Mädchen im Mondlicht ‒ Tändeleien im Kieler Sommer 1841

 

Am 20. August 1841 notierte Storm ein Gedicht in seine Sammelhandschrift:

 

Da stehn wir drei Tänzer im Kreise herum1
Um meine schwarzäugigte Muhme;
Verteilen soll sie nach Wert und Gelüst
Den Korb, den Ring und die Blume

„Und lässt du dir raten, und machst du es recht,
Und lässt du dir raten, Herzmuhme, –
Gib dem Narren den Korb, dem Philister den Ring
Und mir, Herzmädel, die Blume!“

 

   Storms Gedicht „Da stehn wir drei Tänzer“ in der Sammelhandschrift „Meine Gedichte“

 

Nach seiner Rückkehr aus Berlin wohnte er seit Beginn des Wintersemesters 1839/40 in der Flämischen Straße 12 bei Bäcker Andersen. Hier lernte er die Brüder Theodor und Tycho Mommsen kennen und freundete sich vor allem mit Theodor Mommsen an, der vom Sommersemester 1841 bis Herbst 1843 mit Storm das Logis teilte.

Noch einmal griff der Student der Rechte bei der Konzeption eines Gedichts auf Gottfried August Bürger zurück, dessen Lyrik ihn drei Jahre zuvor im letzten Jahr seiner Lübecker Schulzeit bereits angeregt hatte. Und auch diesmal ist es das Versepos „Die Königin von Golkonde“, aus dem Storm Motive für seine Tändelei schöpft. Der jugendliche Held verführt dort im Alter von sechzehn Jahren die fünfzehnjährige Aline und schwängert das Mädchen. Später erzählt sie ihm ihre Lebensgeschichte, wie sie von der Mutter verstoßen als Bettelmädchen in eine Stadt kommt, wo eine Frau die Schwangere, die sie „Muhme“ nennt, an Männer verkuppelt und einem Pastor das Kind unterschiebt. Im 15. Jahrhundert wird der Begriff Muhme verhüllend für beischläferin verwendet2; noch im 18. Jahrhundert werden geliebte von studenten dem studentenwirte gegenüber von jenen als ihre muhmens bezeichnet.

In Storms Gedicht verweist die Herzmuhme auf Therese Rowohl, die das lyrische Ich als Kupplerin imaginiert und die es auffordert, von den drei Tänzern ihm die Blume zu überreichen. Blume bedeutet im Kontrast zu Korb und Ring die Geliebte; der Narr soll den Korb, der Philister den (Ehe-)Ring bekommen. Die Blume aber gebührt dem Sänger, als den sich Storm in seinen Gedichten immer wieder stilisiert.

Ludwig Preller, Privatdozent für klassische Philologie an der Universität Kiel, schrieb im Jahre 1838 über die Fördestadt, die in diesen Jahren ca. 12.000 Einwohner hatte3: Kiel ist ferner gerade groß genug, um nicht kleinstädtisch, und klein genug, um nicht großstädtisch zu sein. So hat sich hier eine Bildung ansässig gemacht, welche ebenso tüchtig in sich, als von der Profession der Wissenschaft unabhängig ist. Man weiß hier nichts von jenem Gegensatze zwischen einer Gelehrtenaristokratie und von dieser abhängigen Bürgerschaft, welcher sonst auf kleineren Universitäten zu herrschen pflegt. Ja diese Gleichmäßigkeit der Bildung hat den nicht hoch genug anzuschlagenden Vorteil, dass alle die geistigen und sittlichen Übel und Krankheiten, welche sich aus der Gelehrsamkeit, sobald sie isoliert wird, zu entwickeln pflegen, gleich in der Wurzel erstickt werden. Heiterkeit und Anspruchslosigkeit im Umgange, Herzlichkeit und Freisinn in der Begegnung ist der allgemeine Typus auch unseres akademischen Lebens. Namentlich ist eine große Geneigtheit zu allen Genüssen des geselligen Lebens bemerkbar, eine in oft fast zu gedrängter Reihe von Gesellschaften und sonstigen sozialen Unternehmungen sich darstellende Lebenslust.

