Die poetische Betrachtung musste dem Grauen weichen ‒ Der Sagensammler

 

Als Theodor Storm seine juristischen Studien an der Kieler Universität beendete, verabredete man im dortigen Freundeskreis, Sagen, Märchen, Schwänke, Lieder und Sprichwörter aus der Heimat zu sammeln. Damit folgten die jungen Wissenschaftler einer Tradition, die bereits einige Jahrzehnte zuvor die Brüder Grimm und andere Sammler bewogen hatte, regionale Erzählungen aller Art zu sammeln, die vorwiegend durch mündliche Überlieferung tradiert wurden, und sie durch die Veröffentlichung in Buchform einem breiten Publikum bekannt zu machen und so für die Nachwelt zu bewahren.

Die Sammeltätigkeit erstreckte sich sowohl auf die Niederschrift mündlicher Sagentraditionen als auch auf die Abschrift von gedruckten Überlieferungen. Die jungen Amateurforscher orientierten sich dabei an den Prinzipien, die die Brüder Grimm 1816 in ihrer Vorrede zu den „Deutschen Sagen“ dargelegt hatten, nämlich Treue und Wahrheit sowie Mannichfaltigkeit der Sammlung.1

Dass eine solche Sammeltätigkeit in den Herzogtümern Schleswig und Holstein erst relativ spät begonnen wurde, hatte mit den besonderen politischen Verhältnissen im Norden des deutschen Sprachraums zu tun. Einerseits bedeutete die Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein zum Dänischen Gesamtstaat eine gewisse Abtrennung von der kulturellen Entwicklung im übrigen deutschen Sprachraum, andererseits begannen die Gebildeten im Lande erst durch den aufkommenden Nationalgedanken in den 40er Jahren mit einer Besinnung auf die Tradition der deutschen Sprache in einer Region des kulturellen Nebeneinanders von deutscher und dänischer Lebensart.

Wir wissen nicht, von wem die Idee zur gemeinsamen Tätigkeit stammt; als Theodor Storm im Herbst 1842 nach Husum zurückkehrte, brachte er jedenfalls schon eine Mappe mit einigen Sagen und Märchen mit. In seiner Handschrift „Meine Gedichte“ findet sich nach einem auf den 20. August 1841 datierten Gedicht folgender Entwurf, der sein Interesse an Hexenspuk belegt:

 

Hell reißt der Mond die Wolken auf
Und wirft sein scheues Licht
Durchs halbvergilbte Fensterglas
Der Hexe ins Gesicht
2

 

Sein Interesse an Spukgeschichten wird bereits während der Zeit erkennbar, als er in Bertha von Buchan verliebt ist und ihr von gespenstigen Erscheinungen erzählt. Aus den Briefen, die er seit November mit Theodor Mommsen in Kiel wechselte, geht hervor, wie intensiv Storm in Husum und Umgebung nach Sagen und verwandten Erzählungen forschte. So schreibt er am 1. Dezember 1842 an Mommsen3: Erinnerung sah mich aus allen Winkeln an mit tausend Augen; dabei sammelte ich Sagen und Volksglauben und Märchen, die mir von allen Seiten zuflossen; wegen meines Unwohlseins ging ich nicht aus; nur zu einer alten halbverrückten Person, die in einem unsrer Hinterhäuser in einem zimmerartigen Verschlage haust, bin ich Abends mehrmals gegangen, um mir unter den sonderbarsten Exklamationen und Gebärden Stücke von ihr erzählen zu lassen. Dabei schnurrte in den Pausen das Spinnrad, der Kater lag unter dem Ofen und schnarchte wie ein Kind; denn er war krank und medizinierte; auf dem Tisch brannte eine Tranlampe - vollkommner Hexenapparat.

Ganz ähnlich hatte sich Theodor Mommsen in seinem Brief an Storm vom 11. November ausgesprochen, mit dem er dem Husumer Studienfreund neben Briefen von anderen Cliquenmitgliedern und eigenen Gedichten auch einige Sagen zugeschickt hatte4: Mein eigener Beitrag besteht in einer Anzahl Sagen, die Ihnen hoffentlich lieb sein werden; mir haben sie viel Freude gemacht, vielleicht aber nur, weil Jugenderinnerungen sich daran knüpfen. Die poetischen Beiträge sind freilich sehr unbedeutend. – Überhaupt scheint das Glück unsrer Sammlung zu blühen; es haben sich mir noch einige Quellen aufgetan, die zwar nicht für den Augenblick, aber doch später zu rentieren versprechen. Näher bezeichnen will ich sie nicht, da es eben nur Aussichten sind.

