Weh dem armen Schlängelein – „Leila“

 

In seinem Brief vom 17. März 18401 bedankte sich der Berliner Maler Theodor Wagner für eine Erzählung mit dem Titel „Leila“: Was aber nun zum zweiten Theile Ihres Briefes sagen? Leila! ‒ Ein schöner, ja ich möchte sagen ein Feenhafter Name!

Eine Erzählung mit diesem Titel ist von Storm nicht überliefert; allerdings deuten mehrere Hinweise in Wagners Brief auf die Novelle „Ein grünes Blatt“2 hin, die Storm im Jahre 1854 veröffentlichte. Ich glaube der bloße Name hätte hingereicht, Ihre in der Märchenwelt so gern verweilende Fantasie in Feuer und Flamme zu setzen, nun aber ihre Stirn, ihre Augen, und vor allen Dingen ihre Knöchel! ‒ Das sind freilich Gegenstände die ganz geeignet sind Ihre Sinnlichkeit (denn gestehen Sie es nur, etwas Sinnlichkeit war dabei) zu wecken.

Es ist in der Tat eine Märchenwelt, in die uns der Erzähler führt. Ein junger Mann namens Gabriel verirrt sich im Wald und begegnet einem Mädchen, das Regine heißt; sie wird folgendermaßen beschrieben3:

Er schlug die Augen auf; und wie er so das junge Antlitz über dem seinen schweben sah, da sagte er noch halb im Traume: „Prinzessin, was hast Du für blaue Augen!“

„Dort wohnt mein Großvater“, sagte sie, „du kannst erst Vesper mit uns essen; nachher weise ich dir den Weg.“ Als Gabriel das zufrieden war, trat sie von dem schmalen Fußpfade auf die Heide hinüber und schlug die Richtung nach dem Walde ein. Die Blicke des jungen Mannes folgten unwillkürlich ihren Füßen, wie sie behend und sicher über die harten Stauden dahinschritten, während bei jedem Tritt die Grillen vor ihr aufflogen.

Sie selber standen noch im Schatten; aber bei der Fülle des Lichtes, die draußen webte, konnte er ihre ganze Gestalt erkennen und jedes Regen ihrer Gliedmaßen. Sie hatte im Laufen ihre Flechten aufgebunden, die nun wie ein Kranz auf ihrem Scheitel lagen. Sie erschien ihm auf einmal so stolz und jungfräulich; er konnte die Augen nicht von ihr lassen, als sie in den Mondschein hinauswies und ihm die Wege zeigte, die er gehen sollte.

Die Novelle endet mit einem Gedicht, das Storm 1856 unter dem Titel „Regine“ veröffentlichte. Im Erstdruck (Gedichte 1852) liest man allerdings die Überschrift „Silvia“ 4. So hieß das Mädchen offenbar auch in einer Fassung der Novelle, an der Theodor in den letzten Monaten des Jahres 1850 arbeitete. Die gebundene Handschrift mit der Notiz „Constanze gewidmet“ schenkte Theodor nach einem Hinweis in seinem Brief an Laura Setzer5 seiner Frau zum Weihnachtsfest.6

 

Regine

Und webte auch auf jenen Matten
Noch jene Mondesmärchenpracht,
Und stünd' sie noch im Waldesschatten
Inmitten jener Sommernacht,
Und fänd' ich selber wie im Traume
Den Weg zurück durch Moor und Feld,
Sie schritte doch vom Waldessaume
Niemals hinunter in die Welt.

 

  Erstdruck in Storms Gedicht-Ausgabe 1852

 

Die Erzählung, die keine Liebesgeschichte ist7, trug zu diesem Zeitpunkt bereits die Überschrift „Ein grünes Blatt“; eine Umarbeitung in eine Idylle in Hexametern nahm Storm im März 1853 vor, entschied sich aber nach kritischen Bemerkungen seines Berliner Freundeskreises für einen Prosatext. Storm bettete die ursprüngliche Erzählung von einer unerfüllten Liebe in einen Rahmen ein, der von einem Freischärler während der schleswig-holsteinischen Erhebung handelt.8

Theodor Wagners notierte zu der ihm von Storm Anfang 1840 zugeschickte Fassung: So sehr ich Sie auch um die schöne Leila beneide, so wünschte ich doch dass Sie es bei Ihrem singenden Beweis für Ihre Unwiderstehlichkeit bewenden lassen möchten, und aus dem Gefühl der Liebe das der Freundschaft zu machen. Meine Gründe dafür brauche ich nicht erst anzuführen, Sie haben sich beim Schluss Ihrer Liebesgeschichte ganz nach meinen Grundsätzen genügsam darüber ausgesprochen. Nächstens mehr von Leila.

