Einige meiner kleinen poetischen Arbeiten – „Neue Pariser Modeblätter“ und „Album der Boudoirs“

 

Zum Weihnachtsfest 1836 fasste Theodor in Lübeck 17 Gedichte zu einem Heft zusammen, mit dem er seinen Eltern Rechenschaft über seine bisherige Poesie geben wollte. Aber Storm strebte schon damals höher hinaus. Am 23. Januar 1837 wandte er sich an Adelbert von Chamisso (1781-1838), der den „Deutschen Musenalmanach“ herausgab, in dem Emanuel Geibel und sein Freund Ferdinand Röse bereits publiziert hatten1: Unabgeschreckt durch die Gutzkowsche Rezension des diesjährigen Musenalmanachs, wage ich es, Ew. Wohlgeboren einige meiner kleinen poetischen Arbeiten vorzulegen, mit der Bitte, falls selbige nicht unwert erachtet werden sollten, sie als Beitrag zum Deutschen Musenalmanach anzunehmen.

 

Brief Storms an Chamisso

 

Unterschrieben ist der Brief: Mit Hochachtung TWStorm. Der Zeit Schüler des Katharineums in Lübeck, von Ostern stud. jur. zu Kiel. Chamisso veröffentlichte keines dieser Gedichte, unter denen sich die Ballade „Der Bau der Marienkirche zu Lübeck“ befand.

 

Der Bau der Kirche zu St Marien in Lübeck2
                                 –
Legende
 

Zu Lübeck , der mächtigen Hanse,
da ward eine Kirchʼ erbaut
Der heiligen Jungfrau Mariʼn,
Der keuschen Himmelsbraut.

Und als nun der Bau begonnen,
Da hatʼ es der Teufel gesehn,
Der meinte, an selbiger Stelle
Ein Weinhaus würde erstehn.

Draus hat er manche Seele
Sich abzuholen gedacht,
Und drob das Werk gefördert
Ohnʼ
Rasten Tag und Nacht.

Die Maurer und der Teufel
Die haben zusammen gebaut,
Doch hat ihn bei der Arbeit
Kein menschlich Aug geschaut.

Drum, wie sich die Kellen auch rührten
Es mochte keiner verstehn,
Wie in so kurzen Tagen
So großes Werk geschehn.

Und als sich die Fenster wölben,
Der Teufel grinset und lacht
Dass man in einer Schenken
So tausende Scheiben macht.

Doch als sich die Bogen wölben,
Da hat es der Teufel erschaut,
Dass man zu G
ottes Ehren
Hier eine Kirche baut. –

Da fuhr er gar wild von hinnen,
Holt einen Fels zur Hand,
Und flattert hoch in Lüften
Von Männiglich erkannt.

Schon holt er aus zum Wurfe
Aufs heilige Prachtgebäu
Da tritt ein Maurergeselle
Hervor gar keck und frei:

„Herr Teufel, so lasst Euch raten,
Verrenket den Arm Euch nicht,
Sʼist besser, dass man im Guten
Mitsammen den Handel bespricht!“

„Wohl, heulte der Teufel, so bauet
Ein Weinhaus nebenan,
Dass ich mein Werken und Mühen
Nicht schier umsonst getan. –

Der weise Rath von Lübeck
Mitsamt der hohen Klerisei,
Sie fanden, dass des Ratens
Die Stunde jetzt nicht sei.

Und als sieʼs ihm gelobet,
So schleudert er den Stein,
Auf dass sie sein gedächten
Hart in den Grund hinein.

Und als er darauf entfahren,
So ward noch manches Jahr
Gewerkt, bis zu St. Mariʼn
die Kirch vollendet war.

Drauf hat man dem Teufel zu Willen
Der Ratsweinkeller erbaut,
Wie man ihn noch heutzutage
Nicht weit von der Kirchʼ erschaut.

Noch jetzt für Kirch und Keller
Gar mancher gute Christ
In seines Herzens Grunde
Dem Teufel dankbar ist.

 

Die Sage hat Storm in der 1834 erschienenen Sammlung von Heinrich Asmus mit dem Titel „Leitfaden zur Lübeckischen Geschichte“3 gefunden. Seine Bearbeitung orientiert sich inhaltlich bis ins Detail an dem ebenfalls gereimten Vorbild, übertrifft dieses jedoch formal erheblich, da Storms Gedicht dem Niveau der damals blühenden Balladendichtung entspricht.

