Eingeschlossen!

 

Constanze schreckte auf. Wo war sie? Sie blickte sich um, konnte aber nichts erkennen. Alles um sie war dunkel. Sie setzte ihr rechtes Bein nach vorn und stieß gegen etwas Hartes; vorsichtig tastete sie mit den Händen, spürte erst ein Metallrohr und dann eine glatte Fläche, die sich wärmer anfühlte. „Vielleicht ein Stuhl?“, dachte sie. Vorsichtig ging sie um den vermeintlichen Stuhl herum und versuchte sich zu orientieren. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie konnte nun einen schwachen Lichtschein erkennen. Vor ihr ahnte sie Stufen, die aber nicht weit hinab führten. Der Lichtschein wurde heller; sie sah, dass er von oben kam. Und jetzt konnte sie tatsächlich über sich ein, zwei hellere Flecken erahnen, die in einer dunklen Masse zu schweben schienen.

Da durchzuckte sie jähe Erinnerung: „Das ist doch die Schule. Die dunkle Decke, oben Lichtkuppeln. - Ich stehe im PZ!“, Ein heftiger Schreck durchfuhr sie; sie taumelte und musste sich an etwas festhalten; schließlich fanden ihre hilflosen Hände eine Stuhllehne, sie ließ ihren Körper auf die Sitzfläche fallen und atmete tief durch. In wirren Spiralen tanzten Bilder vor ihren Augen, sie glaubte ein anschwellendes Rauschen zu hören und spürte einen Schauer über ihren Körper laufen. Aber langsam kam zu wieder zu Bewusstsein, und sie konnte wieder klar denken.

Nun hatten sich ihre Augen an das Dunkel angepasst, und sie konnte sich endlich im Raum orientieren. Ja, das war ihre Schule, und sie saß auf einem Stuhl inmitten der weiten Fläche des Pädagogischen Zentrums, wie man den geschlossenen Innenhof des Gebäudes nannte. Aber wie war sie hierher gekommen? Constanze begann gerade, sich zu erinnern, da durchfuhr sie ein erneuter Schreck: „Ich bin eingeschlossen!“, Schnell sprang sie auf und lief auf die breiten Eingangstüren zu. Die erste Pendeltür konnte sie öffnen, aber die Außentür war verschlossen.

„Mist!“, Das hatte sie befürchtet. „Irgendwie muss ich eingeschlafen sein“, dachte sie. „Und jetzt ist es schon mitten in der Nacht!“

Draußen war es fast ganz dunkel, nur ein bleicher Schein drang durch die verschlossenen Türen mit ihrem dicken Sicherheitsglas. Im Inneren des Gebäudes war es ganz still. Constanze ging zurück und überlegte. Ob in der Hausmeisterloge vielleicht ein Schlüssel hing? Sie trat an die große Scheibe und blickte in den Raum. Einige Kontrolllampen erzeugten einen schwachen Lichtschein, mehr konnte sie nicht erkennen. Aber dann sah sie noch, dass die hintere Eingangstür offen stand. Schnell lief sie durch die Korridore und gelange tatsächlich ungehindert in den sonst immer verschlossenen Raum. Zuerst fiel ihr Blick auf die Uhr, die inmitten von farbigen Lämpchen leise tickte. Es war zehn Minuten nach 12.

„Geisterstunde!“, dachte Constanze, diesmal aber blieb sie ruhig, denn sie suchte nach einem Schlüssel. Im fahlen Dämmerschein, der durch die große Scheibe fiel, fand sie auf der Fensterbank allerlei von Schülern vergessene oder verlorene Sachen, aber ein Schlüssel war nicht darunter. Sie konnte im ganzen Raum auch kein Bord mit Schlüsseln finden, nur ein flacher Schrank erregte ihre Aufmerksamkeit. Er sah aus wie ein überdimensionaler Karteischrank. In halber Höhe war ein Griff angebracht und darüber leuchte das milde Licht einer grünen Kontrolllampe.

