Noch viel zu jung ‒ Ein Heiratsantrag wird abgelehnt (1842)

 

Im September 1842 begann das juristische Staatsexamen vor dem Königlichen Oberappellationsgericht zu Kiel. Storm musste eine Akte begutachten; die anschließende schriftliche Prüfung hat zum Thema: Zur Begründung der Notwehr. Am 15. Oktober begannen die mündlichen Prüfungen des juristischen Staatsexamens, die am 17. abgeschlossen wurden. Theodor Storm besteht mit den Noten „gut“ und „größten Teils gut“. Insgesamt erhält er die zweithöchste Note.

Unmittelbar danach entschließt sich der nun examinierte Jurist, noch einmal an Bertha zu schreiben. Diesmal verlässt er sich nicht auf die zweifelhafte Wirkung von Liebesgedichten, sondern unterbreitet der nun fast Siebzehnjährigen einen Heiratsantrag. Theodors Brief an Bertha wurde auf ihre Anweisung nach ihrem Tod verbrannt; allerdings hat Storm ihren Antwortbrief vom 20. Oktober 1842 aufbewahrt, der im Folgenden vollständig abgedruckt wird.1

Theodor ‒ wohl nach einer langen Zeit sehe ich Deine Handschrift wieder, und warum sollte ich es leugnen, dass mir der Anfang Deines Briefes eine lebhafte Freude machte ‒ er war so wie ich ihn wünschte; ich glaubt Dich wieder zu erkennen; aber als ich weiter las, da zog eine Wolke über die Freude hin, denn es waren mir fremde Gedanken! ‒ ‒

Warum willst Du mir gewaltsam den Namen eines Kindes entreißen? O, glaube mir, es liegt keine Schmach darin, und in meinen Augen ist es wohl eine Zierde mehr für das Mädchen, wenn man es noch Kind nennen kann.

Gewiss Du verstehst mich, in welcher Beziehung ich dieses meine; diese reinen unschuldigen Gefühle, die das Kind zu jedem in so schöne Verhältnisse stellen, können auch von der Jungfrau beibehalten werden, ‒ und gewiss zu ihrem eigenen Vorteil ‒ wenn sie auch in manchen Rücksichten anders gestellt wird. ‒

Gott segne meine treue Mutter, für die Stütze, die sie mir immer mit schonender Liebe geboten hat, in Fällen, wo ich nicht fest auf dem rechten Wege wandelte; ihr habe ich es zu danken, wenn ich jetzt noch sagen darf, dass ich im Herzen ein Kind bin.

Du selbst, Theodor, verlangst ja, dass ich Dir frei und offen antworten soll; ‒ falsch kann ich auch nimmer sein. ‒

Das Leben ist mir in der langen Zeit, dass wir nichts von einander hörten, ernster und wichtiger in seinen Beziehungen erschienen: Ich konnte mich Gottlob! ohne Störung, den vergangenen Winter über der Vorbereitung auf meine Konfirmation weihen, und ein mir so unendlich teurer Freund, Pastor Wolters, hat mich an der Hand des Glaubens zu diesem hohen Tage geleitet. ‒ ‒ Manche ernsten Erfahrungen, die sich mir in diesem Jahre entgegengestellt haben, und die ich Dir hier nicht nennen will, haben dazu beigetragen mein Herz und meinen Verstand zu läutern, und mir das Leben zu zeigen wie es ist ‒ ‒ ‒ Vieles in mir hat sich verändert, Du kennst mich nicht mehr ganz, sonst hättest Du mir so nicht geschrieben! ‒ ‒

Das Wort zu sprechen, was Du von mir erwartest, ist wahrlich nicht so leicht für mich als Du zu glauben scheinst ‒ und wenn Du es recht erwägen willst, so wirst Du mir recht geben, dass ich noch viel zu jung bin, um mit Ernst einen solchen Gedanken in mir aufzunehmen, wie vielmehr einen Schritt zu tun, an dem mein ganzes Leben hängt.