Storms Hinweis auf die Gutzkowsche Rezension bezieht sich auf einen Beitrag im Kapitel „Dichter im Reime“ in Gutzkows „Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur“4, in dem es heißt: Ärmlicher als je fiel im letzten Jahre der von Schwab und Chamisso besorgte Musenalmanach aus. Vögel genug im deutschen Dichterwalde, aber diesmal so viel Spatzen, dass man auf die Vermutung kömmt, die zählbaren Nachtigallen suchten nach einem mittelmäßigen Hintergrund für Klänge, welche auch an ihnen diesmal wie aus der Mause gekommen sind.

Storm war nicht gut beraten, als er sich ausgerechnet durch seinen unverblümten Hinweis auf die harsche Kritik des nur sechs Jahre älteren Gutzkow (1811–1878) bei Chamisso empfahl, denn dessen Poesie wird von Gutzkow mit dem Satz abqualifiziert: Chamisso rührt, wenn er sein Alter erwähnt […].

Vielleicht hat Chamisso aber Storms Ballade auch deshalb abgelehnt, weil sie nicht dem Niveau seiner eigenen Sagenballaden entsprach, wie Winfried Freund vermutet5: Sprach- und Versstil wirken stellenweise unbeholfen, die an und für sich komische Situation ist übermäßig gedehnt und die Schlusspointe mit dem Hinweis auf die, denen selbst der Teufel noch dient, wenn sie getreu dem Turnerwahlspruch Jahns nur „fröhlich, fromm und frei“ sind, recht bieder und wohl auch ein wenig läppisch. Überhaupt erscheint der anspruchslose motivliche Vorwurf allzu harmlos, vor allem, wenn man die Sagenballaden Uhlands und Chamissos mit ihren gezielt sozialkritischen Tönen zum Vergleich heranzieht.

Storm hat als Primaner in Lübeck nicht nur die bedeutenden schöngeistigen Werke von Goethe, Bürger, Heine und Eichendorff gelesen, sondern hat – wie seine Lektüre der Kritiken Gutzkows zeigt – auch am aktuellen literarischen Leben teilgenommen. Er nahm auf diese Weise bereits früh politische Auseinandersetzungen zur Kenntnis, die bis zur deutschen Revolution der Jahre 1848/49 neben den Fragen der Ästhetik Gesprächsstoff unter Schülern und Studenten waren.

Dem jungen Dichter ist es erst ein Jahr später während seines Studiums in Kiel gelungen, erneut ein Publikationsorgan zu finden.

 

Kolorierter Kupferstich aus „Neue Pariser Modeblätter“

 

Die Schriftstellerin und Publizistin Amalie Schoppe (1791-1858) veröffentlichte 1838 in den von ihr redigierten „Neue(n) Pariser Modeblätter(n)“ fünf Gedichte aus den Jahren 1836 und 1837: „Walpurgis-Nacht“6, „Heimat“7, „Geistesgruß“8, „Lockenköpfchen“9 und „Dahin!“10 Damit konnte sich Storm neben seinem Landsmann Friedrich Hebbel gedruckt sehen, von dem Amalie Schoppe ebenfalls Gedichte in ihren Publikationen publizierte.

 

„Walpurgis-Nacht“ in den Neuen Pariser Modelblättern 1838

 

Während die Modeblätter seit Beginn des 19. Jahrhunderts ausschließlich von einem weiblichen Publikum gelesen wurden, waren die Almanache eine literarische Publikationsform, die sich um 1770 in Deutschland etablierte und auch noch im 19. Jahrhundert bei Lesern beiderlei Geschlechts sehr beliebt war. Sie boten jungen Autoren Gelegenheit, sich mit ihren poetischen Versuchen einem breiteren Publikum vorzustellen.

Der Student aus Kiel konnte in dem von August Lewald herausgegebenen Musenalmanach Album der Boudoirs sechs weitere Gedichte veröffentlichen und zwar in den Jahrgängen 1840 „Im Golde, im Herzen“11, „Die Möwe und mein Herz“12 und „Auf Wiedersehen“13; 1841 „Goldriepel“14, „Morgenwanderung“15 und „Hüben, drüben“16 sowie 1842 „Repos dʼamour“17. Ein Boudoir bezeichnete ursprünglich einen kleinen, elegant eingerichteten Raum, in den sich die Dame des Hauses zurückziehen konnte. Später bezeichnete das Boudoir allgemein das Ankleidezimmer.