Die Mommsens verkehrten in einem Freundeskreis, der sich die „Clique“ nannte und zu einem Teil aus Mitschülern bestand, die das Gymnasium Christianeum in Altona besucht hatten. Neben Storm traten diesem informellen Kreis aber auch andere Studenten bei, darunter Guido Eduard Noodt, der als Spaßmacher der Clique galt. Der 1819 in Hamburg geborene Noodt wollte eigentlich Philologie und Theologie studieren, sattelte dann aber auf Medizin um.

Was Storm mit Theodor Mommsen zusammenführte, war weniger die Zugehörigkeit zur gleichen Fakultät ‒ auch Mommsen studierte Jurisprudenz ‒ oder die landsmannschaftliche Verbundenheit, die sich in Kiel von selbst verstand, als literarische Interessen und die Freude an der Poeterei; dabei konnte auch Tycho Mommsen mittun. Die Vertraulichkeit ging so weit, dass Storm und Theodor Mommsen ein Jahr oder länger in einem Zimmer zusammen wohnten.4

Am 2. August 1841 brachten Kieler Studenten dem Dichter Ludwig Uhland einen Fackelzug und begrüßten ihn mit einem Ständchen; mehrere Clique-Mitglieder nahmen daran teil, sehr wahrscheinlich auch die Mommsens und Storm. Im November 1841 gründete der mit Theodor Mommsen befreundete Komponist und Musikschriftsteller Carl Grädener (1812-1883) eine Liedertafel, bei der neben Theodor Storm mehr als 100 Sänger mitwirkten. Das Kieler Correspondenz-Blatt berichtete am 3. Januar 1842: Auch hatte sich die Kieler Liedertafel in diesem Jahr zu der Feier auf dem Markte durch einen besonderen Fackelzug mit den Studierenden vereinigt, und sang, nachdem die letzteren zu den Wohnungen der Professoren gezogen waren, noch einige Lieder und brachte dem Könige, unserm Herzog, und dem Deutschen Vaterlande ein Hoch; worauf die Fackeln auf dem Markte verbrannt wurden. Nachdem die Studierenden ihren Umzug vollendet, wurde von ihnen dem Deutschen Schleswig-Holstein ein Lebehoch gebracht.

Für Storm war das ein Übungsfeld, wo er sich das Handwerkszeug erwarb, was ihn ein paar Jahre später ermöglichte, in Husum einen Gesangverein zu gründen.

Die Studentengruppe trieb ihre Studien durchaus mit Ernst und Fleiß, aber es blieb genug Zeit für die Teilnahme an Burschenschafts-Kneipen und allerlei Tanzveranstaltungen. Den Weinkeller im Rathaus, in dem er mit seinen Kommilitonen häufig kneipte, hat er in der Novelle Immensee beschrieben. Mit dabei waren die Töchter des Hofbäckers Andersen und ihre Freundinnen, mit denen man Bälle besuchte. Im großen, gastfreundlichen Bäckerhause wurden Kneipabende veranstaltet und man spielte Schach bei viel „Teeknecht“, einem damals beliebten Punsch.

In sein Notizbuch „Meine Gedichte“ trug Storm folgenden Aphorismus ein:

 

Bürgermädchen:

„Ach Mutter, was ist es doch fürʼn Hochgefühl bei einem Studenten auf dem Sopha zu sitzen.“5

 

   Eintrag in „Meine Gedichte“

 

Ein von ihm später in der Novelle „Auf der Universität“ beschriebenes Ausflugs- und Tanzlokal im Düsternbrooker Wald wurde von der Clique häufig besucht. Die Freunde besuchten den Kieler „Umschlag“, eine vielbeachtete Messe im Januar, und gingen im Sommer schwimmen und rudern oder nahmen an Bootsausflügen teil. Am 2. Juni 1842 beteiligten Storm und Mommsen sich an einem Volksfest, das auf der Wilhelminenhöhe bei Kiel stattfand und bei dem die Kieler Liedertafel verschiedene Gesänge vortrug. Es wurde dort das gemeinsame Mittagsmahl eingenommen, dann fand eine Lustfahrt auf einem Dampfer über die Förde statt; am Abend wurde ein Ball veranstaltet, bei dem auch die Töchter Tine, Mine und Gretchen ihres Quartierwirts und Bäckermeisters Andersen dabei waren.6