Beide Sammler legten verschiedene Hefte an, in die sie Sagen, Märchen und andere Texte eintrugen und diese neben losen Blättern einander mehrfach zuschickten, damit jeder des anderen Notizen übernehmen und ergänzen konnte. Aus der Korrespondenz zwischen Storm in Husum und Mommsen bzw. später mit Müllenhoff in Kiel geht hervor, dass die von Storm angelegten Sammelbücher von Mommsen für die Herstellung und Ergänzung seiner eigenen Aufzeichnungen verwendet wurden. Ebenso sind alle von Mommsen aufgezeichneten Sagen durch Storms Hände gegangen, so dass auch diese Texte im Prozess ihrer Niederschrift Spuren beider Autoren enthalten.

Das Ziel, das Mommsen zunächst verfolgte, war die Herausgabe ausgewählter Proben der gemeinsam zusammengetragenen Sagen und die möglichst breite Bekanntmachung des Sammelprojekts, um viele Mitarbeiter zu gewinnen, damit später ein größeres Editionsprojekt in Angriff genommen werden konnte. Der Ausgangspunkt für die Sammeltätigkeit war der jeweilige heimatliche Erfahrungsraum, wie Storm dies in seinem Brief an Mommsen vom 1. Dezember 1842 beschreibt: Mir war in der Periode ganz graulich zu Muth, es wurde in unserm Hause so viel und immer des Abends von Sagen und dann von Volksglauben überhaupt gesprochen; meiner Mutter war selbst allerlei widerfahren in den letzten Jahren, was ich noch nicht wusste. Dieser Raum erstreckte sich nicht nur auf Husum, Eiderstedt und Nordfriesland, sondern auch ins nördliche Dithmarschen und über Friedrichstadt und die Landschaft Stapelhorn bis nach Hohn in der Eider- und Sorgeniederung westlich von Rendsburg, wo Storm häufig Verwandte und Bekannte besuchte.

Der Kreis der Sammler, zu denen neben Theodor Mommsens Bruder Tycho auch viele der Cliquen-Mitlieder zählten, weitete sich immer mehr aus, bis Mommsen am 1. Februar 1843 vorschlug, einige Beispiele drucken zu lassen und mit einem Aufruf zu weiterer Sammlung an Bekannte zu schicken: Um Ihnen noch einen Einfall mitzuteilen, wie wäre es, wenn wir von den Sagen und Sprüchen einen Bogen zur Probe als Manuskript drucken ließen, um ihn unter Bekannten und Unbekannten auszustreuen und dadurch Teilnahme und Beihülfe zu erwirken? Die Kosten sind nicht bedeutend und würden uns, glaub ich, reichlich belohnt werden. Eine bloße Aufforderung würde schwerlich etwas helfen und wenn es Ihnen Ernst mit der Sammlung ist, müssen wir jedenfalls noch andere Sammler herbeiziehen. Allenfalls ließe sich auch schon ein erstes Heft zusammenstellen, und man könnte es auch einmal so versuchen. Was meinen Sie? Das sind Aussichten für den nächsten Sommer.

Parallel dazu plante der in Friedrichstadt wirkende Lehrer und Publizist Karl Leonhard Biernatzki (1815-1899) die Herausgabe eines „Volksbuchs“ für die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, das jährlich erscheinen sollte und für das er Material aus den Herzogtümern suchte, unter anderem auch „heimische Sagen, kurze historische, landwirtschaftliche Miscellen, Sinnsprüche, Wortspiele und dergleichen mehr“, wie aus einer gedruckten Ankündigung vom Februar 1843 hervorgeht.5 Man wurde sich schnell einig und beschloss, eine Auswahl von Sagen, die Theodor Mommsen und Theodor Storm zur Sammlung beigetragen hatten, unter beider Namen zu veröffentlichen.6