 

Umschlag zum Lyrischen Album 1842

 

Repos dʼamour

(Etude par Henselt.)

Lass ruhʼn die Hände! Gib Dich mir!
Schon Dämmer webet durchʼs Gemach;
Nur Deiner Augen glänzendʼ Licht
Ist über meinem Haupte wach.

O lass mich ruhʼn in Deinem Arm!
Fernhin verstummt der laute Tag;
Ich hör allein Dein flüsternd Wort
Und Deines Herzens lautern Schlag.

Lass schauern Deiner Blicke Graus
Durch meine tiefste Seele hin!
O gib Dich mir, gib mir im Kuss,
Dein ganzes Leben gib mir hin!

Und alle bange, selʼge Lust,
Was in dir lacht und weint und glüht,
Gib mir der Träne süßen Schmerz,
Die brennend durch die Wimper sprüht. ‒

So bist Du mein, ob auch der Tod
Zu früh Dein blaues Auge bricht ‒
Du lebst in meiner tiefsten Brust,
Ein ewigʼ, liebliches Gedicht.

 

Wie in diesem bitteren Liebesgedichte sind auch die drei anderen seiner Veröffentlichung der Liebe zu Bertha verpflichtet. Repos dʼamour bedeutet Ruhe der Liebe, Liebesseligkeit. Die fünf vierzeiligen Strophen bestehen aus vierhebigen Jamben, das regelmäßige Reimschema ist abcb. Der Text ist ein liedhaftes Gedicht in der Tradition der Lyrik Mörikes, in dem Storm sich bemühte, seinem unmittelbaren Empfinden einen dichterischen Ausdruck zu verleihen. Dabei konnte er die Situation, die diese Stimmung hervorgerufen hatte, nur imaginieren.

 

Adolph Henselt: Études caractéristiques

 

Der in Klammern als Untertitel gesetzte Hinweis étude p<ar> Henselt verweis auf Musikalien, die Storm in zeitlicher Nähe zur Niederschrift am Klavier gespielt haben muss. Es handelt sich um die Nr. 4 der 12 Études caractéristiques, Op. 2 des Pianisten und Musikpädagogen Adolph Henselt (1814-1889)18 mit dem Titel „Duo. Repos d'Amour“. Storm hatte sich die Noten wohl in Kiel beschafft und beschäftigte sich zu diesem Zeitpunkt mit den Etüden dieses Komponisten. Dabei handelt es sich „Studien“, die dem Musizierenden zu größeren Fertigkeiten auf seinem Instrument verhelfen sollen. Im Mittelpunkt stehen kurze spieltechnische Probleme, die häufig wiederholt werden und in Sequenzen harmonisch strukturiert werden und gelegentlich auch die Tonarten wechseln. In den 1830er Jahren entwickelte sich aus den Etüden eine eigenständige Musikform, die nicht nur dem Studium besonderer Fertigkeiten diente, sondern darüber hinaus als konzertantes Werk einem Publikum zu Gehör gebracht wurde.

Das vierte Stück „Duo (Repos d'Amour)“ ist trotz des Übecharakters einer Etüde ein in sich stimmiges Lied ohne Worte, das einen fortgeschrittenen Pianisten fordert.19 Aus dem Gegenstand der pianistischen Technikübung wird eine musikalische Idee, die nicht mechanisch, sondern – bei knapper Form von 44 Takten – künstlerisch-kompositorisch entwickelt wird.

Teil A (T. 1-18): T. 1-4 Melodie in der Mittelstimme, beginnend auf Zählzeit 2 mit einem Sextensprung nach oben, anschließend in einer zweitaktigen Phrase schrittweise in regelmäßigen Viertelnoten abfallend (auf die Gestaltung dieser Melodie bezieht sich die Spielanweisung des Komponisten: molto cantabile e portando). Dazwischen (jeweils auf dem zweiten Achtel eines Metrumschlages) in der rechten begleitende Akkorde, eingeleitet von halben Noten im Bass (T. 1 und 3). Harmonisch werden die Grundfunktionen Tonika (B-Dur) und Dominante (F) berührt.

