Gedichte, in denen wir uns wiederfinden können – Ein Wort zuvor

 

Wer sich mit den sieben Jahren von Theodor Storms Leben beschäftigt, die ihn gefühlsmäßig an Bertha von Buchan banden, der kann die Entwicklung des Poeten nachvollziehen, die am Ende dieses Lebensabschnitts einen ersten Höhepunkt erreicht. In den Jahren ab 1844 kann Storm Gedichte schreiben, von denen Thomas Mann später rühmte1: In dieser zehnmal gesichteten und geseihten Lyrik steht Perle fast neben Perle, und es ist darin, auf Schritt und Tritt, eine bebende Konzentrationskraft der Lebens- und Empfindungsaussage, eine Kunst der Formung zum Einfachen, die in bestimmten Fällen unfehlbar immer wieder, so alt man wird und sooft man etwas wieder liest oder sich vorspricht, dies Sich-Zusammenziehen der Kehle, dies Angepacktwerden von unerbittlich süß und wehem Lebensgefühl bewirkt, um dessentwillen man mit sechzehn, siebzehn diesem Tonfall so anhing.

„Sieben Jahre Liebesweh“ umfasst den Zeitraum der Reife und Entwicklung der Persönlichkeit Theodor Storms und vor allem der des bedeutenden Lyrikers, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hat und der sich durch die Unmittelbarkeit seines lyrischen Sprechens von der Schar der Anempfinder und Nachahmer2 unterscheidet, die den literarischen Markt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überschwemmten. Es lohnt sich, diesen Reifeprozess von Anfang an genau zu verfolgen und seine Voraussetzungen und die ihn begleitenden Umstände in den Blick zu nehmen. Erst dann wird in ganzem Umfang erkennbar, welche Bedeutung dabei Storms Liebe zu einem Kinde zukam und wie sich durch diese Beziehung aus dem epigonalen Nachahmer traditioneller lyrischer Formen allmählich ein Dichter entwickelte, der sich am Konzept des „Erlebnisgedichts“ orientierte und versuchte, mit künstlerischen Mitteln im Leser den Eindruck zu vermitteln, als habe er selbst an diesem Erlebnis ebenso unmittelbaren Anteil.3

Die Aktualität seiner Gedichte hält bis heute an, wie Marcel Reich-Ranicki in einem Interview betonte4: Wir brauchen sie, damit sie uns unsere Empfindungen und Leiden, unsere Hoffnungen und Ängste bewusst und erkennbar machen. Wir brauchen Gedichte, in denen wir uns wiederfinden können, die sich, um ein großes Wort zu riskieren, als Spiegel unserer Seele verwenden lassen.

Als Hans Theodor Woldsen Storm am 14. September 1817 als Sohn des Rechtsanwalts Johann Casimir Storm (1790-1874) und Lucie, geb. Woldsen (1797-1879) in Husum geboren wurde, gehörte das Herzogtum Schleswig zum Dänischen Gesamtstaat; die kleine Hafenstadt an der Nordsee lag in provinzieller Abgeschiedenheit am Rande des deutschen Kulturraums. Die Herzogtümer Schleswig und Holstein waren seit 1773 Teil der dänischen Monarchie; das Herzogtum Schleswig war in Personalunion mit der Dänischen Krone verbunden.

Theodor Storms Geburtshaus, Husum, Markt 9; Postkarte um 1900 

Von der mütterlichen Seite erhielt Theodor den Namen der Familie Woldsen, der in männlicher Linie ausgestorben war; der erste Vorname Hans wurde in der Familie Storm allen Erstgeborenen gegeben. Theodor folgten zwei Schwestern und drei Brüder nach. Die Woldsens hatten in mehreren Familienlinien über Jahrhunderte als wohlhabende Kaufleute gewirkt und als Senatoren ihrer Stadt gedient. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang Husums um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war auch die Bedeutung dieser Familien geschwunden.

Storms Vater Johann Casimir stammt aus einer Müller-Familie im holsteinischen Westermühlen bei Rendsburg und heiratete als junger Jurist in die Familie Woldsen ein. Er war wegen seiner Tüchtigkeit, Rechtschaffenheit und Bescheidenheit ein geachteter Advokat und Notar in Husum und in Nordfriesland. Als gewähltes Mitglied der Ständeversammlung für das Herzogtum Schleswig übte er dort seit 1836 das Amt des Sekretärs aus.

