Sieben Jahre sollst du um sie dienen – Von brennendem Verlangen und tödlicher Sehnsucht

 

Im spätem Frühjahr oder Sommer 1842 – kurz nach der Brandkatastrophe in Hamburg – notierte Theodor ein paar Prosazeilen in sein Notizbuch, die zeigen, dass ihn immer noch die Sehnsucht nach Bertha quälte:

 

„Sieben Jahre sollst du um sie dienen dann soll sie dein sein für dein ganzes Leben.“
„Drei mal 7 Jahre will ich dienen, mein ganzes Leben, doch jetzt in ihrer Schöne gib sie mir, lass mein sie sein nur von Mondenlicht bis Morgenschein.“
1

 

Prosazeilen in „Meine Gedichte“

 

Mit diesen knappen Worten hat Storm die biblische Erzählung von Jakob aufgegriffen, der sieben Jahre bei seinem Bruder Laban diente und zunächst um seine Braut Rahel betrogen wurde.

 

Laban sprach zu Jakob: Wiewohl du mein Bruder bist, solltest du mir darum umsonst dienen? Sage an, was soll dein Lohn sein? Laban aber hatte zwei Töchter; die ältere hieß Lea und die jüngere Rahel. Aber Lea hatte ein blödes Gesicht, Rahel war hübsch und schön. Und Jakob gewann die Rahel lieb und sprach: Ich will dir sieben Jahre um Rahel, deine jüngere Tochter, dienen. Laban antwortete: Es ist besser, ich gebe sie dir als einem andern; bleibe bei mir.

Also diente Jakob um Rahel sieben Jahre, und sie deuchten ihn, als wärenʼs einzelne Tage, so lieb hatte er sie. Und Jakob sprach zu Laban: Gib mir nun mein Weib, denn die Zeit ist hier, dass ich beiliege. Da lud Laban alle Leute des Orts und machte ein Hochzeitsmahl.  Des Abends aber nahm er seine Tochter Lea und brachte sie zu ihm hinein; und er lag bei ihr. Und Laban gab seiner Tochter Lea seine Magd Silpa zur Magd.  Des Morgens aber, siehe, da war es Lea. Und er sprach zu Laban: Warum hast du mir das getan? Habe ich dir nicht um Rahel gedient? Warum hast du mich denn betrogen? Laban antwortete: Es ist nicht Sitte in unserm Lande, dass man die Jüngste ausgebe vor der Älteren. Halte mit dieser die Woche aus, so will ich dir diese auch geben um den Dienst, den du bei mir noch andere sieben Jahre dienen sollst. Jakob tat also und hielt die Woche aus. Da gab ihm Laban Rahel, seine Tochter, zum Weibe und gab seiner Tochter Rahel seine Magd Bilha zur Magd. Also lag er auch bei Rahel ein, und hatte Rahel lieber, denn Lea; und diente bei ihm förder die andern sieben Jahre.2

 

In seinem Text spaltet Storm die Geliebte in zwei Erscheinungen auf; mit der „Schönen“ meint er Bertha, die jetzt Sechzehnjährige, die er begehrt wie Jakob einst die schöne Rahel. Da sie sich ihm aber verweigert, will er ihr weitere sieben Jahre Liebesdienst leisten. Dann bittet er um sie nur von Mondenlicht bis Morgenschein, so wie Laban dem Jakob seine älteste Tochter Lea in der Hochzeitsnacht zugeführt hatte. Wenn er schon Bertha jetzt nicht besitzen kann, so möchte er zumindest das Bild, das er in seinen Liedern von ihr geschaffen hat, für eine Nacht lieben.

Auf der nächsten Seite der Handschrift findet sich ein weiterer Eintrag: Die Liebeslieder der Minnesänger, die der Schlesischen Dichterschule, die Gleimschen Liebeslieder und die nach ihm bis zur Zeit, wo Göthe anfing zu dichten, – lest sie, die ihr die Liebe nicht kennt. Es ist ein zierliches Spiel, ihr hört das Wort Liebe klingen im Reim, aber ihr versteht es nicht; denn die Dichter verstanden es selbst nicht. Doch in dieser Nacht steht ein Mann, hütet euch vor seinen Liedern! Sie sind wie ein Schwerdt gefeit um Mitternacht und bezahlt mit der Seele. In seinen Liedern hat er sich verzehrt; jedes Lied ist geschmiedet aus Jugend Liebe und Leben; hütet euch! Sie singen in eure Herzen brennendes Verlangen und tödliche Sehnsucht.3

In diesen Liedern erkennt Storm die Sprache des Herzens, die Qualität des lyrischen Ausdrucks soll die Angebeteten bewegen, sich für den Dichter (nicht den Mann) zu entscheiden. Die Gedichte klingen wie diesseitige Gebete, Liebe wird zum Religionsersatz. Er sieht sich als Sänger, der versucht hat, die erloschene oder nie vorhanden gewesene Zuneigung Berthas durch die Macht der Saiten wiederzubeleben oder anzuregen.