Mit Ihrem singenden Beweis für Ihre Unwiderstehlichkeit meint er das Schluss-Gedicht, das Storm in der ersten Separatausgabe seiner Gedichte mit dem Titel „Silvia“ versah. Außerdem erwähnt Wagner eine Oelskizze des Mädchens auf dem Berge nach Ihrem Gedichte. Diese Szenerie lässt sich aus dem Novellentext herleiten. Die abgeschlossene Welt des Waldes liegt höher als die sie umgebene Wiesen- und Moorlandschaft. Als sie die feuchten Schatten erreicht hatten, welche weithin über die Wiesen fielen, konnte Gabriel eine kurze Leiter aus Fichtenstämmen erkennen, welche zwischen dichten Gebüschen in das höhergelegene Gehege hinaufführte. Dort „oben“ wird Gabriel von den Bewohnern dieser abgelegenen Idylle empfangen. Als er diese Wald- und Heidelandschaft wieder verlässt, muss er hinuntersteigen. Ein Plätschern scholl aus der Ferne; Gabriel lauschte. „Es ist das Fährboot“, sagte sie, „dort unten liegt die Bucht.“ Bald konnte er deutlich das Geräusch von Ruderschlägen unterscheiden; dann traten die Bäume plötzlich auseinander und sie sahen frei ins Land hinaus, das in den sanften Umrissen der Mondbeleuchtung zu ihren Füßen lag. Als Gabriel zurückblickte, war es ihm, als stehe die schöne kindliche Gestalt noch immer an der Stelle, wo er von ihr gegangen, unbeweglich im schwärzesten Tore des Waldes. Dann steigt er hinunter in die Welt.

Aus diesen Indizien schließe ich, dass „Leila“ die erste Fassung der späteren Novelle „Ein grünes Blatt“ war, und von Strom im Winter1840 konzipiert wurde. Der im späteren Erzählrahmen thematisierte Krieg zwischen den Herzogtümern Schleswig-Holstein und Dänemark fand in den Jahren 1848 bis 1851 statt. Storm könnte also die später in seine Novelle eingebettete Begegnung zweier junger Menschen bereits acht Jahre vorher niedergeschrieben haben und zwar im Zusammenhang mit seiner unglücklichen Liebe zu Bertha von Buchan.

Die Binnenerzählung liest der Rahmenerzähler in einem alten Buch:9 eine Art Album; aber lang und schmal wie ein Gebetbuch, mit groben gelben Blättern. Er hatte es während seiner Schülerzeit in einer kleinen Stadt vom Buchbinder anfertigen lassen, und später überall mit sich herumgeschleppt. Verse und Lebensannalen wechselten mit einander, wie sie durch äußere oder innere Veranlassung entstanden waren. In den letzteren pflegte er sich selbst als dritte Person aufzuführen; vielleicht um bei gewissenhafter Schilderung das Ich nicht zu verletzen; vielleicht – so schien es mir – weil er das Bedürfnis hatte, durch seine Phantasie die Lücken des Erlebnisses auszufüllen. Es waren meistens unbedeutende Geschichten oder eigentlich gar keine; ein Gang durch die Mondnacht, eine Mittagsstunde in dem Garten seiner Eltern waren oftmals der ganze Inhalt; in den Versen mußte man über manche Härte und über manchen falschen Reim hinweg.