Zu Beginn der politischen Auseinandersetzungen zwischen deutsch gesinnten Schleswig-Holsteinern und national eingestellten Dänen um die Zukunft der Herzogtümer gab es in Husum eine Bildungsschicht, die aus Beamten, Geistlichen, Lehrern, Advokaten sowie Ärzten und Apothekern bestand und die gemeinsam mit der an politischem und gesellschaftlichem Fortschritt interessierten Kaufmannschaft eine führende Rolle während der Erhebung von 1848–1851 spielte. In den Zeitraum vor diesen politischen Umwälzungen fallen Storms Schulzeit und sein Studium, an das sich eine Phase der beruflichen und familiären Orientierung anschloss.

Julius Grelstorff: Husumer Gelehrtenschule, Gouasch um 1885

Die Husumer Gelehrtenschule konnte 1827 bereits auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken; sie war als Reformationsgründung eine der vier humanistischen Bildungsanstalten im Herzogtum Schleswig. Auch im 19. Jahrhundert blieb es Aufgabe der Gelehrtenschulen, junge Menschen auf die Landesuniversität Kiel vorzubereiten, an der man studieren musste, wenn man ein Amt als Arzt, Pastor, Lehrer oder Jurist in den Herzogtümern anstrebte; darüber hinaus vermittelte die Institution, in der seit Mitte des 17. Jahrhunderts dem muttersprachlichen Unterricht ein größerer Raum gegenüber dem herkömmlichen Latein- und Griechisch-Unterricht eingeräumt wurde, dem kaufmännischen Nachwuchs eine humanistische Grundbildung. Ende des 18. Jahrhunderts gewannen neuhumanistische und philanthropische Reformansätze Einfluss auf die Umgestaltung des Unterrichts; schließlich wurde Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge der Trennung von Gelehrten- und Bürgerbildung in Nordfriesland durch die Adlerʼsche Schulreform die Gelehrtenschule geschaffen, deren aufgeklärter Rationalismus Storms Bildungsweg fast ein Jahrzehnt lang wesentlich prägte.

Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die Grammatik als das Kernstück des Unterrichts. Der Grammatikunterricht in Griechisch und Latein machte den Schülern die abweichenden Strukturen im Kontrast zur Muttersprache bewusst. Der Rhetorikunterricht zeigte etwa am Beispiel der Reden Ciceros die Möglichkeiten der politischen Beredsamkeit; im Deutschunterricht wurde eine Reihe von Tropen und Figuren vermittelt und eine komplexe Satzverknüpfung eingeübt. Der Lektürekanon berücksichtigte alle wichtigen Gattungen, die Lyrik, das Drama und die Epik, aber auch Geschichtsschreibung und Philosophie. Die Methode der Dialektik wurde an platonischen Dialogen erarbeitet und mit ihr Grundkenntnisse im philosophischen Denken erprobt. Die Stoffe waren teils mythischer, teils historischer Herkunft; die Schüler erhielten Gelegenheit, sich diese Inhalte nicht nur aus Lehrbüchern, sondern vor allem durch die Beschäftigung mit den Quellen anzueignen.

Storm wurde Ostern 1826 mit 9 Jahren in die Quarta aufgenommen. Nach einem Jahr wechselte er in die Tertia, die er wie die Sekunda drei Jahre besuchte, danach war er ab Ostern 1833 Primaner. Insgesamt verbrachte er neun und ein halbes Jahr auf der Gelehrtenschule seiner Vaterstadt. Zusammen mit den vier Jahren Elementarschule und dem Besuch des Lübecker Katharineums hat er 15 Jahre die Schulbank gedrückt, davon elf Jahre in höheren Lehranstalten.5

Von den ca. 100 Gedichten, die er während seiner Schulzeit in Husum zwischen 1833 und 1837 geschrieben hat, sind ein Drittel in der Nachfolge der Anakreontik des 18. Jahrhunderts gestaltet, deren tändelnder Ton noch immer einen Teil der damaligen Wochenblattpoesie bestimmte; einige Texte stehen in der Tradition der Nachahmung antiker Klassiker und lassen sich auf den Unterricht an der Husumer Gelehrtenschule zurückführen.

