Wenn Thorge pünktlich zum Unterricht erscheinen will ...

 

Wenn Thorge pünktlich zum Unterricht erscheinen will – denn darauf legt sein Deutschlehrer großen Wert und außerdem ist Thorge ein verantwortungsbewusster und strebsamer Schüler –, dann muss er früh aufstehen. Der Weg von seinem Zuhause im gerade eingemeindeten Schobüll zur Husumer Hermann-Tast-Schule dauert 20, bei Gegenwind sogar 30 Minuten, und gegen Wind müssen Radfahrer in Nordfriesland eigentlich immer ankämpfen. Also steht Thorge um halb sieben auf, schwingt sich um viertel nach sieben auf seinen Drahtesel, um spätestens viertel vor acht in der Schule anzukommen. Noch fünf Minuten, um das Rad abzuschließen, die Tasche zu greifen, Johanna zu suchen und in den Unterrichtsraum zu hasten.

Mit Klassenkameraden schnell noch ein paar Worte wechseln geht heute nicht, denn das Gedröhne schwerer Baumaschinen dringt bis in den letzten Winkel der Schule und würgt – wie nun schon seit drei Monaten – jeden Kommunikationsversuch im Keim ab. Überall im Gebäude verspürt man ein tiefes Grollen. Als die beiden das Pädagogische Zentrum durchstreifen, stimmt eine Kreissäge kreischend in den Grundlärm ein, dann dröhnen zwei Bohrmaschinen und ein Winkelschleifer singt dazu im Falsett. Irgendwer brüllt etwas Unverständliches und dann trommelt ein anderer Zustimmung; der Lärm steigert sich zu infernalischem Gekreische, Thorge ist, als hallten entsetzliche Schreie von Wand zu Wand.

Das betagte Schulgebäude wird nämlich seit schon zwei Jahren grundsaniert und das mitten im vollen Betrieb. Da nageln Dieselmotoren von Fahrmischbetonpumpen, donnern Bagger, poltern Schrapper, rattern Grabenfräsen, rütteln Bodenstabilisierer und rumpeln Radlader; Muldenkipper rumoren, Lastenaufzüge klappern, Bleche scheppern, Ketten rasseln, Schrauben kollern und Räder rollen. Überall hämmert und kracht es, mal dumpf, mal heller, immer mit der Präzision eines Schlagzeugs.

Mit Mirko und Johanna rennt Thorge die Treppe hinauf, doch als die drei rechts auf der Galerie in den zweiten Flur einbiegen wollen, hält sie ein Baugerüst auf. Vier Stahlpfähle auf Rädern, die mit Querstangen zu einem Quadrat verbunden sind, tragen in zwei Metern Höhe Bretter, auf denen ein blau gekleideter Handwerker hockt und  mit einer Maschine Profilbleche an die Betondecke schießt. Da ist beim besten Willen kein Durchkommen.

Die drei drehen um und eilen nach links. Achtung, eine geschlossene Tür! 29 Sextaner belagern die Öffnung: Nix wie durch, denn das Sicherheitsglas ist noch nicht eingesetzt. Die drei warten, bis sich die ganze Horde durchgedrängelt hat. Dann rechts um die Ecke und durch eine weitere Tür. Diesmal mit Scheibe, auf der ein Schild warnt: "Stop - wegen Bautätigkeit geschlossen!" Hinter der Tür jault schrill eine Flexscheibe und Schweißgeräte senden ihre sengenden Strahlen wie eine Warnung durch das milchige Glas. Alle drei prallen zurück. Während Johanna sich noch wundert, dass das Schild so lässig seine Funktion erfüllt, obwohl das "Stopp" falsch geschrieben ist, drehen die Jungen nach rechts. Noch ein Gerüst mit einem Arbeiter darauf, der Bolzen in eine Betonwand knallt, diesmal ist das Hindernis allerdings schmaler, so dass sie sich vorbeidrängeln können. Aber Vorsicht: Aluprofile lauern mit scharfen Kanten in Augenhöhe!

Links ragen Stromleitungen aus der Wand, an der Spitze blanke Leiter. Johanna möchte beim Vorbeistreifen darauf vertrauen, dass die Elektriker den Strom abgeschaltet haben. Morgen bringe ich einen Prüfstecker mit, denkt sie. Jetzt geht der Slalom in die Zielgerade. Mirko stolpert über ein Bündel Stromkabel, Thorge weicht einem Bretterhaufen mit spitz nach oben herausstehenden Schrauben aus und stößt dabei einen Feuerlöscher um, der die linke Flügeltür aufgehalten hat. Der Feuerlöscher rollt auf die Treppe zu, scheppert ein paar Stufen hinunter, schlägt dumpf auf den Treppenabsatz, platzt aber nicht, sondern bleibt einfach liegen. Thorge holt ihn zurück und stellt ihn wieder auf seinen Platz. Dann haben sie die letzte Tür geschafft.

Zehn Minuten nach Stundenbeginn betreten die drei den Klassenraum. Ihr Lehrer ist noch gar nicht da. Thorge knallt seine Tasche auf den Tisch und lässt sich erschöpft auf den Stuhl fallen.

Als der Deutschlehrer kurz nach acht endlich erscheint, schimpft er: "Verdammte Baustelle! Alles zugestellt. Nicht mal pünktlich ...." Weiter kommt er nicht, denn das ohne Vorwarnung einsetzende Wummern der Bohrhämmer dröhnt in Wellen von unten herauf und füllt den Klassenraum mit einem zähen akustischen Brei, als würde Tonnen von Bauschaum durch die offenen Mauerschlitze hineingepresst. Thorge verzieht schmerzhaft sein Gesicht. Er sieht noch, wie sich Johanna verzweifelt beide Ohren zuhält, dann lehnt er sich zurück und lässt einen Tagtraum vor seinem inneren Auge vorüberziehen.

Am provisorischen Eingang zur Schule stauen sich Menschenmassen. Die beiden Hausmeister verteilen gemäß der Europa-Norm 397 hektisch Bauhelme an die Schüler. Fast tausend haben sich vor der Engstelle zusammengedrängt; viele stehen in den Schlammsuhlen, die sich unter und neben den verrosteten Fahrradständern gebildet haben. Vorne geht es nur langsam voran, weil Oberstufenschüler blaue Helme tragen müssen, während den jüngeren grüne aufgesetzt werden. Mädchen und Jungen übrigens immer die gleichen. Dr. Koch überprüft als Sicherheitsbeauftragter bei jedem Kopf den richtigen Sitz des individuell verstellbaren Helmeinsatzes. Kleine Sextaner schubsen einander, große Primaner knutschen beim Warten ungeniert ihre Mädchen.

Selbst Lehrer mit Fahrradhelmen werden nur durchgelassen, wenn sie sie sich von Frau Oelke rote Bauhelme überstülpen lassen. Der Schulleiter hat nämlich gemäß der "Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz auf Baustellen" vom 10. Juni 1998 Helmpflicht für alle verordnet und trägt demonstrativ seinen goldenen Helm. Thorge muss enttäuscht feststellen, dass die in der Schule zum Einsatz kommenden Bauhelme leider nicht mit Gehörschutzmuscheln versehen sind.

Plötzlich brechen die Bilder weg. Kein Lärm mehr. Die abrupt einsetzende Stille schmerzt fast noch mehr als der Ohren betörende Lärm von vorher. Der Unterricht könnte jetzt beginnen. Doch der erst vor wenigen Tagen neu installierte polyphone Gong verkündet mit melodischem Vierklang das Ende der ersten Stunde.

 

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