Ich bin ja der Sohn vom Haus! ‒ Heimkehr an Weihnachten

 

Im März 1838 berichtete Theodor Storm in einem Brief an Therese Rowohl1: Den letzten Weihnachten habe ich wieder einmal nach drei Jahren im Kreise der Meinigen zugebracht; meine Geschwister harrten und horchten, jubelten und sprangen, wie sonst, der Baum brannte, ich ward freundlich und reichlich beschenkt, wie vor Jahren; allein der Zauber der Kinderwelt war verschwunden; und dass ich dies fühlte, war ein harter Schmerz für mich am heiligen Abend; die Welt die wir in unserm Geiste bauen ist alles: wir streben nach Wahrheit und die beglückende Täuschung fällt. ‒ Darum liebe ich die Kinder, weil sie die Welt und sich selbst noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie sehen. ‒

Nachdem er zu Michaelis 1835 mit seinem Freund Ohlhues Quartier in Lübeck bezogen hatte, mussten die beiden Primaner Weihnachten auf eine Heimreise verzichten; sie werden dort das Weihnachtsfest allein verbracht haben; in sein Notizbuch notierte Storm folgendes Gedicht, in dem kein Christkind, sondern eine doppelgestaltige Allegorie der Zeit erscheint:

 

Beim Scheiden des Jahrs 18352

Die Ampel losch und träumend sank
Ich auf des Lagers weiches Pfühl.
Und siehʼ, vor meinen Augen stand
Ein schwacher Greis
Mit schneebedecktem Scheitel.
Aus seinen Blicken strahlte hell
Das Angedenken großer Tat.
Doch seine Stirne war gefurcht,
Als hätt die Zeit
In ihr die Frevel angemerkt
Zur Warnung für
Die kommenden Geschlechter.
Und immer schwächer ward der Greis,
Und immer mehr
Entschwand er meinen Augen.
Da plötzlich ändert sich das Bild:
Der Greis entschwand wie Nebeldunst
In graue Ferne. ‒ Rasch entwand
An seiner Statt der Erde sich
Ein Jüngling. ‒ Ich erwachte!
Vom hohen Turme hallte noch
Der zwölfte Schlag
Der mitternächtigen Stunde.
Da fiel der Schleier mir vom Aug:
Es hat die Zeit
Ein neues Jahr geboren.

 

Ein Jahr darauf besuchte er die Familie Scherff und feierte dort das Weihnachtsfest mit Bertha.

Die Erlebnisse des Weihnachtsfests 1837 in Husum hat Storm in einer Ballade poetisch dargestellt und zugleich einen Rückblick auf die Jahre in der Fremde dichterisch gestaltet und dabei auch die Dirne mit schwarzen Locken nicht vergessen, die ihn Weihnachten 1836 so beeindruckt hatte.

 

Weihnachtsabend3

An die hellen Fenster kommt er gegangen
Und schaut in des Zimmers Raum;
Die Kinder alle tanzten und sangen
Um den brennenden Weihnachtsbaum.

Da pocht ihm das Herz, dass es will zerspringen,
O, ruft er, lasst mich hinein!
Was Frommes, was Fröhliches will ich euch singen
Zu dem hellen Kerzenschein.

Und die Kinder kommen, die Kinder ziehen
Zur Schwelle den nächtlichen Gast;
Still grüßen die Alten; die Jungen umknieen
Ihn scheu in geschäftiger Hast.

Und er singt: „Weit glänzen da draußen die Lande
Und locken den Knaben hinaus,
Mit klopfender Brust, im Reisegewande
Verlässt er das Vaterhaus.

Da trägt ihn des Lebens breitere Welle ‒
Wie war so weit die Welt!
Und es findet sich mancher gute Geselle,
Derʼs treulich mit ihm hält.

Tief bräunt ihm die Sonne die Blüte der Wangen
Und der Bart umsprosset das Kinn;
Den Knaben, der blond in die Welt gegangen,
Wohl nimmer erkennet ihr ihn.

Aus goldenen und aus blauen Reben,
Es mundet ihm jeder Wein,
Und dreister greift er in das Leben
Und in die Saiten ein.

Und für manche Dirne mit schwarzen Locken
Im Herzen findet er Raum ‒
Da klingen durch das Land die Glocken,
Ihm warʼs wie ein alter Traum.

Wohin er kam, die Kinder sangen,
Die Kinder weit und breit,
Die Kerzen brannten, die Stimmlein klangen ‒
Das war die Weihnachtszeit.

Da fühlte er, dass er ein Mann geworden;
Hier gehörte er nicht dazu.
Hinter den blauen Bergen im Norden
Ließ ihm die Heimat nicht Ruh.

