Das weiße Tuch

  

Im Herzen unserer Stadt liegt ein großer Park, dessen Wiesen von mächtigen alten Bäumen beschirmt werden, die sich wie ein schützendes Dach auch über die geschlängelten Sandwege wölben. Daneben steht das schloss, von dem der Park seinen Namen hat und das von einem Wassergraben umgeben wird, der vielen Entenfamilien als Wohn- und Zufluchtstätte dient. Im Herbst, wenn der Wind die Blätter zu großen Haufen türmt und die Bäume ihre kahlen Äste in den blassblauen Himmel strecken, kehren die Dohlen zu ihren Stammplätzen zurück, die sie während der kalten Jahreszeit bevölkern. An nebligen Tagen schallt ihr hartes Krächzen von hoch oben herab, und der Besucher glaubt, das Scharren von Hufen auf dem groben Pflaster des Schlosshofs zu hören.

Sarah kannte den Park, den Hof und das schloss genau, denn sie war mit dem Verwalter des großen Gebäudes befreundet, der ihr dann und wann erlaubte, durch die große hölzerne Eingangstür zu treten und sich im Inneren des riesigen Gebäudes umzusehen. Die Gänge und Säle waren leer und einsam, denn das schloss wurde seit Jahren nicht mehr genutzt; die verzierten Möbel hatte man ausgeräumt und weggebracht, aber ein paar große Bilder waren hängen geblieben. Auch konnte niemand die prachtvollen Kamine ausbauen, die vor vielen hundert Jahren von einer kunstsinnigen Bewohnerin errichtet worden waren, und die bis heute etwas von der Pracht vergangener Tage kündeten, als das schloss die Residenz einer bedeutenden Herzogin gewesen war.

 

Sarah liebte es, allein durch die dunklen Gänge zu wandeln und die dämmrigen Säle zu durchstreifen. Besonders zogen sie die großen Bilder an, die hier und da noch an den Wänden hingen. Es gab dort Portraits von Frauen und Männern zu sehen, die in früheren Jahrhunderten einmal wichtige Persönlichkeiten gewesen sein mussten, denn sie blickten bedeutsam von ihren hohen Plätzen auf das kleine Mädchen hinab, das von unten zu ihnen hinaufsah. Sie waren fremdartig angezogen; die Frauen trugen pompöse Kleider mit aufwendig gestickten Kragen und balancierten die abenteuerlichsten Frisuren auf ihren schönen Köpfen, während die Männer zumeist in Uniformen gekleidet waren, die viel mehr Schmuck und Zierrat aufwiesen, als es heute bei solchen Kleidungsstücken üblich ist. Einige waren gar in so bunte Kleider gehüllt, dass sich Sarah fragte, ob es überhaupt Männer waren, oder nicht vielmehr Frauen, deren Abbilder die lange Zeit seit ihrem Tode überdauert hatten. Denn dass die Menschen, die den Malern Modell für ihre Portraits gesessen hatten, längst verstorben waren, das wusste Sarah genau.

In dem großen Rittersaal gab es ein Bild, das eine besondere Anziehungskraft auf das Mädchen ausübte. Es unterschied sich von allen anderen, denn es war kein Mensch darauf dargestellt, sondern eine Landschaft. Wenn Sarah das schloss besuchte, ging sie oft zu diesem Bild und blieb lange Zeit davor stehen. Sarah wusste nicht, warum sie so gerne in das Bild schaute, doch sie kannte alle Einzelheiten so genau, als ob sie den gemalten Weg zwischen den Reihen mächtiger Linden bereits mehrmals gegangen wäre. Am Ende der Allee war eine weiße Kutsche zu sehen, die von vier aufgezäumten Pferden gezogen wurde und auf ein prächtiges schloss zu fuhr. Wenn man genau hinsah, konnte man am offenen Fenster der Kutsche ein schönes Frauenantlitz erkennen, das sich leicht zur Seite neigte und aus dem Fahrzeug hinausblickte. In ihrer zarten Hand hielt sie ein weißes Taschentuch, das genau im Mittelpunkt des Bildes leicht im Wind zu flattern schien.

 

Der Schlossverwalter, ein kleiner gebeugter Mann mit weißen Haaren und einem immer fröhlich blickenden Gesicht, dem ein geplatztes Äderchen neben dem anderen ein lustige Aussehen verliehen, hatte ihr erzählt, dass vor vielen Jahren eine Witwe hierher gezogen war. Sie hatte vorher mit ihrem Mann auf einem anderen schloss gewohnt, aber als ihr Kind bei einem Jagdunfall zu Tode gekommen war, hatte sie den Mann verlassen und hier ihren Wohnsitz genommen.