Als mir Tante Scherff neulich sagte, Du würdest balde hierher kommen, da freute ich mich recht, Dich einmal wiederzusehen, ‒ (denn oft sprach ich mit der Mutter von Dir in dieser letzten Zeit, und wir wünschten Dir ein gutes Examen) und ich will auch diese Freude festhalten, obgleich sie ein wenig durch Deinen Brief getrübt ward. ‒ Aber an mir soll es nicht liegen, ich biete Dir die Hand dazu, dass wir wieder eben so froh, heiter und unbefangen wie sonst, miteinander sein werden, dann können wir uns gegenseitig wieder recht kennenlernen.

Ich hoffe, Du wirst nichts Hartes und Unfreundliches, sondern nur freie offene Wahrheit in meiner Antwort finden; wenigstens will ich nichts Anderes hineingelegt haben.

Erst Dein Brief gibt jetzt meiner Vermutung die Bestätigung; denn ich glaubte Dich mit Gewissheit gesehen zu haben, aber Mutter hielt es für unmöglich, denn sie sagte, Du würdest mich doch erkannt und gegrüßt haben, und noch gewisser zu uns gekommen sein. ‒ ‒ Und warum mussten wir uns darin täuschen? ‒ Ich weiß mir, nach meinen Gefühlen darauf keine Antwort zu geben. ‒ ‒ Und was führte Dich gerade zu der Stunde in diese Kirche? Bist Du doch wohl noch niemals dort gewesen! ‒ ‒ Auch dort glaubte ich Dich zu erkennen, und sagte noch im Scherz zu Mutter: sein Bild scheint mich zu verfolgen! ‒ Ich fürchte Du hast das Haus des Herrn betreten mit anderen Gedanken, als wie dort hingehören, das sollte mir für Dich leid sein.

Aber über das alles ist besser mündlich abzuhandeln, dann können nicht so leicht Missverständnisse sich dazwischen werfen, welche ich gern vermeiden möchte. Lebe denn wohl bis auf baldiges Wiedersehen, im alten freundlichen Verhältnis.

Deine Bertha.

Fast eben, da ich meinen Brief abgeschlossen habe, erzählt Mutter mir von der Korrespondenz, die Du mit ihr geführt hast; ich habe früher nichts davon geahndet.

 

Berthas Brief an Theodor mit der Zurückweisung seines Heiratsantrags

 

Wie immer bei dieser Korrespondenz wurde der Brief Berthas von einem Schreiben ihrer Pflegemutter begleitet. Theodor konnte sich in seinem Argwohn, Therese könne das ihr anvertraute Mädchen beeinflusst und gegen ihn aufgebracht haben, durch diesem Brief trotz gegenteiliger Beteuerungen bestätigt fühlen2: Ihren Brief unter Berthas Adresse habe ich ihr selbst übergeben, und dagegen nahm ich von ihr meine Einlage zurück ‒ Sehr leicht kann ich Ihnen verzeihen, guter Storm, dass Sie im Wiederspruch mit Ihrem letzten Briefe sich mir wieder schriftlich nahen, wenn schon es mir etwas unerwartet kommt.

Die mütterliche Liebe zu meiner Pflegetochter gibt mir allerdings gewisse und schöne Rechte, doch nicht habe ich das Recht, über ihre Hand zu verfügen; daher kann ich Ihnen nur für Ihr gütiges Zutrauen danken und muss Sie bitten es nicht zu missdeuten, wenn ich Ihnen keine genügende Antwort auf Ihre Bitte und Anfrage gebe ‒ Sehr wahrscheinlich befindet sich Berthaʼs Vater diesen Augenblick in Paris, und unbestimmt ist seine Rückkehr nach Dresden, indessen kann ich Ihnen wohl seine Adresse nach dorten geben wenn Sie es wünschen; ganz fremd und unbekannt sind Sie ihm nicht, da Bertha ihrem Vater Ihre Lieder, Gedichte und manche Ihrer kindlich freundlichen Beziehungen zu Ihnen in froher Erinnerung mitteilte.