Diese Details treffen auf Storm Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ zu, in die er seit 1833 zunächst nur Gedichte und später auch Prosaskizzen und tagebuchartige Notizen eintrug, darunter die Gefühlswallungen während seines Aufenthalts in Hamburg anlässlich der Konfirmation von Bertha in Hamburg, als er nicht wahrhaben wollte, dass er von dem Mädchen nicht wiedergeliebt wurde. (Vergl. das Kapitel Das süße Lächeln starb dir im Gesicht)

 

In der Novelle schildert Storm die Begegnung eines jungen Mannes, der sich als Soldat auf dem Wege zu einer Fähre im Wald verirrt hat, mit einem Mädchen, das dort den Namen Regine trägt. Gabriel tritt in einen idyllischen Raum ein, lernt Gabriele und ihren gastfreundlichen Urgroßvater kennen, lässt sich von dem Mädchen zum Fluss führen und verlässt sie und ihre Welt im Morgengrauen.

Die erste Begegnung der beiden wird als Märchenszene gestaltet und verweist auf Theodors Beziehung zu Bertha und seine Auseinandersetzung mit Grimms Märchen:10

 

Der Sommerwind kam über die Heide und weckte eine Kreuzotter, die sich nicht weit davon im Staube sonnte. Sie löste ihre Spirale und glitt über den harten Boden; das Kraut rauschte, als sie den schuppigen Leib hindurchzog.

Der Schlafende wandte den Kopf, und halb erwachend sah er in das kleine Auge der Schlange, die neben seinem Kopfe hinkroch. Er wollte die Hand erheben, aber er vermochte es nicht; das Auge des Gewürmes ließ nicht von ihm. So lag er zwischen Traum und Wachen. Nur wie durch einen Schleier sah er endlich die Gestalt eines Mädchens auf sich zukommen, kindlich fast, doch kräftigen Baues, das Haar in dicken blonden Zöpfen. Sie bog die Ranken zur Seite und setzte sich neben ihm auf den Boden. Das Auge der Schlange ließ ihn los und verschwand; er sah nichts mehr.

Dann kam der Traum. Da war er wieder der Hans im Märchen, wie er es oft als Knabe gewesen war, und lag im Grase vor der Schlangenhöhle, um die verzauberte Prinzessin zu erlösen. Die Schlange kam heraus und rief

„Aschegraue Wängelein,
Weh dem armen Schlängelein!“

Da küßte er die Schlange, und da war's geschehen. Die schöne Prinzessin hielt ihn in ihren Armen, und – wunderlich war es – sie trug ihr Haar in zwei aschblonden Zöpfen und ein Mieder wie eine Bauerndirne.

 

Peter Wapnewski11 hat für seine Interpretation der Novelle nach möglichen Quellen für Storms Motive geforscht, ist aber nicht fündig geworden. Es handelt sich um Elemente eines Zaubermärchens, in dem sich Irreales und Reales miteinander verbinden. Storm hat das Motiv erfunden und später im Fortgang der Handlung mit einem weiteren Motiv aus seiner Schneewittchenszene verbunden. Gabriel ging schweigend hinter ihr her; er hörte nichts als das Rauschen ihrer Füße in dem überjährigen Laube und das Arbeiten der Käfer in den Baumrinden; kein Luftzug; nur das feine elektrische Knistern in den Blättern rührte sich kaum hörbar. Nach einer Weile kam aus dem Dunkel des Waldes etwas angerannt und trabte ihnen zur Seite. Gabriel sah zwei Augen in seiner Nähe blitzen. „Was ist das?“ fragte er. Ein Rehkalb sprang in den Weg. „Das ist mein Kamerad!“ rief das Mädchen; dann lief sie pfeilschnell auf dem Steige fort; das Tier hinter ihr drein.

 

Storms Leila/ Silvia/ Regine trägt wiederum die Züge seines Bertha-Imago, das er sich von der 14jährigen Betha erträumte. Malte Stein erläutert in seiner umfangreichen Analyse12 diese Szene so: Träumend imaginiert Gabriel eine „Verwandlungsgeschichte“, in der er als Märchenheld Hans die „in eine Schlange verzauberte Prinzessin durch seinen Kuß erlöst“. So jedenfalls hat man die Szene bislang immer aufgefaßt, nicht weiter bekümmert darum, daß ja zumindest doch eines der dargestellten Geschehenselemente ins Schema einer „Erlösung“ nicht paßt: Just beim Erblicken ihres angeblichen Retters verfällt die Prinzessin in „Weh“-Rufe, womit sie unmittelbar vor ihrer Verwandlung ein deutliches Mißbehagen (wenn nicht gar Schrecken) zum Ausdruck bringt. Den Anlaß dazu geben offenkundig die grauen „Wängelein“, welche nicht etwa ihr selbst zuzuordnen sind – der „armen“ Schlange –, sondern dem Hans vor der Höhle, von dessen „aschegraue[m]“ Antlitz geküßt zu werden nach geläufiger Farbsymbolik kaum Gutes verheißen kann.