„Wie ist das Kind denn gestorben?“, wollte Sarah wissen.

„Das arme Mädchen wurde von einem Jagdhund wie ein Stück Wild gehetzt und dann zerrissen“, antwortete der Verwalter.

Sarah schauderte. „Konnte ihr denn keiner helfen?“, fragte sie.

„Man sagt, der eigene Vater habe den Hund auf seine Tochter gehetzt, weil er sie hasste, denn sie war nicht seine leibliche Tochter.“

„Wer war denn ihr Vater?“, fragte Sarah, der das Schicksal des Mädchens nahe ging.

„Ein Fremder soll es gewesen sein, den der jähzornige Mensch vor den Augen seiner Frau eigenhändig erschossen hat. Aber“, fügte der Verwalter mit ernstem Blick hinzu, „das sind Geschichten der Vergangenheit, die soll man ruhen lassen. Wir leben heute unser Leben, und darum wollen wir uns kümmern. In die Angelegenheit von Toten soll man sich nicht einmischen.“

Mehr konnte Sarah von dem sonst so mitteilsamen alten Mann nicht herausbekommen, doch sie beschloss, dieser Geschichte noch auf den Grund zu gehen.

 

Auch heute stand Sarah vor dem Bild und blickte aufmerksam hinein, aber sie stutzte; etwas war nicht so wie immer. Sie blickte genauer auf die Kutsche, da sah sie es. Der schlanke Arm hing nicht wie sonst etwas abwärts aus dem Kutschenfenster, die schöne Frau hielt ihn hoch ausgestreckt und schien ihr mit dem weißen Tuch zu winken. Sarah trat vor Überraschung einen Schritt zurück. Da sie glaubte, sich getäuscht zu haben, ging sie näher an das Bild heran und schaute ganz genau auf die Kutsche. Der Arm hatte sich wieder bewegt und zeigte nun in Fahrtrichtung auf das schloss zu. Sarah verspürte einen inneren Drang, noch näher heranzutreten, noch genauer zu sehen, ob nicht mehr über diese Frau in ihrer weißen Kutsche in Erfahrung zu bringen wäre.

Sie meinte, eine Bewegung zu erkennen, der Arm bewegte sich, das Taschentuch flatterte lustig im Wind, sie hörte die Räder der Kutsche in der Ferne über den Weg rasseln, der Kies knirschte und die Pferde schnaubten. Ein Windstoß trieb Blätter von den Bäumen, die die Allee säumten, Vögel schlugen und von ferne bellten Hunde. Sarah fühlte sich wie magisch angezogen und trat noch eine Schritt nach vorn. Sie spürte den frischen Luftzug, der ein bisschen kühl war. Jetzt hörte sie die Hunde deutlich; sie waren weit entfernt, dann erschall ein Jagdhorn.

Sarah blickte nach oben. Über ihr wölbten sich die ausladenden Äste der mächtigen Bäume und erlaubten dem Mädchen durch die schon teilweise von Blättern entblößten Zweige einen Blick auf den blassblauen Himmel.

Als sie nach unten sah, erkannte sie, dass sie auf einem fein geharkten Kiesweg stand. Sie blickte sich um und erstarrte. Hinter ihr war nicht mehr der dunkle Saal des Schlosses, in dem sie gerade noch gestanden hatte. Sie konnte weit zwischen den Bäumen hindurch bis zum Ende der Allee blicken, die von einem mächtigen Eisentor abgeschlossen wurde. Das Mädchen drehte sich wieder um und konnte gerade noch sehen, wie die Kutsche hinter dem letzten der Alleebäume nach rechts verschwand. Schnell lief sie den Kiesweg entlang, der frische Wind blies ihr ins heiße Gesicht, die Geräusche wurden lauter.

Sarah konnte Stimmen unterscheiden. Als sie das Ende der Baumallee erreicht hatte, öffnete sich der schmale Weg zu einem großen Platz oder Hof, dessen eine Seite durch einen Park begrenzt wurde, durch den die mit Kies bestreute Allee führte. Die andere Seite wurde durch ein mächtiges schloss gebildet, dessen viele Fenster im Licht blitzten, dass es Sarah in den Augen weh tat. Die Kutsche war soeben vorgefahren, Diener in bunten Livreen öffneten die Tür und eine junge Frau stieg heraus, in der Sarah jene Frau zu erkennen glaubte, die ihr so oft auf dem Bild mit ihrem weißen Tuch zugewinkt hatte. Nach ein paar Schritten blieb die Frau stehen und drehte sich um. Sarah war nun bereits nahe an die Kutsche herangekommen. Die Frau blickte sie aus großen blauen Augen an.