Sie haben sich Ihren Lebensweg mit Sicherheit gezeichnet, Theodor; ich kann ihm mit einiger Klarheit folgen, ganz auffassen, auch liegt mir nichts Schreckendes noch Gefährliches in dem Gedanken dass ein junger Mann den schönen rein poetischen Sinn, die Erinnerung seiner jugendlich aufgefassten Freuden, eine reich ausgeschmückte Phantasie mit hinübernimmt ins bunt bewegte prosaisch geschäftige Leben ‒ auch noch gern in seiner inneren Welt fortlebt, wenn er der Außenwelt und ihrem regen Treiben angehört ‒ drum nehmen Sie vorerst den herzlichen Glückwunsch von mir, zu dem von Ihnen sich gewonnenen Standpunkt, so wie die Versicherung meiner freundschaftlichen Teilnahme für Ihre Zukunft.

Berthaʼs Antwort finden Sie in diesen Blättern ‒ gern hätte ich Ihrem jungen Gemüte es erspart mit sich selbst, mit ihrem Herzen und Verstande zu Rate gehen zu müssen, aber nicht immer reicht mütterliche Liebe und Sorge aus, auch wird der innere Mensch sich seiner selbst am besten bewusst wenn er durch besondere Veranlassung getrieben wird, sich eigene Klarheit zu verschaffen ‒ ich habe Berthaʼs Brief gelesen mir ist auch jedes Wort klar, ich erkenne sie darinnen so ganz wie sie sich bei ihrem jungfräulichen Gefühl den unschuldigen Kindersinn bewahrte ‒ mit einer stillen Befriedigung gebe ich mich der Überzeugung hin, dass sie sich mit ihrem jungen Leben einen Schatz unverlierbarer Güter gesammelt, der sie selbständig Glück und Leid im schönen Glauben, Lieben und Vertrauen wird auffassen helfen.

 

Brief von Therese Rowohl an Theodor Storm vom 21.10.1842

 

Sie werden meiner Versicherung nicht bedürfen dass Berthas Brief ohne das allergeringste Zutun von meiner Seite geschrieben ist, und lassen Sie mich glauben dass auch Sie darinnen immer die eigentümlichen Grundzüge ihres Charakters herausfinden, dass Sie immer ihre innere Seele darinnen erkennen werden, vorausgesetzt dass sie Ihnen nicht noch mehr entfremdet oder aus der Erinnerung entschwunden sind.

Bis nun her erfuhr Bertha nichts von Ihren früher an mich gerichteten Briefen; nur immer war mein Refrain: Sie würden sehr beschäftigt zu Ihrem Examen sein, die Zeit wäre Ihnen wichtig ‒ von Ihrem Vetter Stuhr erfuhr Friede Sie würden hierher kommen, und sie sagte es uns vor 8 Tagen ‒ als nun Bertha Ihren Brief empfing, ihn erbrach und las, da rief sie aus: ach, wie nett, das dachte ich wohl! ‒ und ihr liebes Auge schaute so freudig ‒ aber dann verstummte sie, bis sie mir den Brief zu lesen bot ‒

Als Bertha von der Konfirmation einer jungen Freundin zurück kam, vor Ostern, war ihre erste Frage: ist Theodor hier gewesen? Sie versicherte, Sie wären ihr begegnet, es hätte in Ihrem Mundwinkel gezuckt, doch gegrüßt hätten Sie nicht ‒ da bestritt ich ihre Behauptung bis sie ungeduldig schwieg ‒ als sie aus der Kirche kam, dieselbe Behauptung von ihr ‒ als sie Friede darauf anhalte und auch diese ihr wiedersprach, sagte sie: nun, dann ist dieses die frappanteste Ähnlichkeit, die ich je gesehen! ‒ und ich muss sagen es ist mir auch nicht in den Sinn gekommen zu glauben Sie wären es wirklich gewesen! ‒