Und in der Tat, die Wirkung des Kusses ist „wunderlich“. Denn es erschöpft sich der Zauber nicht darin schon, aus dem Tier einen Menschen zu machen. Sobald man unterstellt, daß die geträumte „Prinzessin“ ein Abbild der von Gabriel kurz vorher erblickten Regine ist – wozu ihr „Mieder“ einer „Bauerndirne“ berechtigt –, läßt sich bei einem Vergleich der beiden Mädchenerscheinungen eine zweite Verwandlung erkennen: Regine, wie Gabriel sie vor seinem Traum auf sich zukommen sah, hatte zwei „blonde Zöpfe“ (335), die „Prinzessin“ im Traum dagegen trägt „aschblonde Zöpfe“. Im Übergang von der Real- zur Traumgestalt ist der „dicke“ (335) Haarschopf – in blondem Zustand ein Zeichen für Lebenskraft und sexuelle Potenz – aschfarben geworden, wofür als Ursache nur die Berührung der ebenso „aschegrauen“ Wangen in Frage kommt. Mit einer Art Todeskuß hat der „Hans im Märchen“ seine ihm ins Gesicht geschriebene Antivitalität auf sein „armes“ Objekt übertragen.

Während des kurzen Zusammenseins ändert sich Gabriels Wahrnehmung des Mädchens, das zunächst kindlich wirkt. Sie erschien ihm auf einmal so stolz und jungfräulich; er konnte die Augen nicht von ihr lassen, als sie in den Mondschein hinauswies und ihm die Wege zeigte, die er gehen sollte. Als Gabriel den Wald verlässt, sagt er: Gute Nacht; – – – wo find ich dich denn wieder?“

Nach Malte Steins psychoanalytischer Analyse13 hat Storm einen jungen Mann dargestellt, der zur Wahrung nicht etwa nur seines Selbstwertgefühls, sondern zur Aufrechterhaltung überhaupt seines Empfindens von Selbstidentität einer fortwährenden Beachtung und Spiegelung durch andere bedarf. Und weiter heißt es: Innerhalb der Traumwelt gelangt Gabriel an ein Objekt, welches ihm mit Umarmung und Augenkontakt wiederum Halt bietet, im Gegensatz zu der Kreuzotter aber keine Gefahr mehr darstellt. Der Verwandlungskuß seines geträumten Ich läßt aus der Schlange ein Mädchen werden, das in Angleichung an des Kußgebers „aschegraue“ Wangen „zwei aschblonde Zöpfe“ trägt. Durch den gefürchteten Kuß (als ein die vorherige Bedrohungslage umkehrendes Äquivalent zum Schlangenbiß) ist schlagartig hinweggezaubert, was auf konnotativer Ebene erotisch-sexuelle Signifikanz besaß – sowohl die Schlangengestalt der „verzauberten Prinzessin“ als auch die „dicke blonde“ Haarpracht der zuvor noch im Halbwachen registrierten Regine. Am Ende des Traumgeschehens blickt Hans alias Gabriel einem ätherisch anmutenden Wesen in die (himmel-) „blauen Augen“, dessen „junges Antlitz“ er über dem seinen engelsgleich „schweben“ sieht (336). Die intime Nähe ist nicht länger bedrohlich, nachdem es das Traum-Ich geschafft hat, aus der zum „Schlängelein“ verkleinerten Schlange – dem biblischen Geschöpf der Klugheit, der Versuchung und des Todes – eine „Prinzessin“ mit „marienfrommem Nimbus“ – eine regina coeli – zu machen.