„Mein Kind!“, rief sie, „Mein Kind!“, und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Dabei ließ sie das Tuch fallen, das sie noch immer in der Hand trug und lief die Treppe hinauf zu dem großen Eingangstor, in dem sie verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

Sarah ging noch ein paar Schritte weiter; die Bedienten, die sich nun um die Kutsche drängten und allerlei Behältnisse auspackten, kümmerten sich nicht um sie. Das Mädchen hob das weiße Tuch auf und sah es sich genau an. Es war aus feiner Seide gewebt und mit einer hübschen Häkelbordüre eingefasst. Sie konnte zwei verschlungene Buchstaben erkennen, die zu einem Monogramm gestickt waren.

„S N“, las Sarah. „Das sind ja die Anfangsbuchstaben meines Namens“, dachte sie. Doch sie hatte keine Zeit, sich weiter über das Monogramm zu wundern, denn ihre Aufmerksamkeit wurde durch lautes Hundegebell in Anspruch genommen.

Reiter jagten auf dem selben Kiesweg heran, auf dem sie gerade zum schloss gekommen war. Wieder waren Hörnerklänge zu hören, das Gebell der Hunde schwoll an, die Bedienten gerieten in unruhige Bewegung und liefen durcheinander. Die Pferde vor der Kutsche schnaubten und scharrten nervös mit den Hufen im Kies.

Schon sprengte ein prächtige gekleideter Mann heran, das Gesicht durch einen mächtigen schwarzen Bart verdeckt. Mitten im Lauf riss er das Pferd an den Zügeln und gebot so dem schnellen Ritt Halt. Als er sein Pferd zum Stehen gebracht hatte, blieb er wie erstarrt im Sattel sitzen. Sarah erschrak, denn sie spürte seine Blick auf sich ruhen.

„Was um Himmel Willen will der von mir?“, dachte sie. Weitere Reiter waren eingetroffen, hielten sich aber mit ihren Pferden in gebührendem Abstand von dem Mann, der ihr Anführer zu sein schien.

Der Reiter hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, und sein Gesicht blickte voller Wut und Entsetzen auf das kleine Mädchen. Dann brüllte er und seine Stimme überschlug sich dabei: „Tartar, Fass!“

Aus der Meute der Hunde, die kläffend und winselnd in einiger Entfernung mit den Hundeführern standen, löste sich ein Schatten. Sarah vernahm ein heiseres Geräusch, dann lief sie, so schnell ihre kleinen Füße sie zu tragen vermöchten, auf das riesige Gebäude zu. Sie spürte, dass etwas Böses hinter ihr her war. Das Mädchen flog über den kiesbedeckten Hof und sah ein Stück rechts vom Haupttor, durch das die schöne Frau verschwunden war, eine kleine Pforte, auf die sie zulief. Beim Näher kommen erkannte sie, dass die Tür einen Spalt offen stand. Das Mädchen blickte sich nicht um, sondern lief um ihr Leben. Sie konnte das Schnauben des großen Hundes hören, der in weiten Sätzen hinter ihr her hetzte. Schon hatte sie die Tür erreicht, schlüpfte schnell durch den schmalen Spalt und drückte sie von innen zu. Der schwere Körper des Hundes krachte von außen gegen das Hindernis, dann war ein furchtbares, lang gezogenes Jaulen zu hören. Sarah drehte rasch den Schlüssel um, der von innen im schloss steckte und holte tief Luft.

 

Wo war sie? Jetzt erst spürte das Mädchen, wie ihr das Herz vor lauter Aufregung wild pochte. Vor Angst war sie ganz nass geschwitzt und fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Aber sie hatte sich schnell wieder in ihrer Gewalt. Sie sagte zu sich selbst:

„Sarah, jetzt darfst du nicht in Panik geraten! Überlege ganz genau, was passiert ist!“ Dass sie auf irgend eine unerklärliche Weise in das Bild geraten war, das wusste sie, auch dass sie den Weg entlang gegangen war und dass ihr die schöne Frau zugewinkt hatte. Aber sie konnte sich nicht erklären, warum der fremde Mann seinen Hund auf sie gehetzt hatte.