 

Storms Notizen in „Meine Gedichte“

 

Die Sehnsucht ist ein inniges Verlangen nach einer Person und oft mit dem schmerzhaften Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können. Bei Menschen, die sich vor Sehnsucht „verzehren“, nimmt diese in bestimmten Fällen krankhafte Züge an, so etwa bei verschiedenen Formen der Todessehnsucht, die bis zum Suizidwunsch reichen kann. Storm endet seinen Text mit den Worten:

 

Er schrieb sich auf sein Grab:

Mein Pilger, lies geschwind und wandle deine Bahn;
Sonst steckt dich noch mein Staub mit Liebe und Unglück an.

 

Im August 1842 trug er Gedanken und Träume in sein Notizbuch ein, von denen einige hier folgen4:

Ich denke dran, wie ich vor Jahren oben auf der kleinen Elbstube in dem alten Lehnstuhl der gestorbenen Großtante saß, wo mir der Nachmittag gar nicht hingehen wollte, bis zu der Stunde, wo sie mit ihrer Mutter erwartet wurde. Ich hatte aus dem altväterischen Repositorium allerlei Bücher vor mir aufgestellt und las und las und wusste vor Ungeduld gar nicht, was ich las. Die Nachmittagsonne schien warm ins Stübchen und beleuchtete an den Wänden die alten Kupferstiche. Meine Augen glitten übers Buch ins Zimmer umher und der urgroßväterliche Hausrat des Ganzen versetzte mich in eine wunderbare friedliche, fromme Stimmung. Ich dachte mich lebhaft in die Zeiten hinein, wo dies von meinen Voreltern gebraucht und besessen war. Ich dachte an ihre Feste und Hochzeiten, wovon mir die Großmutter erzählt hatte ‒ ‒ es hat einen tiefen Zauber, es zieht uns hinein ‒ in die alte Zeit. Endlich, endlich ging unten die Türglocke und ‒ ‒ ‒

Ich denke dran, es ist manches Jahr her, doch lässt es mich nicht ‒ sie hat einen tiefen Zauber, die alte Zeit.

 

Mir träumte die Nacht, ich ginge in den Straßen von Hamburg; aber sie waren wunderlich zusammen gesetzt und ich verirrte mich. Schon lange ging neben mir ein stilles Mädchen, ein halbes Kind; ich fragte einen Vorübergehenden nach der Dienerreihe. Da wandte das Mädchen ihr Gesicht und sagte mir den Weg. Es war der Ausdruck<?> deiner Züge, es war auch deine Stimme, aber du warst es nicht. Wir gingen so neben einander und kamen in eine Straße, wo das Wasser quer durchfloss, es fehlte die Brücke ‒ ‒ ‒

Im Wachen hab ich mir zusammengedacht, das stille Mädchen seist doch du, das Kind gewesen, die mich zu dir, der Jungfrau, führte. Aber wir kamen nicht so weit. ‒ Gute Nacht! Ich will schlafen und träumen, vielleicht komm ich dann hinüber zu dir.

26. August Abends im Bett

 

Das aber sah sich hübsch an. Die Predigt war zu Ende; vor mir saß die vierzehnjährige Tochter des verstorbenen ‒ ‒ Nun trug der Pastor eine ewige Liste von Verstorbenen vor, die sich zu verehlichen dachten. Da sah ich von Anfang an, wie die Wangen des Mädchens zuckten, und wie lächelnd die Röte ihr ins Gesicht stieg, mehr und mehr, bis sie brannte wie eine Rose, und ward doch ihr Name nicht mit abgekanzelt.

 

Im September versucht er, seinem tiefen Leid lyrischen Ausdruck zu geben; in einem Vierzeilengedicht gelingt ihm das eindrucksvoll:

 

Ein einzig Glück nur gibts für mich zu hoffen,5
Doch was es ist, ich will es keinem sagen,
Und wenn ein einzig Unglück mich betroffen,
Was ich verlor, ich will es keinem klagen.

 

Aber noch immer fließt ein Fünkchen Hoffnung ein, Bertha könne ihre Meinung ändern und zu ihm zurückkehren. Dann fasste er offenbar den Entschluss, in den Herbstferien noch einmal nach Hamburg zu reisen. Bei folgender Notiz6 handelt es sich aber eher um eine Vision seiner Wünsche als um einen realistischen Bericht; ein Dokument, das diese Reise bestätigt, liegt jedenfalls nicht vor.