Sie haben eine schöne Gelegenheit versäumt in ein frommes Kinderherz zu blicken, was sich nun so ganz geborgen glaubt in einer Sturmbewegten Welt, weil es Gott angehört und ihm vertraut ‒ es waren schöne mir unvergessliche Tage, die wir friedlich in häuslicher Stille mit Berthaʼs Vater verlebten, und mit einer stillen Wehmut im Herzen, sage ich mir dass sie nur einmal zu erleben sind.

Verzeihen Sie diese letzte Abweichung in meinem Briefe sie kam so unwillkürlich, und ich rechne auf Ihre gütige Nachsicht ‒ die Post drängt, drum nun noch freundlich Lebewohl.

Therese Rowohl.

 

Nach dieser klaren Absage schrieb Theodor einen letzten Brief an Bertha, der nicht erhalten ist und wohl mit dem vorigen Schreiben vernichtet wurde. Storm brach seine Zelte in Kiel ab und fuhr nach Schleswig, wo er sich mit seinem Vater traf, der dort in seiner Funktion als Abgeordneter der Ständeversammlung tätig war. Dann ließen sich Vater und Sohn von ihrem Kutscher Jochen nach Hause bringen. Am 31. Oktober 1842 heißt es in einem Brief an Theodor Mommsen aus Husum3: Die Reise war im Ganzen recht erfreulich; ich sah den Wald in meinem Leben nicht so schön, noch vollbelaubt und durch alle Farbentöne spielend vom Grau zum dunkeln Roth, und alles das im Sonnenschein. In Schleswig fand ich meinen Vater, wie ich es mir dachte und wie auch Sie es prophezeiten, durchaus liebenswürdig. Wir fuhren denselben Nachmittag auf Husum zu; es war mir doch wohl ein eignes Gefühl, als ich unter meinen jetzigen Plänen, oder um mit Ihnen zu reden, mit häuslichen Gefühlen die bekannte Gegend auftauchen sah. Der Wald verschwand, wir fuhren durch flaches ödes Land, und wie es dunkel wurde, wetterleuchtete es fort und fort über der weiten Heide; man sagt, dann scheidet sich die Jahreszeit. Es wurde über dem Fahren ganz dunkel; da hört ichʼs deutlich brausen aus der Ferne; das war ein bekannter Laut. Die Nordsee warʼs, und meine Vaterstadt lag dicht vor mir; ich war zu Haus. Lichter und Leute brachen aus der Haustür, und die Stimmen meiner Geschwister schrieen durcheinander „Ist Theodor mit? Ist Theodor mit?“ So bin ich denn nun hier; die ersten Tage, während der Anwesenheit des Alten, habe ich ihn lediglich die notwendigsten Sachen expedieren helfen, so dass er nur die Kladden diktierte; wir schafften so ziemlich was von der Hand; doch liegt noch genug.

Guido Noodt beschrieb einige Monate später Storms damalige Situation in einem Brief an Theodor Mommsen4: Auch wenn seine Ansicht sicherlich durch sein eigenes Liebeserlebnis überschattet wird, könnte es als Zeugnis des unmittelbaren Zuschauers von Interesse sein: Doch muss ich Dir ad vocem Storm noch eine Bemerkung machen: nämlich die, dass mir Deine sonst recht schöne Idee von dem Storm-Noodtschen-Liebesdoppelroman durchaus nicht schmeichelhaft ist. Jedenfalls scheint mir doch der Unterschied dabei zu sein, dass ich mein Verhältnis aus einem rein objektiven Grunde, Storm das seinige aber aus einem fast rein subjektiven Grunde nicht länger festhalten konnte. Nach meiner Ansicht ist Storm schon vor der Abmuckung mit seiner Liebe fertig gewesen, und die eingeleiteten Schritte hat er seiner Eitelkeit zu Liebe getan; außerdem war aber auch ein großer Unterschied zwischen den beiden Abweisen; der Stormʼsche Abweis war doch wenigstens durch eine erneute Einladung versüßt...