„Vielleicht ein Tiefkühlschrank?“, dachte Constanze. Unter der Lampe fand sie ein Schild, auf dem ein Name eingraviert war. Sie musste sich anstrengen, die Buchstaben zu entziffern. „Martensen“, las sie. „Na klar,“ dachte sie, „hier bewahrt unser Hausmeister seinen Krempel auf, den er in de Pausen an die Schüler verkauft.“

Constanze berührte den Griff mit ihrer rechten Hand und sofort begann die grüne Lampe zu blinken. Sie trat erschrocken ein paar Schritte zurück. Aus dem Schrank drang ein leises Summen. Die Tür bewegte sich nach vorn, ein blasses Licht brach hervor. Langsam schob sich etwas in den Raum hinein.

Constanze war noch weiter zurückgetreten. Sie sah zu ihrem Entsetzen, dass eine lange Bahre aus dem Schrank gefahren wurde, ganz gleichmäßig und mit einem Geräusch, wie sie es vom Deck ihres CD-Players kannte. Auf der weißen, bettartigen Unterlage konnte sie eine Gestalt erkennen, die mit den Füßen nach vorn aufgebahrt war wie ein Toter im Leichenschauhaus. Die Gestalt war bekleidet, lag auf dem Rücken und trug eine Maske auf dem Gesicht, die Constanze an ein Atemgerät erinnerte, wie sie von Piloten in Düsenflugzeugen getragen werden. Der Kopf war außerdem an zwei Stellen mit Drähten verbunden, die nach oben in den Schrank führten.

Constanze hatte alle Angst verloren und trat neugierig näher. Es war tatsächlich Herr Martensen, der Hausmeister, der hier regungslos in einer Maschine lag, die wie eine künstliche Lunge wirkte. Constanze konnte keine Bewegung des starren Körpers erkennen und wagte nicht, die Gestalt anzufassen. Sie musste noch einmal an den Griff der Tür geraten sein, denn mit einem Mal fuhr die Bahre mitsamt dem Körper wieder in den Schrank hinein, bis die Tür sich mit einem sanften Geräusch schloss. Der Schließvorgang war erneut von jenem leisen Brummen begleitet, das auf die präzise Arbeit eines Elektromotors schließen ließ. Statt der grünen Kontrolllampe leuchtete jetzt eine rote, die aber nach wenigen Augenblicken erlosch. Dann war nichts mehr zu hören, und die grüne Lampe leuchtete wie zuvor.

Constanze stand wie starr. An den Schlüssel dachte sie jetzt überhaupt nicht mehr. Was hatte sie da gerade gesehen? Sie musste beinahe lachen, als sie sich vorstellte, wie jeden Morgen um sechs oder halb sieben Uhr der eigenartige Schrank - vielleicht von der Pausenuhr gesteuert - auffuhr und Herr Martens - angezogen wie immer - heraus stieg, um seinen Dienst zu beginnen.

„Und abends schließ er die Schule wieder ab und legt sich in den Schrank“, dachte Constanze. „Vielleicht ist er ja auch eine Maschine, die uns nur wie ein Mensch erscheint.“ Dieser Gedanke kam ihr so lustig vor, dass sie sich jetzt ganz erheitert fühlte.

„Aber dann müssten ja auch Frau Meier und die Lehrer Maschinen sein und hier irgendwo in Schränken die Nacht zubringen, bis sie kurz vor Schulbeginn wieder aufgeweckt und aktiviert werden!“

Und ohne sich weiter zu bedenken, lief sie die Treppe zur ersten Etage hinauf, um nachzuschauen, ob ihre Roboter-Theorie richtig war. Der Korridor des Verwaltungstrakts lag in noch schummriger Dunkelheit als der Eingangsbereich der Schule. Trotzdem konnte Constanze sehen, dass alle Türen geöffnet waren. Aus dem Sekretariat drang ein schwacher Lichtschein, sie betrat vorsichtig den Raum und erkannte sofort, dass sie sich nicht geirrt hatte. Hinter dem breiten Schreibtisch, vor dem sie so oft mit einer Bitte gestanden hatte, sah sie sofort einen Schrank, dessen Tür mit dem Griff und den Kontrolllampen jenem in der Hausmeisterloge aufs Haar glich.