Zur gleichen Zeit skizzierte Storm ein Gedicht, das zeigt, wie er sich in seiner Lyrik von dem Bild Berthas allmählich lösen konnte, das fast alle Gedichte seit der ersten Begegnung mit dem Mädchen zum Weihnachtsfest 1836 dominiert. Aus dieser Skizze formte Storm im folgenden Jahr ein Gedicht, das er unter die „Fiedellieder“ des „Liederbuch(s) dreier Freunde“ mischte, die von ihm und von Theodor Mommsen stammen.

 

So lasst mich singen ein traurig Lied7
Wie je sich schwang von Reim zu Reim.

Kaum, dass ich michʼs selbst versehen
Ist das erste Lied gesungen
Nun ein Scherflein, holde Frauen,
Weils recht zierlich doch geklungen

Nun ein Scherflein in die Runde
Von den Kavalieren allen;
Für das Lied und ganz besonders,
Weils den Frauen so gefallen.

Nun ein Lied und nun ein Humpen
Schwer von lieblichen Getränken
Ewig, ewig unermüdlich
Will ich meinen Bogen schwenken.

Dass sie alle mit einander
Lustig klimpern in der Tasche
Und, Herr Wirt, vom besten Elfer
Eine wohlgepfropfte Flasche

Nun ein Scherflein in die Runde,
Von den Kavalieren allen;
Für das Lied und ganz besonders
Weilʼs den Frauen so gefallen.

Dass sie alle mit einander
Lustig klimpern in der Tasche!
Und, Herr Wirt, vom besten Elfer
Eine wohlgezogne Flasche!

Nun ein Lied, und nun ein Humpen
Schwer von lieblichen Getränken!
Ewig, ewig, unermüdlich
Will ich meinen Bogen schwenken!

 

Dem 7. Abdruck8 (Berlin 1885) in den „Gedichten“ stellte Storm eine kurze Notiz voraus: Die Anfänge dieser Lieder, wie sie in den früheren Auflagen der Gedichte gedruckt waren, entstanden während meiner Studentenzeit unter dem Einflüsse Eichendorfʼscher Poesie. Als der Dichter 1872 den Zyklus Die neuen Fiedel-Lieder veröffentlichte, beschrieb er aus der Erinnerung ein Ereignis, das im Sommer 1841 stattgefunden haben muss9: Es war in der Studentenzeit, als in einem jetzt nicht mehr vorhandenen einsamen Wirtshause, oben im Walde an der Ostsee, mein gleichfalls nun längst von der Erde verschwundener Freund Ferdinand Röse, oder wie er von uns und von sich selber gern genannt wurde, der Magister Antonius Wanst mir und den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen sein tiefsinniges Märchen „Das Sonnenkind“ vorlas, in welchem der Held auf dem abgelegenen Schlosse Grümpelstein von sechzig alten Tanten erzogen wurde, und von Mr. Breeches, nachdem er in der Nasenkrabbelmaschine seinen Spleen ausgeniest hatte, nur noch seine karierten Beinkleider übrig blieben. ‒ Wir saßen in einem hohen Zimmer, in welches von draußen die Bäume stark hereindunkelten; und von fern aus den Buchenwipfeln hörten wir das Flattern der Waldtauben, als der Verfasser in seiner feierlichen Weise aus dem entrollten Manuskripte anhub: „Hans Fideldum, der lustige Musikant, ging durch ein Seitental des Böhmerwaldes rüstig vorwärts.“