Mir liegt beständig ein künftiger Herbstnachmittag im Sinn, wo im Garten die roten Weinblätter vom Spalier fallen, und wo die goldne Herbstsonne dem Mädchen auf dem braunen Haar schimmert. Im Hause werden schon die Lichter angesteckt, die Sonne geht unter, das Mädchen zieht mich fröstelnd an sich; wir gehn langsam ins Haus zurück ‒ ‒ ‒ Ob der Nachmittag wohl kommen wird? Die Wälder färben sich schon. Ehe das Laub gefallen ist, muss alles entschieden sein wohl oder wehe.

 

Zu dieser Zeit beschäftigt sich Theodor mit den gerade erschienenen Gedichten von Friedrich Hebbel. In sein Notizbuch trägt er ein:

Weil in den meisten derselben nur der Anstoß poetisch ist, in der Ausführung ab<er> die Unmittelbarkeit verschwindet, so hat die Verstandesoperation oft zu Unnatürlichem geführt Vater unser – Unterm Apfelbaum – Das Scharfsinnige – mater, virgo – kann das Poetische nicht ersetzen. Er reflektirt fast immer, ist der modernste aller Poeten, oft großartig, bleibt er immer in den Grenzen seiner Judith.7

Storm erwähnt drei Gedichte8, darunter „Virgo et Mater“.

 

Friedrich Hebbel

Virgo et Mater

Der Jungfrau Bild,
Im Arm das Kind,
Blickt sanft und mild
Durch Nacht und Wind.
Ein armes Mägdlein kniet davor,
Sie schaut nur dann und wann empor,
Doch, wenn das Lämpchen Funken sprüht,
So sieht man, wie sie glüht.

Die Lampe geht
Auf einmal aus;
Ihr Atem steht,
Sie schwankt nach Haus.
Die Jungfrau kann ihr nicht verzeihn,
Die Mutter wird sie benedeiʼn,
Stellt sie der Heilʼgen überʼs Jahr
Mit ihrem Kind sich dar.

Sie fühltʼs, und spricht:
Du reine Magd,
Dir gleichʼ ich nicht,
Doch unverzagt!
Dir, Mutter, die der Sohn erkannt,
Die unterʼm Kreuz noch bei ihm stand,
Dir will ich gleichen für und für,
Und dann vergiebst du mir!

 

Storm kritisiert an Hebbels Gedichten die Reflexion, die sie enthalten. Auch vom Leser fordert es Scharfsinn, will er das Gemeinte des poetischen Bildes verstehen. Dadurch unterwirft Hebbel nach Ansicht Storms das Sensuelle der Poesie dem Intellekt. Der junge Storm aber will Allegorisches und Tendenziöses vermeiden und schreibt Gedichte, in denen er ein unmittelbares Erleben so gestaltet, dass der empfängliche Leser es auch ohne schafsinnige Reflexion nachvollziehen kann. Dreißig Jahre später formuliert er diesen Anspruch im Vorwort zu seiner Anthologie „Hausbuch aus Deutschen Dichtern seit Claudius“9: am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.

 

Gleich im Anschluss ist ein unfertiges Gedicht10 eingetragen, dem man Storms Bemühen um diese poetische Unmittelbarkeit anmerkt:

 

Morgendämmrung

Noch liegt die Nacht, doch kalt schon weht
Von Osten her die Morgenluft
Die Gäule schnauben auf vom Schlaf
Und wiehern durch den Nebelduft

Die Gäule stehen wie festgebannt;
Das Tor schwingt auf, auf fliegt der Schlag,
Du standst vor mir, am Himmel stand
Die Sonne – es war hoher Tag.

 

Anmerkungen


1 MG, S. 102

2 1. Mose 29, 15-30 nach der Bibel in der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Frankfurt am Main 1821.

3 MG, S. 103.

4 MG, S. 104f.

5 MG, S. 98.

6 MG, S. 106.

7 MG,  S. 107 mit der Überschrift Fried. Hebbel, Gedichte. Hamb. 1842. –

8 In der Ausgabe Friedrich Hebbel: Gedichte. Hamburg 1872: die Ballade „Vater Unser“ (S. 3), „Unterm Baum“ (S. 170) und „Virgo et Mater“ (S. 191.)

9 Vorwort zum Hausbuch aus deutschen Dichtern, S. IX.

10 MG, S. 109. In der dritten Zeile der zweiten Strophe ist die Wiederholung von standst unterstrichen.