T. 5-8 Wiederholung der Takte 1-4, allerdings bleiben die Basstöne jetzt als klangliches Fundament liegen.

T. 9-18 Die Grundkonzeption von Bass, Begleitakkorden oben und Melodie in der Mittelstimme bleibt gleich, allerding wechselt Henselt jetzt taktweise die Tonart (unter Einbeziehung von Paralleltonarten und Zwischendominanten) und der Bass gewinnt melodische Eigenständigkeit. Pianistisch steigert sich hier die Schwierigkeit dieser Etüde durch die Frage, wie man die Melodie, deren Töne wechselnd von der linken oder rechten Hand gespielt werden müssen, sanglich („molto cantabile!“) gestalten kann.

Teil B (T. 19-36): Dieses pianistische Problem wird ab T. 19 durch die als Oberstimme hinzutretende zweite Melodiestimme (Duo?) potenziert. Die hohe Melodiestimme ist rhythmisch variabler als die Mittelstimme, hält sich aber in der Phrasierung an die vorgegebenen harmonischen Wechsel. Die übrigen Stimmen wiederholen die Takt 1-18 (bis auf Varianten im Übergangstakt 36).

Teil C (T. 37-44): Das Werk schließt mit einer achttaktigen Coda in derselben stimmlichen Konzeption und ruft in der Art einer Reminiszenz einige harmonische Wendungen des jeweils zweiten Abschnitts der Teile A und B auf, um in einer Kadenz wieder in B-Dur zu enden. Die letzten Takte tragen melodisch-rhythmisch sehr schematische Züge.

Das Werk gestaltet ein Liebeslied (zunächst ein-, dann zweistimmig) in einer sehr konventionellen kompositorischen Formsprache, ist aber aufgrund der „dramaturgischen“ Entwicklung des emotionalen Ausdrucks für die Aufführung in einem Konzert (aufgrund der Kürze eher in einem Hauskonzert) gut geeignet; erst der Einsatz dieser Komposition als Konzertstück lässt „den eigentlichen Kunstcharakter“ erkennen. Darauf zielt ja auch die Namensgebung durch den Komponisten.

 

Duo (Repos d'Amour)

 

Storm hat sich von der Stimmung, die in ihm beim Einüben der Etüde durch dieses Lied ohne Worte entstanden ist, zu Vorstellungen anregen lassen, in denen er seine Sehnsucht nach einer Vereinigung mit Bertha imaginierte. Diese stimmungsgeladenen Vorstellungen formte er zu einem liedhaften Gedicht. Das lyrische Ich beschwört eine Liebesszene, in der bei einbrechender Dunkelheit der Liebhaber im Arm der Geliebten ruht, ihre zunehmende Erregung spürt, sie auffordert, ihn zu küssen und sich ihm hinzugeben.

Zunächst fällt auf, dass in allen Strophen nur das lyrische Ich spricht. Die Abendstimmung der ersten beiden Strophen O lass mich ruhʼn in Deinem Arm! und Schon Dämmer webet durchʼs Gemach bilden einen Kontrast zum laute(n) Tag, der räumlich und zeitlich von dem Gemach geschieden ist, in dem die intime Szene spielt.

Direkt in der ersten Zeile steht die Aufforderung an das Du: Gib Dich mir! Die angesprochene Geliebte kommt aber im ganzen Lied nicht zu Wort. Das Ich beschreibt nur das von ihm beobachtete Verhalten und interpretiert es in seinem Sinne als eine zunehmend erregte Erwiderung seines Verlangens. In der dritten und vierten Strophe fordert das Ich seine Geliebte auf, sich mit ihm zu vereinigen. Zunächst heißt es: O gib Dich mir, gib mir im Kuss,/ Dein ganzes Leben gib mir hin!, danach fordert es alle bange, selʼge Lust von der Geliebten.

Im Zentrum des Gedichts steht die Aufforderung Lass schauern Deiner Blicke Graus/ Durch meine tiefste Seele hin! Graus meint die mit einem Schaudern verbundene Empfindung der Furcht angesichts von etwas Unheimlichen. Etwas in der Person des Liebhabers ist dem Mädchen nicht heimlich, nicht vertraut, noch unbekannt. Das Ich unterstellt der Geliebten, in deren Arm und an deren Busen es ruhen möchte, eine Furcht vor dem, was solche Empfindungen hervorruft, eine Art von Liebespein. Aber nicht aus verschmähter Liebe, sondern in der Bedeutung, die Goethe mit seiner Wortschöpfung Faust vor der Liebesnacht mit Gretchen in den Mund legt: Was faßt mich für ein Wonnegraus! Hier möcht ich volle Stunden säumen. Denn das Ich deutet Dein flüsternd Wort als Liebesäußerung und den lautern Schlag ihres Herzens als zunehmende Erregung.