Armer Magister Wanst! Wo sind jetzt Deine Märchen? Wo Dein großes Drama Ahasver, aus dem Du einst zu Lübeck in Deinem altväterischen Elternhause an der Trave, aber auch nur in weihevollster Stunde, wohl ein einzelnes Blättchen mir zu lesen gabst? Wer kennt die gedruckten Bände Deiner Individualitätsphilosophie, die nach Deiner Versicherung ihrem Jahrhundert vorausgeeilt war, und in welchem Krämerladen sind die nicht gedruckten, zum Teil bei strengem Winterfrost im ungeheizten Zimmer ausgearbeiteten, übrigen Bände zu Düten umgewandelt worden? ‒ Keine Deiner Saaten ist aufgegangen; selbst Dein Sonnenkind ist in dem „Pilger durch die Welt“ pro 1845 nur verkrüppelt an das Tageslicht getreten. Du bist gestorben, verdorben; nur ich und Dein treuester, bis anʼs Ende hülfreicher Jugendgenosse, Emanuel Geibel, wenn die alten Tage uns besuchen, mögen Deiner dann und wann gedenken. Damals aber, an jenem Sommernachmittag im Walde, warst Du noch hoffnungsreich und im Vollgefühl einer großen Lebensaufgabe; und mit Behagen hattest Du neben ernsteren Studien auch jenes Märchen hingeschrieben. Nur für den Liederbedarf des Hans Fideldum, den Du allein nicht zu decken wusstest, wurde die Beisteuer der Freunde in Anspruch genommen. Geibel hatte aus seinem Reichtum schon gegeben; dann schrieb auch ich die kleinen Fiedellieder, wie sie noch jetzt in der Sammlung meiner Gedichte stehen.

Als Storm dreißig Jahre später noch einmal Lieder im Stile dieser Zeit dichtete, schrieb er an den Österreichischen Literaturwissenschaftler und Hebbel-Biografen Emil Kuh10: In den „Neuen Fiedelliedern“ habe ich wunderbarerweise den Ton der ersten, in meiner Studentenzeit gedichteten „Fiedellieder“ wiedergefunden; nur so war natürlich das Vollenden eines vor über dreißig Jahren Begonnene möglich. Ich hatte damals noch nicht meinen eigenen Ton; es war in der Lehrzeit und in der Periode, wo ich auf Eichendorfs Waldhorn blies.

 

Ein und ein halb Jahre später, als Storm nach seinem Examen wieder nach Husum zurückgekehrt war und Sehnsucht nach den Studienkameraden verspürte, erinnerte er sich an einen Herbstabend des Jahres 1841 und schrieb an Theodor Mommsen: Sie haben mir einmal gesagt, Sie fänden den Winter unschön und unpoetisch; daraus ist mir heute recht Ihre heimliche Neigung zur Romantik klar geworden; ich habe ihn heute Morgen in seiner klaren, kristallenen Schönheit aus meinem Fenster gesehen. Unten im Garten war ein feenhafter Schmuck über Nacht aufgegangen; alle Bäume streckten blendend weiße funkelnde Zweige in die feine durchsichtige Luft; der reinste Sonnenschein lag auf den Wipfeln. Es war in der Tat schön; aber kein einzig heimlich Winkelchen dabei; nur ein großes Bild.

Ich habe Ihnen bis jetzt in allen Briefen wiederholt, dass ich keine Verse mache und warum nicht. Neulich habe ich, nachdem ich endlich ans Ordnen meiner Sachen gegangen, bei der Gelegenheit ein Paar Verse gefunden, wovon Sie wenigstens nur den ersten kennen; und die Sie an die Zeit unseres Zusammenlebens erinnern werden, wo ich sie geschrieben. Deshalb mögen sie hier Platz finden. Denken Sie nur an den Herbstabend 1841, als die blauen Mondnebel so schön auf der Bucht lagen und wir mit allen Mädchen noch an Bord des schwedischen Schiffes fuhren, um die kleinen Schwedinnen zu eskortieren; wie wir da in der Kajüte ein Gläschen Kingspunsch tranken und wie die Mädchen im Mondlicht auf dem Verdecke tanzten. Wissen Sie? Als wir dann nach Haus kamen, gingen wir beide noch lange in der Wasserallee spazieren, und dabei wurden Sie so Eichendorffsch, dass Sie sangen „Das ist wohl ein Liedel, ein Liedel von mir!“1 Denken Sie dann an den letzten Abend, wo wir die kleinen Schweden ans Ufer brachten mit den ändern Mädchen, und wie sie noch immer zurückriefen „Adieu, söta Flickas!“ Hier sind die Verse; sie bedürfen des Hintergrundes:

 

Das ist der Herbst; die Blätter fliegen1
Durch nackte Zweige fährt der Wind;
Es schwankt das Schiff, die Segel schwellen ‒
Lebwohl, Du reizend Schifferkind! ‒ ‒
Sie schaute mit den klaren Augen
Vom Bord des Schiffes unverwandt,
Und Grüße einer fremden Sprache
Schickte sie wieder und wieder ans Land.
Am Ufer standen wir, und hielten
Den Segler mit den Augen fest ‒
Das ist der Herbst! wo alles Leben
Und alle Schönheit uns verlässt.

 

Bei solchen Ausflügen spielen die drei Bäckerstöchter eine Hauptrolle; aber man veranstaltete auch in der Bäckerei Tanzvergnügen; Theodor Mommsen knüpfte zarte Bande zu Gretchen und es gab Gerüchte12, Theodor Storm habe sich in Mine verliebt. Außerdem wurde in der Clique kolportiert13, Storm habe nur Augen für „Mnn. Schloßbauer“, eine Schauspielerin des Kieler Theaters, an die er einen langen Brief in poetischer Prosa geschrieben habe.

Dafür gibt es keinen Beleg, sehr wohl aber existiert ein Briefentwurf Storms an eine 19jährige Sängerin, die sich wohl um den Jahreswechsel 1840/41 in den Studenten verliebt hatte. Ihr Name ist Zerline Kirchheim und sie gastierte mit ihrer Familie in verschiedenen Städten der Herzogtümer, darunter in Kiel und in Flensburg.14 Storm und einige Freunde aus der Kieler Clique verbrachten mehrere Abende mit dem Mädchen, das sie nach den Konzerten in dem Logis empfing, das sie mit ihren Geschwistern und den Eltern bewohnte.

Storm hat mehrfach an die junge Frau geschrieben. In einem Briefentwurf formuliert er seine damaligen Vorstellungen von Liebe und Sexualität, die er später im Dialog mit seiner Braut Constanze präzisieren wird. Zunächst betont er mehrfach, er habe sich nicht in die Sängerin verliebt, die gerade ihr 19. Lebensjahr vollendet hatte, fügt dann aber hinzu, er habe sie nur lieb gewonnen. Dieses scheinbare Paradox versucht er in folgender Überlegung aufzulösen, in der er zwischen Verliebtsein und Liebe unterscheidet. In seinem Briefentwurf lässt sich erkennen, dass er auf der Suche nach einer Lösung des Widerspruchs in seinem Verhältnis zu Bertha war, zwischen sinnlichem Begehren und dem zu vermitteln, was er die wahre große Liebe nennt. Dabei orientierte er sich am aktuellen Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, indem es unter dem Stichwort „Liebe“ heißt15:

Der Mann wird dasjenige Weib am meisten lieben, welches vermöge seiner geistigen Eigenthümlichkeit am meisten geeignet ist, durch innige Vereinigung mit ihm alles Dasjenige ihm zu gewähren, was ihm selbst mangelt, um in sich geistig befriedigt zu sein. Die Liebe zwischen Mann und Weib, die vollkommenste deren der Mensch durch sich selbst fähig ist, wird vorzugsweise Geschlechtsliebe genannt. Da sie auf der geistigen Eigenthümlichkeit des Menschen beruht und seinem Geiste die ihm durch den Geschlechtsunterschied geraubte Vollendung, welche für ihn das erhabenste Bedürfniß ist, gewährt, so ist sie ihrer Natur nach ewig, sodaß die Liebe von der Treue völlig untrennbar ist.