Im Herbst 1835 wechselte Storm auf das Lübecker Katharineum, das er bis Ostern 1837 besuchte. In einem Entwurf für seine Rede zum 70. Geburtstag notierte er später6: Mein Vater hatte den glücklichen Gedanken, mich vor der Universität noch 1 l/2 Jahre auf die Lübecker Schule zu schicken, die unter Jacob und Classen in höchster Blüte stand. Hier war höhere Luft, bedeutendere Menschen, und zwei für mich große Ereignisse traten dort in mein Leben: ich lernte Heines Buch der Lieder kennen – die erste wie ein Gebetbuch vergriffene Ausgabe steht noch in meinem Schrank – nie vergess ich den Herbstabend und die Schauer, die mich überzogen, als ein älterer Freund mir mit feierlicher Stimme eines dieser Lieder nach dem andern las.

Der Aufenthalt in Lübeck und der Unterricht am dortigen Gymnasium eröffneten dem 18jährigen neue Perspektiven; er traf in der Hansestadt auf bedeutende Persönlichkeiten, die ihn aufgrund ihres geistigen Horizonts beeindruckten. Die Anregungen für die meisten Gedichte, die während und kurz nach der Lübecker Zeit entstanden, empfing Storm nicht aus dem Schulunterricht, sondern von neuen Freunden, die er in der Hansestadt gewann.

Nachdem Storm sich während seiner Zeit in Lübeck intensiv mit Heinrich Heine auseinander gesetzt hatte, löste sich seine Lyrik allmählich von traditionellen Formen und folgte immer deutlicher einem eigenen Konzept, das er schließlich zu dem Idealtypus des rein lyrischen Gedichts weiterentwickelte, das phrasenhaft-rhetorische Reflexionen vermeidet und ohne didaktischen Anspruch auf die Unmittelbarkeit sensueller Präsenz setzt.7 Bei diesem Prozess spielten Leben und Werk Gottfried August Bürgers eine bedeutende Rolle; die ersten Leseeindrücke gewann Storm als Schüler um das Jahr 18308, als er die 1829 in Göttingen erschienene Ausgabe von Bürgers Werken aus der Husumer Schulbibliothek entlieh.9 Noch im Alter10 erinnerte er sich an seine Lektüre von Bürgers Ballade „Lenore“11.

Zunächst lernte er Bürger als Klassiker kennen, der eine Liebeslyrik geschaffen hatte, die Storm sich bei vielen frühen Dichtversuchen zum Vorbild nahm. Auch Szenen in Bürgers Nachdichtungen der Homerischen Epen und Motive aus der griechischen Mythologie regten ihn zu eigenen Gedichten an. Als sich Storm in Lübeck mit der neuesten deutschen Literatur, also mit Goethe, Heine, Gutzkow, Platen, Eichendorff und anderen beschäftigte, erwarb er in der von Rhoden’schen Buchhandlung die druckfrische Prachtausgabe von „Bürgers sämliche(n) Werke(n)“ aus dem Jahr 1835, die zu einer positiveren Bewertung von Bürgers Gedichten in der literarischen Öffentlichkeit beitrug.12

Damals begeisterte sich der junge Poet für die Liebesgedichte Bürgers, die er als Lieder über die Liebe liest, in denen es gelungen ist, die Atmosphäre dieses Gefühls in künstlerischer Form festzuhalten und auf den Hörer zu übertragen. Zwanzig Jahre später, als der reife Dichter Theodor Storm einige Gedichte Bürgers in seine Anthologie „Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther“ aufnahm, schrieb er im Vorwort13: Bürger‘s unkritische und ungezügelte Natur lässt ‒ ähnlich wie bei Günther ‒ nur selten eine reine Produktion aufkommen. […] Freilich, wo es ihm einmal gelingt, wie in der „Abendphantasie eines Liebenden“, erhebt er sich dafür auch zu einem Hymnus, der noch späte Geschlechter die berauschende Kraft jener unseligen Leidenschaft mitempfinden lassen wird.

 

Gottfried August Bürger
Abendphantasie eines Liebenden
14

In weiche Ruh hinabgesunken,
Unaufgestört von Harm und Not,
Vom süßen Labebecher trunken,
Den ihr der Gott des Schlummers bot,
Noch sanft umhallt vom Abendliede
Der Nachtigall, im Flötenton,
Schläft meine Molly-Adonide
Nun ihr behäglich Schläfchen schon.