Verstanden als Wunschphantasie, mit der sich das träumende Subjekt eine Konfliktlösung entwirft, reflektiert dieses Traumgeschehen den aktuellen Beziehungsbedarf des Protagonisten. Es deutet sich an, daß der nach einem Engel benannte Gelehrte und Dichter die ihm notwendige Beziehung dann aufrechterhalten, zulassen und nutzen kann, wenn seine Bezugsperson weder Sexualität noch Vergänglichkeit zu kennen scheint. Keine von Evas Erbinnen soll ihn anblicken und in den Armen halten, sondern ein Wesen, das wie eine Himmelsgestalt von der irdischen Generativität und Sterblichkeit – von „Hochzeit, Taufen und Todestagen“ (343) – ausgenommen bleibt.

In den die Erzählung abschließenden Gedicht unterstreicht Gabriel seine sexuelle Interesselosigkeit an dem Mädchen. Genau darauf hat Theodor Wagner mit seiner Bemerkung aus dem Gefühl der Liebe das der Freundschaft zu machen hingewiesen.

 

Im Modus des Konjunktivs wird ein Bild jenes Mädchens imaginiert, von dem sich Gabriel gerade verabschiedet hat. In der Novelle heißt es dort: Sie selber standen noch im Schatten; aber bei der Fülle des Lichtes, die draußen webte, konnte er ihre ganze Gestalt erkennen und jedes Regen ihrer Gliedmaßen. […] Sie erschien ihm auf einmal so stolz und jungfräulich; er konnte die Augen nicht von ihr lassen, als sie in den Mondschein hinauswies und ihm die Wege zeigte, die er gehen sollte. […] Er verlor sich stumm in ihren Augen; eine Nachtigall schlug plötzlich neben ihnen aus den Büschen, die Blätter säuselten. Sie stand ihm gegenüber, ohne Regung, kaum belebt von lindem Atmen; nur in ihren Augen, im tiefsten Grunde rührte sich die Seele; er wußte nicht, was so ihn anschaute. […] Er küßte sie. »Gute Nacht, Regine!« Sie löste ihre Hände von seinem Halse. Dann schritt er in die Mondnacht hinaus; und als er nach einer Weile am Ende der Wiese zurückblickte, da war es ihm, als stehe die schöne kindliche Gestalt noch immer an der Stelle, wo er von ihr gegangen, unbeweglich im schwärzesten Tore des Waldes.14

Die Szene wird noch einmal mit den Attributen Mondesmärchenpracht, Waldesschatten und Sommernacht idyllisiert. Eine mögliche Rückkehr des lyrischen Ichs aber wie im Träume wäre sinnlos, denn Silvia würde Niemals hinunter in die Welt schreiten. Wagner hat dies so gelesen, als ob Storm sich beim Schluss Ihrer Liebesgeschichte ganz nach meinen Grundsätzen genügsam darüber ausgesprochen habe. Wahrscheinlich hat Storm in seinem nicht erhaltenen Brief vom Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft gesprochen, was Wagner so verstanden hat, dass sein Freund aus dem Gefühl der Liebe das der Freundschaft machen wollte.

 

Dass Storm bei seinen weiteren literarischen Erzählexperimenten nicht bereit war, dem Rat des Freundes zu folgen, zeigt eine Novelle, die er ein paar Jahre später mit dem Titel Im Saal im „Volksbuch auf das Jahr 1849“ veröffentlicht. In ihr hat Storm seine Erlebnisse mit Bertha literarisch verarbeitet, wie folgende Auszüge dokumentieren15:

Am Nachmittag war Kindtaufe gewesen; nun war es gegen Abend. Die Eltern des Täuflings saßen mit den Gästen im geräumigen Saal, unter ihnen die Großmutter des Mannes; die andern waren ebenfalls nahe Verwandte, junge und alte, die Großmutter aber war ein ganzes Geschlecht älter, als die ältesten von diesen. Das Kind war nach ihr »Barbara« getauft worden; doch hatte es auch noch einen schöneren Namen erhalten, denn Barbara allein klang doch gar zu altfränkisch für das hübsche kleine Kind. Dennoch sollte es mit diesem Namen gerufen werden; so wollten es beide Eltern, wieviel auch die Freunde dagegen einzuwenden hatten. Die alte Großmutter aber erfuhr nichts davon, dass die Brauchbarkeit ihres langbewährten Namens in Zweifel gezogen war. […] Der Prediger hatte nicht lange nach Verrichtung seines Amtes den Familienkreis sich selbst überlassen; nun wurden alte, liebe, oft erzählte Geschichten hervorgeholt und nicht zum letzten Male wiedererzählt. […]