Im September 1843 erhielt der junge Germanist Karl Müllenhoff (1818-1884) an der Kieler Universitätsbibliothek eine Anstellung; er hatte unabhängig von den Freunden ebenfalls mit dem Sammeln schleswig-holsteinischer Sagen begonnen. Da die Zusammenarbeit zwischen Storm und Mommsen nur schleppend voranging – Storm war intensiv mit der neuen Berufstätigkeit als Advokat beschäftigt, Mommsen promovierte an der Kieler Universität und sah sich nach einer beruflichen Existenzgrundlage um –, forderte Mommsen seinen Freund am 10. November 1843 auf, seinem bereits gefällten Entschluss zuzustimmen und Müllenhoff als Herausgeber in ihren Kreis aufzunehmen. Storm erklärte sich einverstanden und nun wurde das Unternehmen unter Federführung Müllenhoffs energisch mit dem Ziel einer möglichst schnellen Publikation vorangetrieben.

 

Storm notierte Erzählungen von einfachen Leuten aus der näheren Umgebung; gegenüber Theodor Mommsen spricht er davon (Brief vom 31. Oktober 1842), dass auch Nähmädchen nicht zu verachten seien: Ich versichere Sie, am Abend, da die Dienstmädchen diese Geschichte mit so sicherm Glauben erzählten, fühlte ich so recht, wie mir der Spuk faustdick unter die Nase kam, und die poetische Betrachtung musste dem Grauen weichen. Er fügt der Nacherzählung einer Sage, die er dem Freund mitteilt, folgende Anmerkung hinzu7:

 

In dem Dorfe Rantrum brannte voriges Jahr ein Haus aus, wie man sagt durch Anzünden des Eigentümers, er erbaute ein neues Haus auf der Stelle; das er an einen jungen Rosskamm verkaufte. Dieser nahm sich den letzten Herbst eine junge Frau; aber in der Hochzeitsnacht erkrankten beide, er starb nach 14 Tagen, sie liegt noch zu Bett und ist, obgleich die Ärzte es wollen, nicht zum Aufstehen zu bewegen; sie kann nicht vor Grauen aus dem Bett. In dem Pesel des Hauses ist plötzlich eine Hand aus der Wand gewachsen, vollkommen mit Gliedern und Gelenken; man hat sie abgeschnitten und sie in einer Schachtel bewahrt.

 

Storm trug Storm einige Hexen-Sagen in sein Notizbuch ein, die er vermutlich während seines längeren Aufenthaltes in Altona gehört hatte, als er dort im Sommer 1843 einen des Mordes angeklagten Mandanten seines Vaters verteidigte.8

 

Wilster.

In Wilster gabʼs ehedem viele Hexen und böse Leute, das ist aber lang her. Die Urgroßmutter erst hat es der Großmutter als Kind erzählt und die Geschichte angefangen „Dat wår vör min Tid“ die Großmutter hats dann mir erzählt.

Da war aber ein junger Mann; der vorzüglich sie sehen und kennen konnte. Der stand eines Tags auf einem Platz in d. Stadt, wo eine Menge Bauholz gelagert war, vor einem alten Hause und schimpfte zum Giebelfenster hinauf  „Wat sitzt du dar allwedder, und spinnst, du ole verfluchte Hex“ Da rief die Hexe herunter „Sönken, Sönken, låt mi doch min Fåden spinnen.“ und augenblicklich saß der junge Mensch unter dem Bauholz, wo ihn die Leute nur mit Mühe hervorzogen

                                               ‒

Eines Nachts wird derselbe junge Mann durch ein fürchterliches Spectakel aus dem Schlaf geweckt, (gestrichen: als wenn man an Kessel schlüge und mit der Feuerzange). Wie er das hört muß er aus den Federn, da sieht er einen ewigen Zug von Weibern auf Besenstielen und Ofengabeln reiten, die schlagen mit Feuerzangen an blanken Kesseln, und so gehts fort. Er muß hinterdrein. Wie sie auf den Kreuzweg kommen halten sie einen großen Tanz, er muß mit allen rundtanzen; auch haben sie einen großen silbernen Becher, der geht von Hand zu Hand, daraus trinken sie dem jungen Menschen zu und halten einen Ringeltanz um ihn. Wie der den Becher in die Hand bekommt, schlägt die Uhr Eins; die Hexen verschwinden und er bleibt allein nach mit dem Becher in der Hand. Als er sich besonnen hat, sieht er daß die Namen aller Hexen auf dem Becher ausgegraben sind; oben an steht die Frau Bürgermeisterin. Da geht er am ander Morgen zum Bürgermeister, und erzählt ihm alles, wie schändlich es hier in der Stadt hergehe, und wie seine eigene Frau eine Hexe sei, der Bürgermeister aber gab ihm viel Geld, damit er schweige.