Theodor muss noch einmal nach Hamburg geschrieben haben, denn Therese Rowohl antwortete ihm in einem Brief vom 26. Oktober, der nur fragmentarisch erhalten ist5: Sie sollen wie immer in meiner lieben armen Vaterstadt, und in meinem Hause freundliche Aufnahme, und mein freundliches Willkommen finden; und kommen Sie Donnerstag nicht fort, so wählen Sie die folgenden Tage; ich denke, sie sollen uns allen eine angenehme Erinnerung hinterlassen. Bertha grüßt Sie freundlichst und dankt Ihnen Ihren lieben Brief. Wie immer freundschaftlich, Therese Rowohl.

Aus Husum klagte der frischgebackene Advokat über diesen Bescheid gegenüber Theodor Mommsen6: Ich entbehre hier alles, den Freund und die Geliebte; ich verfalle noch gegen meine Natur in Langeweile. Der Brief von Berthas Mutter ladet mich freundlich ein, doch steht nach dem freundlichen Wilkomm der verdächtige Satz da „ich denke, Sie sollen uns Allen eine angenehme Erinnerung hinterlassen“. ‒ ,,Bertha dankt schön für Ihren lieben Brief.“ … Ich habe an Bertha geschrieben, ich hoffte, Weihnacht zu kommen.

Im Notizbuch wurde in diesen Tagen Folgendes eingetragen:

 

Deinen Hofstaat will ich vermehren7
Doch will ich der Erste sein
So lang ich dir diene in Ehren
Gehöret dein Lächeln mein,

Und um uns nicht zu betrüben
Wir wollen uns, eh ichs vergeß
Um des Himmelswillen nicht lieben,
Holdseligste Prinzess.

 

Am 6. Dez. 1842 schrieb der Kieler Freund und Herausgeber der „Neuen Kieler Blätter“, Hermann Carstens aus Schleswig an Mommsen8: In Husum bin ich nicht gewesen, aber er (wie Du ihn nennst) ist bei mir gewesen und kreuzfidel. Es ist jetzt so gut als ausgemacht, dass er in Husum bleiben und seines Alten Praxis bekommen wird. Jetzt ist er sehr in Geschäftstätigkeit, hat aber nebenbei doch manche Sagen und namentlich Märchen und Sagen gesammelt. Vielleicht gehe ich Sonnabend nach Husum; übrigens wird er mit mir nach Kiel reisen und von da nach Hamburg.

Storm muss also noch einmal nach Altona gefahren sein, aber aus den Plänen für einen Weihnachtsbesuch bei Bertha wurde nichts; Mitte Dezember heißt es im letzten Brief Theodors an Berthas Stiefmutter9: Ich kann nicht und käme der ganze Himmel zu mir, ich müsste mich abwenden. Leben Sie wohl! Gott segne Sie, und lasse Bertha einmal von einer Liebe umfangen werden, wie ich sie vergebens zu ihr im Herzen trug.

 

Und als er kehrt zum Vaterherde10
Da ist ein süßer Ton erwacht
Der kam vom Himmel auf die Erde
geoffenbart durch die Nacht.

                   __

Und Abends liegt die Welt so still,
Vergessen ist die süße Früh –
Nicht weiß das Herz, wohin es will.

                   __

 

Damit schien die Angelegenheit für Storm beendet und er wandte sich anderen gesellschaftlichen Ereignissen in seiner Vaterstadt Husum zu. In seinem autobiographischen Text „Der Amtschirurgus – Heimkehr“ erinnert er sich später an diese Zeit11: Ich entsinne mich eines Spätherbstnachmittages; so ungestört war ich seit meiner Heimkehr nicht durch die Stadt gewandert; denn der erste Novembersturm hatte die Gassen leer gefegt. Ich sah mir die Häuser an und gedachte ihrer einstigen Bewohner. Hier auf der Bank unter den Linden, von deren Zweigen jetzt die letzten Blätter wehten, saß einst der lustige Herbergsvater, der uns Schülern stets das griechische „Heureka“ zum Gruß entgegenrief. – Heureka– Gefunden! – ob man wohl das Wort auf seinen Sarg geschrieben hat?

