur eingebildet.“

Gerrit protestierte: „Nein, nein. Ich habe genau dasselbe geträumt.“

„Und die weiße Frau haben wir beide gesehen. Ganz bestimmt.“

„Und der Rucksack, der Rucksack von Tim!“, rief Gerrit. Der liegt immer noch da rum.“

„Welcher Rucksack?“, fragte Herr Ellenberg.

„Na meiner,“ sagte Tim und dann erklärte er ihrem Lehrer, was es mit dem Rucksack auf sich hatte.

Herr Ellenberg war noch nachdenklicher geworden. Eine Weile war es ganz still im Zimmer. Dann sagte er: „wisst Ihr was, wir werden der Sache auf den Grund gehen. Morgen wird die Gruft geöffnet, und ich werde hinuntersteigen, um da unten zwischen den Särgen einmal nachzuscheuen. Wollt ihr mitkommen?“

 

Und ob sie wollten! Tim und Gerrit konnten es kaum erwarten, bis am nächsten Mittag die Schule worüber war. Gleich nach dem Mittagessen machten sich beide auf und waren schon eine Stunde vor ihrem Lehrer am Grab. Den Rucksack fanden sie noch genau an der Stelle, wo Tim ihn hingelegt hatte. Wegen der Absperrung, die die Arbeiter angebracht hatten, war niemand so nahe an das Grab herangekommen, dass er dort etwas hätte wegnehmen können.

Nach langem, langem Warten kam schließlich Herr Ellenberg in Begleitung von einer ganzen Gruppe von Männern, von denen einige Schutzhelme trugen. Mit großen Hämmern wurden die Steinplatten, mit denen die Gruft verschlossen war, los geklopft. Dann hoben drei Männer mit Hilfe von kräftigen Eisenstangen und Balken, die sie unterschoben. die erste Platte zur Seite. Die zweite und dritte folgten, und eine dunkle Öffnung zeigte sich. Von einer Treppe, die Tim und Gerrit gestern gesehen hatten, gab es aber keine Spur.

Die Männer blickten vorsichtig in die Tiefe. Eine Lampe wurde in die Gruft gerichtet und eine Leiter hineingestellt. Herr Ellenberg und einer der Männer stiegen vorsichtig hinab.

„Wartet einen Augenblick“, sagte er zu Tim und Gerit. „Wir wollen erst sehen, ob man gefahrlos hinab steigen kann.“

Nach einigen Minuten erschien der Kopf von Herrn Ellenberg wieder an der oberen Kante der Gruft.

„Alles klar, ihr könnt heruntersteigen.“

Tim kletterte als erster auf die Leiter und stieg dann Schritt für Schritt in die Tiefe hinunter. Gerrit folge ihm auf dem Fuße. Nach wenigen Augenblicken standen beide neben den Männern, die mit der starken Lampe die Gruft ausleuchteten.

Tim musterte die Reihe alter Särge. Die meisten waren aus Holz, einige schienen aber auch aus Metall zu bestehen. Der Anblick der Gruft war gespenstisch; kalte, aber frische Luft strömte ihnen entgegen. Sie konnte durch ein kleines Fenster eindringen, das an der Nordseite angebracht war.

Auf eingezogenen Eisenstangen standen Sarg neben Sarg. Einer war aus seiner Stellung herab geglitten und umgestürzt.

„Genau so haben wir das schon einmal gesehen“, sagte Tim.

Gerrit deutete zwischen die zerborstenen Bretter.

„Sind das Knochen?“, fragte er.

„Kann schon sein“, antwortete Herr Ellenberg. Auch Stoffreste konnten sie erkennen.

„Wer liegt in diesem Sarg?“, fragte Tim.

„Das muss Storms erste Frau sein“, murmelte Herr Ellenberg.

„Woran ist sie denn gestorben?“, fragte Gerrit.

Her Ellenberg schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er langsam: „Sie starb nach der Geburt ihrer vierten Tochter.“

„Und das Kind?“, fragte Gerrit.

„Das hat gelebt und ist herangewachsen.“

„Ohne Mutter?“, wollte Tim wissen.

„Nicht ganz, Tim. Storm hat seine zweite Frau geheiratet, und die hat sich um die Kinderschar gekümmert.“

„Vielleicht hat die weiße Frau ihr Kind gesucht“, flüsterte Gerrit Tim zu.

„Ja, so muss es gewesen sein!“

Beiden Jungen liefen Kälteschauer über den Rücken.

Der andere Mann richtete den Sarg, der aus alten Holzbohlen gefügt war, so gut es ging wieder auf. Alle heraus gefallenen Gegenstände wurden hineingelegt und danach der Deckel wieder darüber geschoben. Dann stiegen alle vier nach oben.

Obwohl der Herbststurm die Luft schon deutlich abgekühlt hatte, spürten die beiden Jungen, wie freundlich und warm es oben war. Mit Schaudern blickten sie noch einmal in die Gruft hinunter, die gleich darauf wieder verschlossen wurde.

 

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