                                               ‒

Folgende Geschichte aber, sagte d. Erzählerin, sei in ihrer eignen Familie passirt. Das Kind war krank und eine kluge Frau sagte, dem Kinde sei wasʼ angethan von Bösen Leuten; man müsse es ausräuchern, Nachts um 12 Uhr bei verschlossenen Thüren; dann würde der kommen, derʼs gethan, und sich irgendein Gewerbe machen; man müsse aber Blut von ihm auf ein Tuch zu bekommen suchen und das verbrennen.

Nun verschloß man zur richtigen Zeit die Thür, und verhing auch die Fenster bis fast oben hin mit Laken. Dann räucherte man das Kind; alles wie es die kluge Frau befohlen hatte. Das Haus aber hatte, wie noch manche alte Häuser bei uns in kleinen Städten, Fensterladen, die heraufgeklappt wurden, und die aus einer großen Lade für jedes Fenster bestanden, so daß man (gestrichen: darauf stehen konnte), wenn sie herunter geklappt waren, (gestrichen: und) darauf stehen und oben ins Fenster hin einsehen konnte. Das war hier der Fall. Als sie nun das Kind räucherten, so war die Uhr noch nicht Zwölf, da plötzlich schaut die Hexe oben übers Laken weg in die Stube. Der Mann springt hinaus, schlägt d. Hexe ins Gesicht und fängt mit einem Tuch das Blut auf. Als manʼs verbrannt hatte, wurde das Kind gesund.

                                               ‒

Festschreiben konnten manche in Wilster. Zu einem reichen Mann, brachen Nachts zwei Diebe ins Haus und verlangten ungestüm die Schlüssel von ihm. Er bedeutete ihnen sie sollten nur fein ruhig sein, er würde ihnen alles herausgeben, und dann sollten Sie alles friedlich unter einander theilen; er möchte gern, daß alles in Ruh und Ordnung abginge. Nachdem die Diebe das Geld erhalten, so setzen sie sich an den Tisch und theilen. Als sie fertig sind wollen sie aufstehn, können aber nicht die Hand vom Gelde, das Geld vom Tische nehmen.

Indeß sind die Hausleute zusammen gekommen. „Si so – sagt der Hausherr – låt uns man to Bedd gahn; die hebt godsidden!“ Am andern Morgen holt er den Polizeidiener, und macht sie los.

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Ein Anderer, dem immer der Kohl aus dem Garten gestohlen wurde, schrieb den Dieb in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, mit dem vollen Kohlsack auf dem Nacken fest, als er eben über die Planke steigen wollte. Da mußte er oben sitzen und reiten, bis die Leute zur Kirche gingen, und wieder aus der Kirche kamen, und ihn Alle gesehen hatten. Dann machte er ihn los und ließ ihn gehen. –

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In der Ranzauschen Familie standen die Kobolde ehedem in hohen Ehren, und haben noch vor nicht gar langer Zeit immer ihre Näpfchen erhalten. Das Gut Ahrensburg ging aus dieser Familie an die Schimmelmannsche, und mit diesem die Hauskobolde an den neuen Besitzer. Ernst v. Schimmelmann schläft einmal allein in seinem Schloß allein; Nachts steht er auf um nach dem Hof zu gehen, vergeblich sucht er einen seiner Hunde mit sich zu locken, endlich gelingt es ihm, einen bis halb auf d. Treppe mit zu nehmen; da jagt er scheu mit dem Schwanz zwischen den Beinen ins Zimmer zurück. Neben Schimmelm. aber die Treppe hinab und hinauf rauscht es in einem fort. – Als seine Mutter auf d. Gute starb, wußten es gleichzeitig die Verwandten in Wandsbeek; dieß ist das Hauptgeschäft der Kobolde, die wichtige Ereignisse in d. Familie des Besitzers, gleichzeitig allen Verwandten mitzuteilen. –