An die hellen Fenster kam er gegangen
Und schaut in des Zimmers Raum;
Die Schwestern und Brüder tanzten und sangen
Ein Christlied am Taxusbaum.“ ‒

Da war es, als würden lebendig die Lieder
Und nahe, der eben noch fern;
Um den Taxus tanzten die Schwestern und Brüder
Und sangen ein Lied vom Herrn!

Da kann er nicht länger das Herz bezwingen,
Er breitet die Arme aus:
O schließet mich ein in das Preisen und Singen,
Ich bin ja der Sohn vom Haus!

 

Weihnachten in Husum, das bedeutete in bürgerlichen Kreisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein großes Familientreffen, bei dem ausgiebig gegessen und getrunken wurde. Dass es sich um ein Hauptfest der Christenheit handelt, bei dem der Menschwerdung Gottes und seines Heilsversprechens gedacht wird, war nach der Zeit der Aufklärung längst in den Hintergrund gedrängt worden. Der Familienverband als zentraler Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich das Leben des einzelnen entfaltete, benötigte nun einen angemessenen Rahmen. Diesen boten Anlässe wie Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und eben das Weihnachtsfest, bei dem sich die Großfamilie versammelte: Vater, Mutter, die Großeltern, Tanten und Onkel und natürlich die Kinder. So hat es Theodor Storm als Kind im Kreise seiner Geschwister selbst erlebt, so hat er es als Vater von acht Kindern und später als Großvater vieler Enkel ausgiebig zelebriert.

 

Auch die nächsten Weihnachtsfeste musste der Student wieder in der Fremde verbringen: 1838 in Berlin und 1839 wieder in Kiel. Wie er dort gefeiert hat, spiegeln einige Szenen der Novelle „Immensee“ wie die folgende aus der ersten Fassung, die Storm im Volksbuch 18504 veröffentlicht hat. Die Gestalt der Elisabeth trägt deutlich Züge von Bertha: Auch die Weihnachtsbäume hatten ausgebrannt; nur aus einem Fenster brach noch ein heller Kerzenschein in das Dunkel hinaus. Reinhardt stand still und suchte auf den Fußspitzen einen Blick in das Zimmer zu gewinnen; aber es waren hohe Läden vor den Fenstern, er sah nur die Spitze des Tannenbaumes mit der Knittergoldfahne und die obersten Kerzen. Er fühlte etwas wie Reue oder Schmerz, es war ihm, als gehöre er zum ersten Male nicht mehr dazu. Die Kinder da drinnen aber wussten nichts von ihm, sie ahnten es nicht, dass draußen Jemand, wie er es zuvor von hungrigen Bettelkindern gesehen hatte, auf das Treppengeländer geklettert war und sehnsüchtig in ihre Freude wie in ein verlorenes Paradies hineinsah. Zwar hatte ihm in den letzten Jahren seine Mutter keinen Baum mehr aufgeputzt; aber sie waren dann immer zu Elisabeths Mutter hinübergegangen. Elisabeth hatte noch jedes Jahr einen Weihnachtsbaum erhalten und Reinhardt hatte immer das Beste dabei getan. Am Vorabende hatte man immer den großen Menschen aufʼs eifrigste damit beschäftigt finden können, Papiernetze und Flittergold auszuschneiden, Kerzen anzubrennen, Eier und Mandeln zu vergolden und was sonst noch zu den goldnen Geheimnissen des Weihnachtsbaums gehörte. Wenn dann am folgenden Abend der Baum angezündet war, so lag auch immer ein kleines Geschenk von Reinhardt darunter, gewöhnlich ein farbig gebundenes Buch, das letzte Mal das sauber geschriebene Heft seiner eigenen Märchen. Dann pflegten die beiden Familien zusammen zu bleiben, und Reinhardt las ihnen aus Elisabeths neuen Weihnachtsbüchern vor. So trat allmählich ein Bild des eignen Lebens an die Stelle des fremden, das vor seinen Augen stand; erst als in der Stube die Kerzen ausgeputzt wurden, verschwanden beide. Drinnen wurden Zimmertüren auf- und zugeschlagen, Tische und Stühle zusammengerückt; der zweite Abschnitt des Weihnachtsabends begann.

1840 feierte man ebenfalls im Kreise der Kieler Studenten; neben Storm waren das die ehemaligen Mitschüler an der Husumer Gelehrtenschule, die sich nun an der Landesuniversität in Kiel auf ihre späteren Beruf vorbereiteten: Peter Heinrich Herr (1816-1892), Christian Albrecht Klander (1817-1874), Karl Friedrich Emil Krebs (1815-1897), Johannes, Mathias Peter Ohlhues (1815-1883) sowie Lorenz Ludwig Setzer (1819-?).