Darin muss Frau Meier liegen“, dachte sie; „die ist also auch bloß ein Automat.“ Sie berührte vorsichtig den Griff, und alles geschah wie eben eine Etage tiefer. Die Schulsekretärin kam in derselben Stellung herausgefahren wie zuvor der Hausmeister. Auch sie trug eine Atemmaske, aber Constanze sah sofort, dass von ihrer Brust ausgehend ein ganzes Kabelbündel nach oben in den Schrank führte.

„Vielleicht ist sie an den zentralen Schulkomputer angeschlossen“, dachte sie. Dort, wo die Kable die Gestalt berührten, war ebenfalls ein schwacher Lichtschein zu erkennen. Constanze trat ganz nahe heran und sah, dass wenige Zentimeter unter dem Kinn der Frau ein Schalpult installiert war, in das die Kabel führten und auf dem eine Fülle von Lichtern blinkten. Ganz leise waren auch Geräusche zu vernehmen, die dem ähnelten, was Constanze zu Hause hörte, wenn sie an ihrem Computer arbeitete.

„Sie auch!“, dachte das Mädchen und ließ den Mechanismus wieder arbeiten, damit die Automaten-Sekretärin in ihrem Schrank verschwinden konnte.

„Jetzt bin ich aber gespannt, was ich im Lehrerzimmer alles entdecke!“, rief sie sich fröhlich zu und eilte durch den Korridor an anderen Verwaltungsräumen vorbei. Ein kurzer Blick belehrte sie, dass in jedem ein oder zwei grüne Lampen leuchtete. Also war sie gar nicht mehr besonders überrascht, als sie das Lehrerzimmer betrat. Rings an den Wänden sah sie eine grüne Lampe neben der anderen.

„Also alles Roboter!“, sagte Constanze leise. Aber dieser Gedanke schien  sie nicht besonders zu beunruhigen. Im Gegenteil. Sie erheiterte die Vorstellung, dass alle ihre Lehrer gar kein richtiges Leben führten, sondern nur morgens während es Unterrichts und manchmal auch nachmittags in der Schule aufkreuzten und dann, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, in ihren Schränken verschwanden, wo sie kühl bis zum nächsten Einsatz lagerten und vielleicht sogar von einem großen Zentralcomputer für den Tag programmiert wurden.

Sie ging langsam an den Schrankreihen vorüber, las hier und dort einen Namen und zählte die Lämpchen.

Mindestens sechzig“, murmelte sie, als sie an den Schränken entlang ging. Doch dann stutzte sie. Vor ihr stand auf einem Schild „Nischalke“. Das war der Name ihrer Deutschlehrerin; insoweit hätte sie erwarten können, ihn hier zu finden. Aber das war doch gleichzeitig auch der Name ihrer besten Freundin Sara! Saras Mutter unterrichtete nämlich an ihrer Schule, aber die kannte sie doch auch im Privatleben. Da war sie ganz lebendig und bei weitem keine Maschine!

Constanze wollte es genau wissen, und zerrte an dem Griff. Die grüne Lampe erlosch und eine rote begann zu blinken. Der Schrank fuhr in gleichmäßiger Bewegung auf. Tatsächlich! Da lag die reglose Gestalt ihrer Lehrerin. Trotz der Maske auf dem Gesicht konnte Constanze keine Atembewegung erkennen. Die Mutter ihrer besten Freundin hatte die Augen geöffnet, aber sie waren starr und wirkten leblos wie die der Puppen, die sie bei ihrem letzten Parisaufenthalt im Musée Grévin, dem Wachsfigurenkabinett am Montmartre, gesehen hatte. Soweit Constanze das Gesicht unter der Atemmaske erkennen konnte, machte es keinen entspannten Eindruck, wie man ihn bei schlafenden Menschen sonst findet, im Gegenteil. Der Körper, der hier lag, wirkte eigentümlich angespannt, mehr noch, die Züge des Mundes verrieten Angst, Wut oder ähnliche negative Gefühle. Auch hingen aus dem Schrank ganze Bündel von Drähten, und das Schaltpult, das am Oberkörper befestigt war, schien Constanze weitaus größer zu sein als jenes, das sie bei der Schulsekretärin gesehen hatte.