Was hatte sie ihm getan? Warum war die schöne Frau weggelaufen? Jetzt erinnerte sich Sarah ihrer Worte.

„Mein Kind!“, hatte sie gerufen und „Mein Kind!“, Sie war aber doch gar nicht ihr Kind. Etwas stimmte an dieser Geschichte nicht, das wusste Sarah nun. Aber was?

 

Sie blickte sich in dem dunklen Raum um; es war ein großer Saal und ähnelte demjenigen, in dem sie vorhin das seltsame Bild betrachtet hatte. Aber es war ein anderer Raum. Möbel standen umher, Sessel, Stühle, ein Schreibsekretär; Bilder hingen an den Wänden, die sich Sarah zunächst genauer anschaute. Als erstes erkannte sie die schöne Frau aus der Kutsche. Sie blickte starr von ihrem hohen Platz herab, und ihr schönes Antlitz wurde von einem leichten Anflug von Trauer überschattet.

Daneben hing das Bild eines Reiters. Es zeigte einen stolzen bärtigen Mann, der hoch zu Ross saß und herrisch auf den Betrachter hinabstarrte. Das konnte der Mann sein, der eben den Hund auf sie gehetzt hatte. Beide Bilder waren gleich groß und hingen in gleichen Rahmen, so dass Sarah vermutete, dass es Mann und Frau sein könnten. Sie waren angezogen wie die Menschen auf den Portraits, die Sarah schon oft auf den Bildern des Schlosses in ihrer Heimatstadt gesehen hatte.

In der Mitte zwischen den beiden großen hing ein kleineres Bild. Sarah trat davor und erschrak; Zuerst glaubte sie, in einen Spiegel zu sehen, denn das Mädchen, das sie da erblickte, war sie selber. Sarah wurde von einem heftigen Schwindel ergriffen. Dann schaute sie erneut auf das Bild. Nein, das war nicht sie selber, das war ein Kind, so alt wie sie, das ihr nur zum Verwechseln ähnlich sah. Nur dass es andere Kleider trug, reichere als die heute modernen.

„Diese Menschen müssen vor vielen hundert Jahren gelebt haben“, dachte Sarah.

Aber der Mann und die Frau, die hatte sie ja eben draußen gesehen, und sie schienen ganz lebendig zu sein. Oder waren es Gespenster, die verborgen in dem großen Bild, in das sie hineingestolpert war, ihr Unwesen trieben?

Gespenster? Nein, dafür war der Hund, der eben noch hinter ihr her gejagt war, viel zu lebendig gewesen. Das alles hier, der Park, dieses schloss waren echt, draußen hörte das Mädchen Geräusche, die zwar nur schwach durch die geschlossenen Fenster drangen, die aber klar und deutlich von dem wirklichen Geschehen kündeten, das sich außerhalb des Saales abspielte, in dem sie jetzt allein stand.

Sarah sah sich das kleine Bild noch einmal genau an. Das Mädchen, das darauf abgebildet war, sah ihr in der Tat zum Verwechseln ähnlich. Aber wenn man sich selber ganz genau kennt, dann merkt man sofort, wenn das andere Gesicht nicht haargenau mit dem eigenen übereinstimmt. So war es auch hier: Sarah hatte gleich gesehen, dass dieses fremde Kind eine etwas anders geformte Nase hatte als sie selbst, und die Augen waren braun und nicht blau wie ihre eigenen. Jetzt erkannte sie auch, dass das dargestellte Mädchen seltsam blass aussah und in ein weißes, schlichtes Hemd gekleidet war.

„Ein Totenbild!“, dachte Sarah, denn sie hatte die Lilien erblickt, die das fremde Mädchen im Arm trug. Sie wusste, dass man früher Kinder, die gestorben waren, mit weißen Lilien malte, um sich auch später noch an die Verstorbenen zu erinnern. Dann entdeckte sie noch etwas. Im Hintergrund hatte der Maler einen Wald abgebildet, aus dem heraus ein wilder Hund hervorbrach. Sarah lief es kalt den Rücken hinunter. Das war ja jener Hund, den der Reiter gerade eben auf sie gehetzt hatte! Blitzschnell fielen ihr die Worte des Schlossverwalters wieder ein, der die Geschichte vom Tod des armen Mädchens erzählt hatte.