In seinem Brief an Bertha vom 31. Januar 1841 berichtet Storm ausführlich von der Feier5: Wir haben seit meinem letzten Briefe Weihnacht und Neujahr gehabt, was ich ja alles, wie schon besagt und beklagt, hier in Kiel verleben musste. Indes hatten wir sechs Husumer doch einen Weihnachtsabend, wovon ich Dir wenigstens etwas erzählen will, da das Ganze bei mir gewiss bleibend einen freundlichen Eindruck zurücklassen wird. Ich mit noch einem Freunde arrangierte das Ganze mit aller möglichen Heimlichkeit vor den andern; in einem großen hohen Zimmer stellten wir eine prachtvolle 8 Fuß hohe Tanne auf, schmückten sie reichlich mit goldenen Äpfeln, Eiern, Netzen, Zuckerzeug und vielen bunten Lichtern; von der Spitze zu jeder Seite herab hängen zwei lange weißseidene Fahnen, auf der einen die Wappen von Schleswig und Holstein, darunter einen Königsspruch, der die bleibende Vereinigung dieser beiden Herzogtümer ausspricht: „wi laven dat Sleswik und Holsten bliven ewig tosamende ungedeelt!“ (Wir glauben, dass die Herzogtümer Schleswig und Holstein für immer ungeteilt zusammenbleiben) ‒ auf der andern Fahne das Husumer Stadtwappen, als Umschrift einen Vers aus einem alten Studentenliede: „Süßer Traum der Kinderjahre, kehr noch einmal uns zurück.“ ‒ Für die Gesamtbeiträge wurde für jeden 1 Geschenk gekauft, außerdem wurden gegenseitig an uns als Kommission manche Privatgeschenke abgeliefert, ferner hatte ich von den Eltern, Geschwistern, Bräuten der Andern alle zum Weihnachtsabend bestimmten Geschenke an mich schicken lassen. Das alles stellten wir auf großen Tischen um den Weihnachtsbaum, und nachdem wir alle Lichter angezündet hatten, riefen wir die ungeduldigen Kinder zum Christfest. Unsre Einrichtung verfehlte ihren Zweck nicht. So rasch sie bis zur Tür stürmten, so langsam gingen sie hinein; denn der Christbaum ist ein brennendes Geheimnis! Ich sah es wohl, ihre Herzen waren in der Stunde, wie die der Kinder. Engel knieten an der Schwelle, hütend bei dem frommen Schein; von den Lippen klang es helle; nur die Kinder gehen ein! So blieb die Stimmung den ganzen Abend; wir freuten uns stundenlang am Baum, an den Geschenken, an den guten Einfällen, die dabei vorkamen; kein leichtsinniges Wort hätten wir geduldet. Bei Tisch brachten wir das erste Glas allen unsern Lieben in der Ferne, das zweite der bleibenden Vereinigung unseres Vaterlandes in den beiden Herzogtümern, das dritte unserer Vereinigung. Um 1 Uhr ging jeder mit seinen Geschenken beladen nach Haus, die bei Allen noch manchen Tag auf dem Tische zur Schau standen.

Diese Funktionalisierung des Weihnachtsbaums zu einem Symbol des politischen Manifests für die nationale Unabhängigkeitsbewegung im Herzogtum Schleswig, das damals Teil des Königreichs Dänemark war, lässt sich aus dem hohen Stellenwert erklären, dem der Kampf um Sprache und Nationalität vor der bürgerlichen Revolution von 1848 vor allem in den Herzogtümern zugewiesen wurde. Zehn Jahre später, nachdem die Blütenträume eines geeinigten deutschen Vaterlands geplatzt waren, verzichtete der jungen Familienvater Theodor Storm fast völlig auf politische Symbole zum Weihnachtsfest. Von nun an galt es, kleinen Kindern etwas zu bescheren; also hängte man Frösche, Affen, gelbe Wurzeln, nackte Wachskinder, Glaskugeln, vergoldete Eier, Walnüsse und Pflaumen, Rosinengirlanden, Rauschgoldstreifen und mit Bonbons gefüllte weiße Papiernetze in den Baum.