Wohlauf, mein liebender Gedanke,
Wohlauf zu ihrem Lager hin!
Umwebe, gleich der Efeuranke,
Die engelholde Schläferin!
Geneuß der übersüßen Fülle
Vollkommner Erdenseligkeit,
Wovon zu kosten noch ihr Wille,
Und ewig ach! vielleicht, verbeut! –

Ahi! Was hör ich? – Das Gesäusel
Von ihres Schlummers Odemzug!
So leise wallt durch das Gekräusel
Des jungen Laubes Zephyrs Flug.
Darunter mischt sich ein Gestöhne,
Das aus entzücktem Busen geht,
Wie Bienensang und Schilfgetöne,
Wann Abendwind dazwischen weht.

O, wie so schön dahin gegossen,
Umleuchtet sie des Mondes Licht!
Die Blumen der Gesundheit sprossen
Auf ihrem schönen Angesicht.
Ihr Lenzgeruch wallt mir entgegen,
Süß, wie bei stiller Abendluft,
Nach einem milden Sprüheregen
Der Moschus-Hyazinthe Duft.

Mein ganzes Paradies steht offen.
Die offnen Arme, sonder Zwang,
Was lassen sie wohl anders hoffen,
Als herzenswilligen Empfang?
Oft spannt und hebt sie das Entzücken,
Als sollten sie jetzt ungesäumt
Den himmelfrohen Mann umstricken,
Den sie an ihrem Busen träumt. –

Nun kehre wieder! Nun entwanke
Dem Wonnebett! Du hast genug!
Sonst wirst du trunken, mein Gedanke,
Sonst lähmt der Taumel deinen Flug;
Du loderst auf in Durstesflammen! –
Ha! wirf ins Meer der Wonne dich!
Schlagt, Wellen, über mir zusammen!
Ich brenne! brenne! Kühlet mich!

In seinen frühen Liebesgedichten entwickelte Storm eine hohe Sensibilität für den modern wirkenden Ton in einigen der Texte Bürgers, in denen dieser tradierte Formen und Inhalte durch ein Erlebnis zu einer unmittelbareren Darstellung zu bringen versuchte, als dies in der Tradition der Anakreontik möglich gewesen war.

Wie Storm diesen Weg geschritten ist, kann an einem Gedicht aus der Lübecker Zeit gezeigt werden, in dem er auf einen idealen Begriff von Liebe und Schönheit verzichtet, sich um die Wiedergabe von Empfindungen bemüht und versucht, die inneren Vorgänge in Naturbildern auszudrücken: 

Träumerei15

Auf weichem Moose ruhten meine Glieder,
Und laue Schatten flossen um mich her,
Sanft rauscht der Wald, die Quellen klingen leise,
Hoch auf am Himmel wogt das Sternenmeer;
Rings auf der Wiesen schimmernd grüne Pfühle
Ergießt der Abend seine duft’ge Kühle.

Und wie das Dunkel so die Welt umschleiert,
Erblüht im Geiste eine neue Welt;
Die Blume, die der Abend eingeschläfert,
Die goldne Frucht, der Buche hohes Zelt
Erschaut das trunkne Aug’ mit einem Male
In milder Sonnen purpurlichtem Strahle.

Auf eines Wundersee’s bewegtem Rücken
Trägt mich ein Nachen durch die blaue Flut;
Und eingewiegt in leichte Wunderträume
Mein herzig Mädchen mir im Arme ruht.
Rings aus den Wogen Zaubertöne dringen,
Die ewig alt, doch ewig jung erklingen.

Um Mast und Ruder sprießen frische Rosen,
Die Segel glühn im roten Sonnenglanz;
Mein Mädchen lächelt, meine Rosen blühen,
Mein Nachen schwebt im leichten Wogentanz;
Durch Blüt’ und Schilf in zaubrischem Getriebe
Singt leiser Hauch das Märchen von der Liebe.

 –

Und weiter schwankt die sanftgewiegte Barke
Vorbei an Tempel, an smaragdne Höhn;
An meiner Brust zwei milde Sonnen glühen,
Zwei milde Sonnen, die nicht untergehn.
Und weiter geht’s mit Scherz und Kuss und Tränen,
Mit süßer Lust und nie gestilltem Sehnen.