 

Das Bellen des Hundes weckte Sarah aus ihren Betrachtungen. Ängstlich blickte sie auf. Die Laute kamen von einem der Fenster, die durch hölzerne Läden verschlossen waren. Jemand rüttelte an der Tür.

Eine raue Stimme rief: „Aufmachen! Sofort aufmachen!“ und wieder rüttelte es. Dann bellte der Hund noch einmal und stieß ungestüm an den Schlagladen vor dem Fenster.

Sarah blickte sich in dem dämmrigen Saal um. Auf der anderen Seite gab es eine zweite Tür. Wohin sie führte, wusste Sarah nicht, aber sie ging darauf zu. Dann stand sie still, denn neben der Tür hing ein Bild, dessen Anblick sie wie magisch anzog. Das war ja das schloss, das schloss in ihrer Heimatstadt, in dem sie noch vor nicht langer Zeit jenes seltsame Bild betrachtet hatte, in das sie auf unerklärlichen Gründen hineingehen konnte. Sarah sah genau den gepflasterten Schlosshof, den Turm, die roten Ziegelwände, aber alles kam ihr so fremdartig, so reich geschmückt vor.

„Ob das eine Ansicht von unserem schloss ist, wie es früher ausgesehen hat?“, fragte sie sich.

Der Hund bellte wieder, und jemand schlug gegen die Tür. Sarah wurde an das vergangene Erlebnis erinnert.

Warum hatte die Frau „Mein Kind!“ gerufen, und warum hatte der Mann den Hund auf sie gehetzt? Sarah fand keine andere Erklärung, als dass der Mann und die Frau sie für den Geist ihres verstorbenen Kindes gehalten haben mussten.

Was hatte der Schlossverwalter ihr weiter gesagt? In die Angelegenheiten von Toten soll man sich nicht einmischen! Sie hatte sich aber eingemischt, indem sie in das Bild hineingegangen war. Jetzt wollte Sarah so schnell wie möglich wieder nach Hause; dieses Abenteuer behagte ihr gar nicht; so hatte sie es sich nicht vorgestellt, als sie sich vornahm, der Sache mit dem toten Mädchen auf den Grund zu gehen!

Plötzlich flutete Licht in den Saal. Jemand hatte den Schlagladen aufgerissen. Glas klirrte. Erschrocken fuhr Sarah herum. Der große Hund hockte mit geifernden Lefzen auf der Fensterbank. Wilde, rot unterlaufene Augen starrten sie an. Dann setzt er zum Sprung an. Sarah schrie laut auf und taumelte zurück. Hinter ihr war die Tür, daneben das Bild mit der Ansicht des Schlosses. Sie konnte sich nicht abwenden; wie gebannt starrte sie auf den großen Hund, der in den Saal herab gesprungen war und nun mit wilden Sätzen auf sie zu hetzte. Sie wich weiter zurück und wollte sich an dem Bild hinter sich abstützen, doch sie griff ins Leere. Jetzt spürte sie den heißen Atem des Hundes und erwartete, dass er zubiss. Sie stürzte nach hinten und fiel zu Boden.

 

Auf einmal war es ganz still. Sarah hielt ihre Augen geschlossen. Sie lag am Boden und spürte unter sich harte Steine. Ihre Hände griffen in welke Blätter, die in Haufen um sie herum lagen und ihren Sturz auf das Pflaster gemildert hatten. Wo war der wilde Hund? Es war nichts zu hören; sie öffnete die Augen und erkannte, dass sie auf dem Schlosshof lag. Wie war die hierher gekommen? Es war das schloss in ihrer Heimatstadt, das war ihr sofort klar. Sarah stand auf, klopfte sich die Blätter von ihren Kleidern und ging auf das Eingangstor zu; es war nicht verschlossen, und sie konnte eintreten. Mit raschen Schritten lief das Mädchen in den großen Rittersaal.

Alles war unverändert so, wie sie es vorher gesehen hatte. Auch das Bild mit der Baumallee und dem Kiesweg hing noch da. Am Ende der Allee war wie immer die weiße Kutsche zu sehen, die auf ein prächtiges schloss zu fuhr.

Die schöne Frau hatte den Arm aus dem Kutschenfenster gestreckt und schien zu winken. Aber sie hielt kein Tuch mehr in ihrer schlanken Hand. Sarah hob ihre Rechte und blickte auf das seidene Tuch, das sie vorhin vor dem fremden schloss aufgehoben hatte. Die feine Stickerei zeigte das Monogramm „S N“.

 

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