Das Weihnachtsfest hatte sich im 19. Jahrhundert immer mehr von einem christlichen zu einem Familienfest gewandelt; vor allem im Bürgertum wuchs die Bedeutung der Familie als der Mittel- und Angelpunkt des Lebens. Der Mann war für den Außenbereich zuständig, hatte den Beruf und musste für die ökonomische Grundlage des Familienlebens sorgen; der Frau oblag die Hauswirtschaft und die Aufzucht der Kinder. Diese ursprüngliche Versorgungsgemeinschaft wurde mehr und mehr ideologisch überhöht, es entstand das Bild der liebevollen Hausfrau, die dem Manne die Geborgenheit und Wärme zu vermitteln hatte, deren er bedurfte, um zu Hause im Kreise der Lieben von den Anstrengungen der Erwerbstätigkeit auszuruhen und neue Kräfte für die harten Auseinandersetzungen in der kapitalistischen Wettbewerbswelt zu sammeln. Zeitgenössische Darstellungen von Müttern, die kleine Kinder auf dem Arm tragen, stehen in der ikonographischen Tradition von Madonnenbildern.

 

Ein denkwürdiges Weihnachten. Kolorierter Holzstich nach einer Zeichnung von J. B. Sonderland

 

Ein solcher Rückzugsort braucht eine angemessene Ausstattung; statt der Wirtschaftsräume, die im Bauernhaus benötigt wurden, und statt der festlichen Säle, in denen der Adel seine Selbstdarstellungen inszenierte, benötigte das Bürgertum nun ein Wohnzimmer, das zum Mittelpunkt des Hauses wurde, in dem sich die Behaglichkeit des Familienlebens – von der feindlichen Umwelt abgeschottet – entfalten konnte. Um das Weihnachtsfest begann sich ein Kult zu entwickeln, der landschaftlich sehr unterschiedlich ausgeprägt war, dessen Rituale sich aber mit erstaunlicher Zähigkeit bis in unsere Tage erhalten haben.

Eine wichtige Bedeutung hatten und haben die Weihnachtsgeschenke vor allem für die Kinder; erst durch die Bescherung erhält das Fest jene prickelnde Bedeutung, die alle Kinderherzen höher schlagen lässt. Bei den Storms spielten Bücher als Weihnachtsgaben immer eine besondere Rolle; an sonstigen Geschenken für die Knaben werden erwähnt: Bilderbücher, Trommeln, ein Transparentkasten, eine lebende Wachtel in grünem Käfig, Baukästen, Flinten mit Knallkorken, eine Menagerie von Tieren aus Papiermaché in Käfigen mit Messingstangen, ein Kramladen, ein ausgestopftes Kaninchen und ein Schaukellamm. Die Mädchen erhielten ebenfalls Bücher sowie Puppen, die jährlich wieder aufgeputzt wurden; den Töchtern schenkte man Wachspuppen mit zugehöriger Puppenwiege. Für die ganze Kinderschar bestimmt waren Münchener Bilderbogen, eine Laterna Magica und ein Kasperle-Theater („Putschenillekasten“) mit Handpuppen aus Hamburg.

 

Nach der Lösung von Bertha schrieb Theodor ein Weihnachtsgedicht, in dem er nicht mehr an das Mädchen aus Hamburg dachte, sondern einem Gefühl Ausdruck verlieh, das sein ganzes Leben bestimmt hat.

 

Weihnachten6

Vom Himmel in die tiefsten Klüfte
Ein milder Stern herniederlacht;
Ein weihnachtssüßes Harzgedüfte
Durchschwimmet träumerisch die Lüfte
Und kerzenhelle wird die Nacht.

Mir ist das Herz so froh erschrocken;
Das ist die liebe Weihnachtszeit!
Ich höre fernher Kirchenglocken
Mich lieblich heimatlich verlocken
In märchenstille Herrlichkeit!

Ein frommer Zauber hält mich wieder
Anbetend, staunend muss ich stehn,
Es sinkt auf meine Augenlider
Ein goldner Kindertraum hernieder ‒
Ich fühlʼs, ein Wunder ist geschehn.

 

Volksbuch für 1846 als Kalenderspruch für Monat Dezember

 

Anmerkungen


1 Theodor Storm an Therese Rowohl, März 1838. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 101.

2 MG, S. 31f., als Nr. 46 eingetragen

3 Keine Handschrift bekannt; Erstdruck in: LdF, S. 14-16.

4 Volksbuch 1850, S. 68f. Hier zitiert nach LL 1, S. 1031f.

5 Theodor Storm an Bertha von Buchan; Umschlag: Fräulein Bertha von Buchan./ Adr. Frl. Rowohl./ Hamburg./ Dienerreihe./ frei. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 115f.

6 Mit der Überschrift „Weihnacht“ in Storms Exemplar des LdF 1843 oder 1844 eingetragen; Erstdruck mit der Überschrift „Weihnachten“ in Volksbuch für 1846; später mit der Überschrift „Weihnachtslied“ in Storms „Gedichte“ (Storm 1852) übernommen. Hier nach dem Druck im Volksbuch 1846.