Durch die Verbindung mit einem genitivischen Attribut und dem Possessivpronomen sowie der Aufforderung, in seine „tiefste Seele“ zu blicken, fordert der Liebhaber das Mädchen auf, ihre Furcht und ihre kindliche Abscheu vor seinem Begehren zu überwinden und alles, was in ihr lacht und weint und glüht, ihre bange, selʼge Lust dem Geliebten hinzugeben.

Der biographische Kontext legt nahe, dieses Gedicht als ein Liebeswerben, als eine Aufforderung an Bertha zu lesen, sich Theodor körperlich hinzugeben. Die Hingabe von ihrer Seite bezeichnet der Dichter als bange, selʼge Lust; mit dem süßen Schmerz ist die negative Seite der Sinnlichkeit gemeint, die auch nach Überwindung ihrer Abscheu vor der männlichen Begierde in der Hingabe ihres ganzen Lebens noch nachklingt. Das gesteigerte Empfinden der Lust umfasst Lachen und Weinen und ist mit Schmerzen verbunden.

 

„Repos dʼamour“ im Lyrischen Album 1842

 

Deutlich wird in diesen frühen Publikationen, dass Storm von Anfang an seine Gedichte an Bertha nicht als bloße Gelegenheitsverse betrachtete. Er schrieb die meisten seiner Texte in der Absicht, sie zu veröffentlichen, und betrachtete sie als Beiträge zur zeitgenössischen Kunst. Seine Darstellung von realen Wahrnehmungen und Gefühlen waren nicht nur an sein geliebtes Mädchen gerichtet, sondern auch an eine literarische Öffentlichkeit. Das zeigt sich bereits darin, dass er mehrfach an Freunde und Bekannte Abschriften seiner Liebesgedichte verschenkt hat.

Selbst die unmittelbar für Bertha bestimmten Erklärungen, Klagen und Bitten sowie seine intimen Imaginationen des geliebten Kindes hat er immer auch als Kunstwerke angesehen, die durch die Veröffentlichung vom konkreten Erlebnis abgelöst und poetisch verallgemeinert werden sollten. So enthält die fünfte Strophe mit der Vision vom Tod des Mädchens ein Bild von der Vergänglichkeit des Lebens, die aber durch die ewige Liebe zumindest in der Poesie überwunden werden kann.

Storm hat dieses Gedicht mit geringfügigen Veränderungen im „Liederbuch dreier Freunde“ veröffentlicht20; nach seiner Verlobung mit Constanze trug er zwei Strophen nach, mit denen er die fünfte Strophe des ursprünglichen Gedichts ersetze. Hieß er dort: So bist du mein – ob auch der Tod/ Zu früh dein blaues Auge bricht,/ Du lebst in meiner tiefsten Brust/ Ein ewig liebliches Gedicht. so lesen wir jetzt die folgenden Strophen21:

 

Bis dass auch dich, geliebtes Herz,
Der holde Wahnsinn sanft bezwingt,
Und deines Lebens zarte Flut
Unhaltbar mir entgegendringt.

Bis sich vergessen Mund auf Mund,
Bis Aug' in Auge tief verirrt
Und du und ich und ich und du
Sich träumerisch in Eins verwirrt.

 

Nun wird die ursprünglich nur imaginierte Stimmung durch die unmittelbare Erfahrung der sexuellen Hingabe einer jungen Frau ersetzt, die Theodor durch sein Verhältnis mit Constanze gewonnen hatte und die er als Der holde Wahnsinn beschreibt. In seinem Brief an Constanze vom 18. Juni 1846 heißt es: Hör Du, Du weißt ich kann die Kleider eigentlich nicht leiden; streif sie ab, die braune Lüge, und lass mich an Deiner braunen kühlen Brust liegen – bin ich nicht gar zu verliebt in Dich? zürnst Du oder darf ichs sein? – Meine süße geliebte reizende Frau, lass mich Dich küssen; aber lange, ganz lange, bis dass auch Dich, geliebtes Herz, der holde Wahnsinn sanft bezwinget und Deines Lebens zarte Flut unhaltbar mir entgegendränget.22

Was in der Endphase der einseitigen Liebe zu Bertha noch als Ein ewig liebliches Gedicht umschrieben wurde, wird nun zur Darstellung der körperlichen Vereinigung zweier Liebenden in poetischen Bildern: Und du und ich und ich und du/ Sich träumerisch in Eins verwirrt.