Da teilt ein Eiland die besonnten Küsten,
Ein voller Hafen winkt uns gastlich zu,
Geschmückte Tempel, reichbekränzte Hütten,
Am Ziel der schönen Fahrt auch süße Ruh. –
Voll warmer Lust die Herzen höher schlagen,
Als uns hinein die sanften Wellen tragen.

Die Barke ruht am heiß ersehnten Ziele,
Ein holder Taumel hat das Herz erfüllt;
Doch bald entweicht er – – Meine Blicke suchen
Umsonst, umsonst das schöne Zauberbild.
Mein Lieb verblühet, meine Rosen bleichen,
Das Ufer füllen graue Riesenleichen.

In weiter Ferne nur ein leises Rauschen
Gemahnet an das schöne Wundermeer. – –
Da weckt mich Lautenklang aus schwerem Traume;
Am hohen Himmel zieht die Sonn’ daher. –
Freu’ dich, mein Herz, schwer hat die Nacht gelogen,
Noch schwebst du froh auf reichen Wunderwogen.

 

In acht sechszeiligen Strophen aus fünfhebigen Jamben entfaltet das lyrische Ich ein zunächst sanftes Naturbild, eine idyllische Wiesenlandschaft erscheint im sprachlichen Gewand traditioneller Phrasen der Rokokolyrik unter dem Sternenmeer; aus dem Gefühl der Seligkeit eröffnet sich eine gesteigerte Traumwelt. Die Bilderflut gerät in Bewegung; das lyrische Ich schwimmt mit seinem Mädchen in trunkenem Liebesrausch auf einem Wundermeer dahin; das nie gestillte Sehnen führt die beiden schließlich zu einer Liebesinsel mit einem Hafen, dessen Geschmückte Tempel das konventionelle Inventar einer idealisierten barock-antiken Mittelmeerlandschaft zieren. Getragen wird das Ganze von einer erhabenen Stimmung, die der Text mit großem sprachlichem Aufwand durch eine ungezügelte Fülle von emphatischen Adjektiven und Substantiven beschwört. Dann schlägt die Stimmung um, und das Bild des vollen Lebens und der Lust weicht einem Alptraum; schon das Wort Barke signalisiert den Umschlag, denn es bezeichnet ein Schiff ohne Segel, mit dem in der griechischen Mythologie die Seelen in die Unterwelt fahren. Nun verblüht das Mädchen, die Rosen bleichen und die landschaftliche Idylle wird durch Riesenleichen erdrückt. Der holde Taumel der Liebe mündet in eine Todesahnung, die aber in der letzten Strophe durch das Erwachen des lyrischen Ichs relativiert wird.

Storm bemerkte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass die hohe Form der Dichtung, wie sie aus der Antike bis in die Zeit des späten 18. Jahrhunderts hinein etwa bei Klopstock und Voss, aber auch in seinen eigenen Versuchen der „Imitatio“ antiker Formen noch einmal aufgegriffen wurde, nun nicht mehr trägt. Dieser Teil seiner Jugendlyrik besteht bloß aus der Nachahmung von vorgegebenen Mustern und lässt jede individuelle Eigenständigkeit vermissen. Aber die Orientierung an lyrischen Vorbildern aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb für den jungen Storm nur eine Episode.

Vielleicht spürte er bei der Lektüre von Bürgers Liebesgedichten, einer Untergattung, die ihm später als Muster für die Naturdichtung überhaupt galt, wie dieser die starre Regelpoesie seines Zeitalters überwinden wollte, indem er in seinen Gedichten Leben, Gefühl und vor allem subjektive Leidenschaften gestaltete. Bürger hat in den Vorreden zu seinen Gedichtausgaben mehrfach betont, er wolle ein populärer Dichter sein; und August Wilhelm Schlegel hat in seinem Essay16 bereits im Jahre 1800 darauf hingewiesen, dass der gleichzeitige Anspruch von Popularität und Korrektheit keinen Widerspruch in sich bergen müsse. Schlegel versteht unter populären Gedichten solche, die auch von wenig gebildeten Menschen verstanden werden können, sofern sie nur klar formuliert sind. Diese Forderung widerspricht nicht dem Verlangen nach formaler Geschlossenheit, ohne die im 18. Jahrhundert kein Dichter Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung erheben konnte. Wer die Grundlagen der Dichtkunst nicht perfekt beherrschte, galt nicht als Dichter. Insofern konnte Schlegel darauf hinweisen, dass ein Teil der Poesie mit Recht nur für ein gebildetes Publikum bestimmt war.