„So war es einmal an einem Augustnachmittage, als dein Großvater die kleine Gartentreppe herabkam; aber dazumalen war er noch weit vom Großvater entfernt. – […] In der Schaukel vor der Laube saß ein achtjähriges Mädchen; sie hatte ein Bilderbuch auf dem Schoß, worin sie eifrig las; die klaren goldnen Locken hingen ihr über das heiße Gesichtchen herab, der Sonnenschein lag brennend darauf. ‚Wie heißt du?ʼ fragte der junge Mann. Sie schüttelte das Haar zurück und sagte: ‚Barbara.ʼ ‚nimm dich in acht, Barbara; deine Locken schmelzen ja in der Sonne.ʼ Die Kleine fuhr mit der Hand über das heiße Haar, der junge Mann lächelte – und es war ein sehr sanftes Lächeln. – – ‚Es hat nicht Notʼ, sagte er; ‚komm, wir wollen schaukeln.ʼ Sie sprang heraus: ‚Wart, ich muss erst mein Buch verwahren.ʼ Dann brachte sie es in die Laube. Als sie wiederkam, wollte er sie hineinheben. ‚Neinʼ, sagte sie, ‚ich kann ganz allein.ʼ Dann stellte sie sich auf das Schaukelbrett und rief: ‚Nur zu!ʼ – Und nun zog dein Großvater, dass ihm der Haarbeutel bald rechts, bald links um die Schultern tanzte; die Schaukel mit dem kleinen Mädchen ging im Sonnenschein auf und nieder, die klaren Locken wehten ihr frei von den Schläfen. Und immer ging es ihr nicht hoch genug. Als aber die Schaukel rauschend in die Lindenzweige flog, fuhren die Vögel zu beiden Seiten aus den Spalieren, dass die überreifen Aprikosen auf die Erde herabrollten. ‚Was war das?ʼ sagte er und hielt die Schaukel an. Sie lachte, wie er so fragen könne. ‚Das war der Iritsch [Hänfling]ʼ, sagte sie, ‚er ist sonst gar nicht so bange.ʼ Er hob sie aus der Schaukel, und sie gingen zu den Spalieren; da lagen die dunkelgelben Früchte zwischen dem Gesträuch. ‚Dein Iritsch hat dich traktiert!ʼ sagte er. Sie schüttelte mit dem Kopf und legte eine schöne Aprikose in seine Hand. ‚Dich!ʼ sagte sie leise. Nun kam dein Urgroßvater wieder in den Garten zurück. ‚Nehm Er sich in achtʼ, sagte er lächelnd. ‚Er wird sie sonst nicht wieder los.ʼ Dann sprach er von Geschäftssachen, und beide gingen ins Haus. Am Abend durfte die kleine Barbara mit zu Tisch sitzen; der junge freundliche Mann hatte für sie gebeten. – So ganz, wie sie es gewünscht hatte, kam es freilich nicht; denn der Gast saß oben an ihres Vaters Seite; sie aber war nur noch ein kleines Mädchen, und musste ganz unten bei dem allerjüngsten Schreiber sitzen. Darum war sie auch so bald mit dem Essen fertig; dann stand sie auf und schlich sich an den Stuhl ihres Vaters. Der aber sprach mit dem jungen Mann so eifrig über Konto und Diskonto, dass dieser für die kleine Barbara gar keine Augen hatte. – Ja, ja, es ist achtzig Jahre her; aber die alte Großmutter denkt es noch wohl, wie die kleine Barbara damals recht sehr ungeduldig wurde und auf ihren guten Vater gar nicht zum besten zu sprechen war. Die Uhr schlug zehn, und nun musste sie gute Nacht sagen. Als sie zu deinem Großvater kam, fragte er sie: ‚Schaukeln wir morgen?ʼ, und die kleine Barbara wurde wieder ganz vergnügt. – ‚Er ist ja ein alter Kindernarr, Er!ʼ sagte der Urgroßvater; aber eigentlich war er selbst recht unvernünftig in sein kleines Mädchen verliebt. Am andern Tage gegen Abend reiste dein Großvater fort. Dann gingen acht Jahre hin. Die kleine Barbara stand oft zur Winterzeit an der Glastür und hauchte die gefrornen Scheiben an; dann sah sie durch das Guckloch in den beschneiten Garten hinab und dachte an den schönen Sommer, an die glänzenden Blätter und an den warmen Sonnenschein, an den Iritsch, der immer in den Spalieren nistete, und wie einmal die reifen Aprikosen zur Erde gerollt waren, und dann dachte sie an einen Sommertag und zuletzt immer nur an diesen einen Sommertag, wenn sie an den Sommer dachte. – So gingen die Jahre hin; die kleine Barbara war nun doppelt so alt und eigentlich gar nicht mehr die kleine Barbara; aber der eine Sommertag stand noch immer als ein heller Punkt in ihrer Erinnerung. – Dann war er endlich eines Tages wirklich wieder da.“