 

Durch die freundschaftliche Verbindung mit Leonhard Biernatzki23 eröffnete sich für Storm, der seit 1843 in seiner Vaterstadt Husum eine Anwaltskanzlei betrieb, erst vier Jahre später ein Forum, das er in den Folgejahren zur Veröffentlichung von Gedichten und Erzählungen nutzte und dadurch in den Herzogtümern Schleswig und Holstein bekannt wurde. Biernatzki hatte die literarische Potenz des noch wenig bekannten Dichters erkannt, und er wurde in den nächsten sechs Jahren wichtigster Autor dieser Publikationsreihe. Storm hat für die Jahrgänge 1844–1851 des „Volksbuchs“24 insgesamt mehr als zwanzig Gedichte beigetragen; außerdem schickte er an Biernatzki eine Reihe von Sagen sowie seine ersten längeren Erzählungen „Marthe und ihre Uhr“, „Im Saal“, „Immensee“ und „Stein und Rose“ (später „Hinzelmeier“). In den Jahrgängen 1846-1851 finden wir jeweils kleinere Beiträge historischen Inhalts, die unter Sammelüberschriften ohne Autorennamen als Mitgetheilt bezeichnet sind sowie neben den Gedichten auch eine Reihe von plattdeutschen Versen und Sinnsprüchen, die ohne Verfasserangabe abgedruckt wurden.

 

Anmerkungen


1 Die Handschrift befindet sich im Chamisso-Nachlass der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

2 Hier nach der Handschrift in MG, S. 56–59 mit dem Hinweis 4 Nov. 1836. 1845 hat Storm eine veränderte Fassung für das „Volksbuch 1846“ hergestellt und die Ballade dort auf S. 111–113 mit der Datierung Lübeck 1837 veröffentlicht.

3 Asmus 1834.

4 Bd. 1, Frankfurt am Main 1836, S. 143–146

5 Freund 2000, S. 241.

6 Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 20, Sp. 305.

7 Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 21, Sp. 327f.

8 Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 22, Sp. 341.

9 Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 26, Sp. 409-411.

10 Neue Pariser Modeblätter 12.1838, Nr. 36, S. [sic] 493.

11 Album der Boudoirs 1840, S. 69f.

12 Album der Boudoirs 1840, S. 70.

13 Album der Boudoirs 1840, S. 102.

14 Lyrisches Album 1841, S. 30-32. Wieder in: Die Union. Ein Original-Blatt für die gebildete Lebenswelt, Bremen 2. Jg. 1842, Nr. 76 vom 24.9.1842.

15 Lyrisches Album 1841, S. 133f.

16 Lyrisches Album 1841, S. 134f.

17 Lyrisches Album 1842, S. 13f.

18 Douze Etudes caractéristiques de Concert pour le Pianoforte composées par Adolphe Henselt. Leipzig, chez Fréderic Hofmeister [um 1838]. Op.2, № 4: Duo. Repos d'Amour.

19 Die folgende Analyse verdanke ich dem Musikwissenschaftler Ralf Kukowski aus Husum.

20 LdF, S. 128.

21 LL 1, S. 218.

22 Brautbriefe Band 2, S. 326.

23 Karl Leonhard Biernatzki (1815-1899) war Theologe, Schriftsteller und Publizist, seit Mai 1841 Rektor der Schule in Friedrichstadt. Als Herausgeber des „Volksbuchs für die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“ (erschienen 1843-1850 für die Jahre 1844-1851) verfasste er geschichtliche und kulturhistorische Beiträge. Mit den Volksbüchern schuf Biernatzki ein regionales, auf den deutsch- und friesischsprachigen Kulturraum beschränktes Forum für belletristische und landesgeschichtliche Beiträge mit nationaldeutscher Ausrichtung. Bedeutender Mitarbeiter war Theodor Storm, der in den Volksbüchern über 40 Gedichte, eine Reihe von Schwänken und Sagen sowie vier Erzählungen, darunter die erste Fassung von „Immensee“, veröffentlichte, ohne sich in seinen Beiträgen durch die pietistischen Tendenzen des Herausgebers beeinflussen zu lassen. Wegen seiner nationalen Orientierung wurde Biernatzki 1850 von der dänischen Regierung entlassen.

24 Vergl. Eversberg 2017b, S. 263f.