Da einige von Storms Jugendgedichten mehr als ein Vierteljahrhundert später aus den gleichen Wurzeln einer genauen Kenntnis der klassischen Vers- und Strophenformen sowie des Metrums und der Reime erwuchs, die er in der Husumer Gelehrtenschule erworben hatte, konnte er sich Bürger sehr nahe fühlen. Der junge Storm war von Bürgers Dichtung deshalb fasziniert, weil dieser in bisher unbekannter Intensität literarische Ausdrucksweisen seiner Zeit mit neuen Energien auffrischt und anreichert, indem er eine unmittelbare, oft distanzlose Verbindung von Literatur und Leben verwirklicht, leidenschaftlich und temperamentvoll dichtet, subjektive Erfahrungen poetisch umsetzt und damit die regelgebundene Poetik der Aufklärung und des Rokoko als obsolet erscheinen lässt, die empfindsame Mode durch sinnlich-konkrete Elemente übertriff.17 Genau diese Momente versucht Storm in Gedichten wie Träumerei zu gestalten.

 

Den Heiligabend 1836 verbrachte Storm bei Verwandten in Altona. Dort lernte er die damals zehnjährige Bertha von Buchan kennen, die mit ihrer Pflegemutter in Hamburg wohnte und ebenfalls zum Weihnachtsfest eingeladen war. Diese Begegnung muss auf den damals 19Jährigen einen großen Eindruck gemacht haben, denn er begann noch am Weihnachtsmorgen damit, Gedichte in eine damals von ihm verwendete Sammelhandschrift („Meine Gedichte“) einzutragen, die durch seine Begegnung mit Bertha angeregt worden waren. Ostern 1837 begann Storm in Kiel mit dem Jura-Studium und blieb das ganze Jahr über mit Bertha in Briefkontakt. Zum Weihnachtsfest 1837 schickte er ihr das Märchen „Hans Bär“, seine erste längere Prosaarbeit. Aber erst zum Osterfest des folgenden Jahres sahen sich die beiden wieder, als Storm erneut nach Altona fuhr.18

Storm schrieb Bertha regelmäßig Briefe und legte immer wieder einige seiner Gedichte bei. Die Bekanntschaft mit dem fantasievollen und aufgeweckten Mädchen bot ihm Gelegenheit, sein poetisches Talent auf einen Punkt zu konzentrieren. Ganz offensichtlich war die heranwachsende Bertha für mehr als fünf Jahre die Muse des jungen Dichters, die ihn zu vielen Versen anregte und zu ersten Erzählversuchen anspornte.

Aber diese Gedichte sind nicht bloße Hymnen an Bertha, in denen die Liebe zwischen zwei Menschen besungen wird. Sie sind aus einem authentischen Gefühl der Verzweiflung entstanden; Theodor wirbt bei Bertha nicht nur um Zuwendung, sondern er offenbart ihr immer wieder seine unerträgliche Situation. Es dauerte mehrere Jahre, bis er begriff, dass Bertha seine Liebe nicht erwiderte. Sie lässt sich von ihm hofieren, antwortet ihm in stilistisch durchaus ansprechender Weise, aber sie entschlüsselt seine Absicht nicht, oder will es nicht – obwohl sie genau weiß, was er will.

Dennoch hofft er noch bis in die Zeit der Verlobung mit Constanze Esmarch, durch die Zusendung von Gedichten Bertha doch noch zur Erwiderung seiner Liebe anzustoßen. Und es darf bei der literarischen und psychologischen Bewertung dieser Texte nicht vergessen werden, dass sie ohne die Abweisung durch Bertha nicht entstanden wären. Das ist die Rolle, die Bertha bei der Entwicklung des Lyrikers Theodor Storm gespielt hat: Ihre Person und ihr Verhalten waren Anstoß für einen jungen Dichter, durch die Kontextualisierung seiner Schreibversuche eine selbständige und über seine Vorbilder hinausweisende lyrische Sprache zu finden.