Und drüben jenes Giebelfenster mit den zertrümmerten Scheiben; – die Donner des Frühlingsungewitters sind längst verhallt, die ich in lauer düfteschwerer Nacht dort über meinem Haupte rollen hörte; aber wo ist sie geblieben, die ich so fest in meinen Armen hielt? – Ich habe das blasse Gesichtchen nie vergessen können, wie es beim Schein der Blitze aus dem Dunkel auftauchte und wieder darin verschwand. – Hu! Wie kommen und gehen die Menschen! Immer ein neuer Schub, und wieder: Fertig! – Rastlos kehrt und kehrt der unsichtbare Besen und kann kein Ende finden. Woher kommt allʼ das immer wieder, und wohin geht der grause Kehricht? – Ach, auch die zertretenen Rosen liegen dazwischen.

Nun knüpfte er an alte Kontakte aus seiner Schulzeit wieder an und sah sich dabei bei den in der Zeit seiner Abwesenheit herangewachsenen Mädchen um, unter denen ihm Anna Setzer, die mit Bertha gleichaltrige Tochter des Husumer Amtsverwalters Anton Wilhelm Ludwig Setzers, aufgefallen war, wie er Theodor Mommsen in Kiel berichtete12: Der Brief schreitet langsam fort! Aber ich bin durchweg so wenig gesammelt; ich hänge so in der Luft. Ich weiß noch nicht, ich weiß noch gar nicht, wie sich mein Leben gestalten soll, nach keiner Richtung hin; nach Hamburg, wohin ich Weihnachten so bestimmt wollte, kann ich meiner Nase wegen durchaus nicht, die durch eine Reise zum dänischen Examen nach Schleswig einen Rückfall bekam. Dies Examen dauerte beiläufig gesagt Morgens von der ersten Tasse Tee gerade zur zweiten. Daneben werde ich gesellig sehr stark in Anspruch genommen; war ich innerlich frisch und Eins, ich müsste diese Zeit wegen ihrer geselligen Eleganz und Federkraft zu den angenehmsten zählen.

Theodor Storms Suche nach einem geeigneten Ersatz für sein verlorenes Mädchen Bertha hatte in Husum begonnen.

 

Anmerkungen


1 Bertha von Buchan an Theodor Storm, Brief vom 20. Oktober 1842. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 145-148.

2 Therese Rowohl an Theodor Storm, Brief vom 21.10.1842. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 148-150.

3 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 31. Oktober 1842; Briefe Mommsen, S. 33f.

4 Brief vom 29. Juni 1843, zitiert nach Briefe Mommsen, S. 35f.

5 Therese Rowohl an Theodor Storm, Brief vom 26.10.1842, StA. Zitiert nach Eversberg 1995a, S.

6 Zitiert nach Briefe Mommsen, S. 34f.

7 MG, S. 115.

8 Zitiert nach Briefe Mommsen, S. 43.

9 Theodor Storm an Therese Rowohl, Gertrud Storm zitiert aus dem ihr vorliegenden Brief ohne nähere Angaben; Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. Jugendzeit, S. 155.

10 MG, S. 116.

11 Veröffentlicht im Zusammenhang der „Zerstreute(n) Capitel“ In: Westermann‘s Illustrirte Deutsche Monatshefte 29. 1870/71, S. 487-494; hier zit. nach LL4, S. 169f.

12 Theodor Storm an Theodor Mommsen, Brief vom 21. Dezember 1842; Briefe Mommsen, S. 42.