Der Student knüpft an den zeitgenössischen Diskurs über den Eros an, der in der Tradition seit der Antike als Einheit von geistiger und sinnlicher Liebe begriffen und seit dem Hochmittelalter in der Literatur beschrieben wurde. In den 1830 Jahren wird in lexikalischen Definitionen die geistige Liebe moralisch aufgewertet, indem ihr auch eine sinnliche Komponente zugestanden wird. Die Geschlechtsliebe wird aus einer geistigen Unvollkommenheit des Menschen abgeleitet, der nach Vollendung in der Vereinigung mit dem geschlechtlichen Partner sucht.16 Durch die Aufwertung der geistigen Komponente des Eros wird im Konzept dieser Geschlechterliebe die sinnliche Leidenschaft deutlich abgewertet: „Verliebtheit“ ist die bloße Lust der Menschen an der geschlechtlichen Verschiedenheit [...] einer einzelnen Person anderen Geschlechts.17 Wenn die Liebe aber zu einer bloßen Lust des Menschen an seiner geschlechtlichen Verschiedenheit wird, so wird sie zur Unzucht.

Ein paar Jahre später wird er in den Briefen an seine Braut das Angedeutete weiter ausführen und apodiktisch fordern18: Die Liebe muß daher, um ganz frei und daher um ihrer Dauer ganz gewiß zu sein, ihre Befriedigung in etwas suchen, was hierüber hinaus ist; die Liebe muß sich ganz unabhängig machen von den Sinnen; diese dürfen nur ihr dienen; wenn sie die Liebe beherrschen, so stirbt sie nach der Sommerzeit. In den Wochen vor und nach dem Jahreswechsel 1845/46 entwarf Theodor Storm im Dialog mit seiner Braut Constanze Esmarch ein Liebeskonzept, das ihm lebensnotwendig war, dessen Inhalt, Maß und Ausdrucksformen jedoch er allein festlegte.19

Als Storm an diesen Formulierungen arbeitete, trug er folgenden Aphorismus in sein Notizbuch ein: Die Liebe, die der Sinnlichkeit bedarf ist eben so schlecht, als die sie nicht ertragen kann.20

In seinen weiteren Notizen des Briefentwurfs für Zerline lässt sich erkennen, dass Theodor zu rechtfertigen versucht, sein Verhältnis zu Bertha auch dann noch als Liebe zu begreifen, wenn die Angebetete nicht in ihn verliebt ist, weil sie ihn sinnlich nicht begehrt. Genau diese Erfahrung musste er gerade machen und hoffte vielleicht, dass er durch eine Verbindung mit Bertha ihre erotische Zuwendung allmählich erwecken könnte.

Auch für diese Hoffnung gibt es einen dichterischen Beleg; Mitte April 1844 schickte Theodor folgendes Gedicht an seine knapp 19jährige Braut Constanze22:

 

So lange hab das Knösplein ich
Mit heißen Lippen gehalten,
Bis sich die Blättlein duftiglich
Zur Blume aufgespalten.
– So lang hab ich das Kind geküsst,
Bis Du ein Weib geworden bist! – süße Dange!

 

Die Geliebte als das Kind, das der erwachsene Liebhaber so lange küsst, bis es zum Weibe wird, dieses verbreitete poetische Bild entspringt einer Männerphantasie, die Storms Werk von den ersten Schreibversuchen bis in sein letztes Lebensjahrzehnt begleitet hat. Theodor Storm war wie viele seiner Zeitgenossen davon überzeugt, dass erotische Gefühle und die sexualen Wünsche der Frau erst durch die Zuwendung und das Begehren des Mannes erweckt würden. Das Bild von Knospe und Blume wird immer wieder in der Lyrik und Novellistik Storms auftauchen. Im patriarchalischen 19. Jahrhundert beherrscht diese Männerphantasie die Literatur: Nicht der Eintritt der Menstruation macht das Mädchen zur Frau, sondern dem Mann wird die Funktion zugeordnet, diese Initiation beim ersten Geschlechtsakt zu vollziehen. Von den frühen „Sommergeschichten“ bis ins Spätwerk hinein richtet sich das Begehren der Stormʼschen Protagonisten auf noch junge, am Rande der Pubertät befindliche Mädchen, deren immer ähnliche Beschreibung an das seit der Goethezeit umhergeisternde Phantasma der Kindsbraut denken lässt. Reife Liebesbeziehungen und eine eigene Familiengründung bleiben den männlichen Hauptfiguren zumeist versagt, da jene Kindfrauen sich, aus von Text zu Text scheinbar unterschiedlichen Gründen, allzu rasch in „Totenbräute“ verwandeln.23