 

Im Oktober 1842 lehnte die Sechzehnjährige den Heiratsantrag des gerade examinierten Juristen ab; sie betonte, dass sie für eine Liebesbeziehung noch zu jung sei. Storms tiefe Enttäuschung schlug sich in weiteren Gedichten nieder. Der junge Poet gewann durch die Unmittelbarkeit, mit der er das Bertha-Erlebnis in lyrische Sprache verwandelte, zum ersten Mal Distanz zur Tradition, an der er sich geschult hatte, und vermochte es, den neuen Erfahrungen und Empfindungen in einigen Gedichten einen ganz selbständigen Ausdruck zu geben.

Weihnachten 1843 trat ein anderes Mädchen in Storm Gesichtskreis, seine 18jährige Cousine Constanze Esmarch, und bereits im Januar 1844 verlobten sie sich. Nun konnte Theodor die emotionale Trennung von Bertha endlich vollziehen. Nach zweieinhalbjähriger Brautzeit heirateten die beiden im September 1846. Die Brautbriefe, die Storm in dieser Zeit nach Segeberg schickte, enthalten eine Reihe von Gedichten, die bereits von der großen Meisterschaft des künftigen Dichters künden. Der Ton der Texte wird sinnlicher, die Darstellung von Empfindungen unmittelbarer. Es entstehen durchgeformte Verse, in denen die einförmige Konventionalität des Versbaus durch vielfältige klangliche Modifikationen der Akzentuierung variiert wird.

 

Diese Untersuchung widmet sich den Jahren, in denen Theodor unglücklich in Bertha von Buchan verliebt war; in diesen Jahren beginnt der junge Poet auch mit der Sammlung volksläufiger Sagen, Märchen, Lieder, Schwänke und Spukgeschichten sowie Reimen, Rätseln und Sprichwörter. Es entstehen kurze Prosastücke und Märchen nach dem Vorbild der Brüder Grimm.

„Meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwachsen“19, schrieb der erfolgreiche Dichter im März 1882 an seinen Freund Erich Schmidt. Storms lyrische Entwicklung ist nicht von seinen tastenden Erzählversuchen zu trennen, die er später zu meisterhaften Novellen ausweitete.

 

Anmerkungen (Die Abkürzungen werden im Anhang aufgelöst)


1 Thomas Mann 1996, S. 16.

2 Storm 1878, S. VII.

3 Dieter Lohmeier: Theodor Storms Gedichte. In: LL 1, S. 745.

4 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.9.2000.

5 Vergl. Eversberg 2006.

6 LL 4, S. 488.

7 Vergl. Detering 2004, S. 25-41.

8 Bürger 1829; Storms Name findet sich in Bd. 5.

9 Der 5. Teil enthält Übersetzungen aus Ossian und Shakespeares „Macbeth“ sowie Ludwig Christoph Althofs Abhandlung „Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen Gottfried August Bürger’s: nebst einem Beitrage zur Charakteristik desselben“. (Exemplare in der Husumer Schulbibliothek)

10 Theodor Storm: „Entwürfe einer Tischrede“ (1), in: LL 4, S. 488: Erst die Hildburghauser Kabinett- und Miniaturausgabe brachte uns eine Menge Dichtungen; aber von Poeten, die damals wohl schon meist vergessen waren, freilich Bürgers Lenore und Wielands Oberon waren dazwischen.

11 Die Schauerballade „Lenore“ ist in Bd. 1 von Bürgers Werken (Bürger 1829) enthalten (S. 59-72).

12 Bürger 1835, S. 104-111. (Storms Bibliothek, StA mit dem Eintrag „HWStorm.“)

13 Storm 1859. Vorwort zitiert nach LL 4, S. 377-380; hier S. 379f.

14 Storm 1878, S. 32f.

15 Nach einer Handschrift aus der zweiten Hälfte 1836 mit Gedichten, die Storm seinen Eltern zu Weihnachten schenkte (SHLB); LL 1, S. 168ff.

16 „Bürger von August Wilhelm von Schlegel“ (Erstdruck 1800). In: Bürger 1835, S. 503-524. Bürgers Vorreden zu den Ausgaben seiner Gedichte von 1778 und 1789 ebenda, S. 223ff; sein Essay „Von der Popularität der Poesie“ ebenda, S. 333ff.

17 Günter und Hiltrud Häntzschel im Nachwort zu ihrer Ausgabe von Gottfried August Bürger. Sämtlichen Werke, München 1987, S. 1413.

18 Vergl. Eversberg 1995a.

19 Theodor Storm an Erich Schmidt, Brief vom 1.3.1882; Briefe Schmidt, Bd. 2, S. 57.