„Dann besteht Herr Ellenberg bestimmt bloß noch aus blinkenden Schalttafeln“, witzelte sie, aber so richtig lustig war ihr bei dieser Vorstellung von ihrem Philosophielehrer nicht zumute. Sie sorgte dafür, dass der unsichtbare Mechanismus den Schrank mit ihrer Deutschlehrerin wieder schloss. Ihr letztes Erlebnis hatte sie davon abgebracht, sich den Inhalt noch weiterer Schränke anzusehen. Irgend etwas stimmte hier nicht! Constanze spürte plötzlich wieder das Grausen, das sie vor einiger Zeit schon einmal angefallen hatte. Sie erinnerte sich an die verschlossene Schultür, an ihre Suche nach dem Schlüssel und an die Uhr! Sie blickte auf die Uhr über der Tür und sah, dass es viertel vor eins war. Immer noch Geisterstunde! „Nur schnell hier raus!“, sagte sie laut, stürzte rannte so schnell sie konnte hinaus auf den Korridor und flog die Treppen hinunter, immer darauf vorbereitet, dass die Lehrer-Maschinen aus ihren Grüften steigen würden und mit bleichen Gesichtern und toten Augen hinter ihr her rannten.

Atemlos stand sie wieder im PZ und hielt inne. Sie erinnerte sich daran, den Schlüssel nicht gefunden zu haben. Also konnte sie die Schule ja gar nicht verlassen. Wie in Panik suchte sie nach einem Ausweg. Da fiel ihr ein, dass es auch nach hinten einen Ausgang gab. Vielleicht war der nicht verschlossen und sie konnte dort hinaus entkommen. Constanze musste sich zunächst wieder orientieren; dort, zwischen den vielen Reihen der Schränke hindurch, in denen sie und ihre Mitschüler Schulbücher und andere persönliche Sachen einschließen konnten, führte sie ihr Weg.

Und noch einmal stutzte das Mädchen und war überrascht. Auch hier leuchteten grüne Lampen, aber viel mehr als sie bisher überhaupt gesehen hatte! Das mussten hunderte sein! Und die dunklen Reihen der Schränke setzten sich in die Tiefe des Raumes fort, wo sie ins Unendliche zu verschwinden schienen. Constanze wurde schlecht, und sie musste sich an einem der Schränke abstürzen, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren. Ein heißer Schreck durchfuhr sie, als sie das Schild auf der Tür las: „Sara Nischalke“. Sie wollte gerade den Griff anfassen und den Schrank aufreißen, da überkam sie ganz plötzlich eine so große Müdigkeit, dass sie von ihrem Vorhaben abließ. Sie richtete sich auf, alle Bilder der letzten halben Stunde flogen noch einmal vor ihrem inneren Auge vorüber, ihre Anspannung löste sich, die Angst verschwand und ein sanftes Lächeln überzog ihre stillen Gesichtszüge.

Sie atmete langsam und tief, sagte: „Na ja!“, und ging gemessenen Schritts in die Tiefe des Korridors hinein, der von den vielen grünen Lampen nur schwach erhellt wurde. Fast wirkte es, als ob sie schlafwandele, denn sie schwebte beinahe über dem Boden. Dann näherte sie sich einem der Schränke, der offen stand und aus dem ein schwaches Glimmen kam. Sie legte sich vorsichtig auf die Bahre, stülpte sich die Atemmaske über das Gesicht und blieb still auf dem Rücken liegen.

Langsam schloss sich der Schrank, und die ganze Schule lag wieder in tödlicher Ruhe. Von der Stadt her tönte ein mächtiger Glockenschlag der Turmuhr.

 

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