 

Wo Storm das Weihnachtsfest 1841 verbracht hat, wissen wir nicht; auch gibt es keine Spuren eines Briefs zum 16. Geburtstag Berthas am 1. Februar 1842. Dokumente, die Aussagen über die weitere Beziehung Theodors zu Bertha enthalten, stammen erst von Ende März des Jahres.

Zwei Gedichte aus diesen Monaten zeugen von Storms Stimmungslage. Im ersten (ein Fragment) bringt er seine Resignation zum Ausdruck.

 

Du bist so jung, und kaum dass ich dich liebte24

Berührte deine Stirne schon der Schmerz.
Drum zürnʼ ich nicht, dass dir, du Tiefbetrübte,
Das Leid der Liebe mehr gilt als mein Herz.

Du ahnst nicht, dass ein Augenblick wird kommen,
Wo Lust und Leiden gleich verloren sind,
Wo du dich sehnst nach Augen, die verglommen,
Nach Worten, welche längst verweht im Wind;

Wo mit der Frage dich dein Herz wird schrecken,
Ob nicht dies Leiden dennoch war ein Glück.
Die Arme wirst du in die Lüfte strecken,
Doch kommen wird kein Liebeswort zurück.

 

Und folgenden Vierzeiler trug er um den Jahreswechsel von 1841/42 in seine Sammelhandschrift „Meine Gedichte“ ein:

 

Wohl bin ich alt25

Sind deine Lippen auch nicht mein
Und nicht mehr deine eignen,
Sie können doch, so lang du lebst,
Die meinen nicht verleugnen.

 

Anmerkungen


1 MG, S. 94 als Nr. 107 (das letzte der von Storm nummerierten Gedichte) mit dem Hinweis 20 Aug 1841.

2 Grimm’sches Wörterbuch, Stichwort „Muhme“

3 Korrespondenz aus Kiel. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst, hrsg. von Rüge und Echtermeyer, 1838, Sp. 1036 ff. (Nr. 130, 31. 5., und 131, 1. 6.)

4 Wickert 1959, S. 199.

5 MG, S. 102

6 Wickert 1959, S. 405.

7 MG, S. 94f.

8 Theodor Storm: Gedichte. Berlin 7. Auflage 1885, S. 184. Es handelt sich um die „Ausgabe letzter Hand“ der Gedichte Storms.

9 Theodor Storm. Gesammelte Schriften Bd. 8, Braunschweig 1891, S. 3-6.

10 Theodor Storm an Emil Kuh, Brief vom22. Dezember 1872; Briefe 2, S. 53.

11 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 23. Januar 1843. Adieu, söta Flickas! ist schwedisch und bedeutet Lebt wohl, süße Mädchen!

12 Wickert 1959 im dritten Kapitel.

13 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 1. Januar 1843.

14 Unveröffentlichtert Briefentwurf (StA).

15 Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk, Zweiter Band, 1838, S. 743f.

16 Tebbe 2011, S. 41.

17 Brockhaus, S. 744

18 Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 11.1.1846, Brautbriefe, Bd. 2, S. 153.

19 Regina Fasold im Vorwort zum ersten Band der Brautbriefe (S. 14).

20 MG, S. 97.

22 Brautbriefe, Bd. 1, S. 29.

23 Thesenpapier zur Tagung: Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Hrsg. von Malte Stein, Regina Fasold und Heinrich Detering. Berlin 2010, S. 47 (StA).

24 Handschrift im Storm-Nachlass; Einzelblatt mit einem Wasserschaden, so dass die vierte Strophe nicht mehr lesbar ist. Hier nach LL 1, S. 219.

25 MG, S. 93.