„Wer?“ fragte lächelnd der Enkel, „der Sommertag?“ „Ja“, sagte die Großmutter, „ja, dein Großvater. Es war ein rechter Sommertag.“ „Und dann?“ fragte er wieder. „Dann“, sagte die Großmutter, „gab es ein Brautpaar, und die kleine Barbara wurde deine Großmutter, wie sie hier unter euch sitzt und die alten Geschichten erzählt.“

 

So also stellte sich Theodor in den Jahren um 1840 seine Zukunft mit Bertha vor, als er wieder in Kiel den zweiten Teil seines Jura-Studiums absolvierte. Es ist dieser Kontrast zwischen zwei entgegengesetzten Bildern von Bertha, die der junge Poet imaginierte, das des unschuldigen Kindes und das der reifen Jungfrau, die er begehren kann.

In zeitlicher Nähe zu dieser Novelle findet sich im Kalendarium zum Monat Mai noch ein Gedicht, das ebenfalls einen Bezug zu dem Motiv des Erwachsenwerdens und der Wiederholung der Kindheit in den nächsten Generationen wie in der Novelle „Im Saal“ aufweist.

 

Die Kränze, die du dir als Kind gebunden,
Sie sind verwelkt und längst zu Staub verschwunden;
Doch blühn wie damals noch Jasmin und Flieder
Und Kinder binden deine Kränze wieder.
16

  Gedicht Storms im Volksbuchs 1849

 

Anmerkungen


1 Handschrift im StA, Husum.

2 „Ein grünes Blatt“. Erstdruck in Argo. Belletristisches Jahrbuch für 1854, hrsg. von Theodor Fontane und Franz Kugler, Dessau 1854, S. 294-307.

3 LL 1, S. 336, 337 und 346.

4 „Regine , LL 1, S. 18; Erstdruck mit der Überschrift „Silvia“ in: Gedichte 1852, S. 77. Das Gedicht hat Storm in seiner Handschrift mit  „1. Novemb. 1850“ datiert.

5 Briefe Brinkmann, S. 29.

6 Vergl. den Kommentar von Dieter Lohmeier in LL 1, S. 1041; die Handschrift ist heute nicht mehr nachweisbar.

7 Vergl. Wapnewski 1997, S. 184.

8 Die Kritik am Schluss der Novelle, in dem Theodor Fontane und Eduard Mörike einen Widerspruch zu erkennen glaubten, erklärt sich wohl dadurch, dass Storm im Jahre 1853 bei seiner Bearbeitung seines Manuskripts für den Druck in der Argo die ursprüngliche Erzählung von der Begegnung zweier Menschen in einer Waldidylle in einen konkreten historisch-politischen Rahmen einbettete. Vergl. den Kommentar von Dieter Lohmeier in LL 1, S. 1042-1049.

9 LL 1, S. 333.

10 LL 1, S. 335f.

11 Wapnewski 1997, S. 198. Nach brieflicher Auskunft des Märchenforschers Walter Scherf ist Storms Motiv sonst nirgendwo belegt.

12 Stein 2006, S. 95f.

13 S. 129 und passim.

14 LL1, S. 346f.

15 Theodor Storm: Im Saal. LL1, S. 288ff.

16 Volksbuchs auf das Jahr 1849 im Kalendarium für den Monat Mai mit der Unterschrift „Th. St.“