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In Uetersen brach Weihnachten 1841 in einer Schusterfamilie auf ein mal ein Hexenwesen hervor. Der Nachtwächter hatte die ganze Familie, ohngefähr 10 Personen, mehrfach des Nachts auf Besen nach dem Kreuzgang reiten sehn. Auch hatten sie Katzen geschlachtet und davon Blut getrunken, oder sie lebendig in kaltem Wasser zu Feuer gesetzt. Um dieselbe Zeit wurden mehrer unverleumdete Frauen im Orte als Hexen bezeichnet. – Die Polizei und der Pastor legten sich ins Mittel – die Familie selbst soll unbescholten gewesen sein, doch etwas wunderhaft –

 

Ein weiteres Notizbuch enthielt Märchen, Sagen, Sprichwörter, Redensarten und Reime in niederdeutscher Sprache, darunter folgende Verse aus Husum9:

 

Wer will vörʼn Nahtel Eedreschen kopen?
Ick heff so lang inʼt Water lopen.
Een opʼt Spitt! Twe opʼt Spitt!
Dree opʼt allerhöchste Spitt!

 

Frontispiz zu Sagensammlung; Lithographie von Otto Speckter, Hamburg

 

Auch in Storms Lyrik hat die Beschäftigung mit den Volksmärchen Spuren hinterlassen. Im Liederbuch finden wir ein Gedicht „Märchen“ (S. 26-28), das 1852 unter dem Titel „Tannkönig“ in die Separatausgabe der Gedichte aufgenommen wurde. Die letzten drei Strophen der Ballade stammen von Theodor Mommsen und zeugen von der engen Zusammenarbeit der beiden Freunde, die einander mehrmals Gedichte oder Strophen geschenkt haben. Ein weiteres Gedicht, das von Storm später mit der Überschrift „Märchen“ in die Separatausgabe aufgenommen wurde, steht im „Liederbuch“ unter der Überschrift Fragment und thematisiert die Wirkungen des Märchenlandes auf das Gemüt des Dichters, dem während einer Sommernacht die Feenkönigin Titania erscheint.

Manche der Motive, für die er sich während seiner ersten tastenden Erzählversuche interessierte, begleiteten ihn bis zum Lebensende; davon zeugen spukhafte Elemente in seinen Märchen und Novellen, ja sogar die Fabel seines Hauptwerks, des „Schimmelreiters“, taucht in der frühen Korrespondenz zwischen Mommsen und Storm bereits auf. Storm war schon damals nicht mehr in der Lage, sich an die Quelle der Sage vom „Gespenstischen Reiter“ zu erinnern, die er vier Jahre zuvor in „Pappes Lesefrüchten“ kennen gelernt hatte. Den phantastischen Stoff hat er aber nicht vergessen; im Jahre 1870 dachte er wieder an die Sage, als er seine Erinnerungen an „Lena Wies“ niederschrieb, jene Bäckersfrau aus Husum10, die den Knaben mit ihrer naiven Erzählkunst nachhaltig beeindruckt hat: Und dann - ja, dann erzählte Lena Wies; und wie erzählte sie! – Plattdeutsch, in gedämpftem Ton, mit einer andachtsvollen Feierlichkeit; und mochte es nun die Sage von dem gespenstischen Schimmelreiter sein, der bei Sturmfluten Nachts auf den Deichen gesehen wird und, wenn ein Unglück bevorsteht, mit seiner Mähre sich in den Bruch hinabstürzt, oder mochte es ein eignes Erlebnis oder eine aus dem Wochenblatt oder sonstwie aufgelesene Geschichte sein, Alles erhielt in ihrem Munde sein eigentümliches Gepräge und stieg, wie aus geheimnisvoller Tiefe, leibhaftig vor den Hörern auf.

Die Gestaltung des Unheimlichen in vielen Erzählungen Storms lässt sich also durch das Interesse erklären, das der Dichter sein ganzes Leben für derartige Motive gezeigt hat; die frühe Begegnung mit dem Sagenschatz seiner Heimat regte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit Dokumenten und Büchern an, in denen er Spuren des Unheimlichen und Gespenstischen fand. Neben einer Fülle von Motivübernahmen in Storms späteren Novellen legen aber vor allem seine ersten literarischen Versuche von dieser Passion Zeugnis ab. Zugleich dokumentieren diese Texte den langen Lernprozess, dessen der Husumer Autor bedurfte, bis er sich zu jener Meisterschaft durchgerungen hatte, die seine Leser bis heute bewundern.

 

Anmerkungen


1 Deutsche Sagen. Hrsg. von den Brüdern Grimm, S. IX ff. (Ein solcher Band stand in Storms Bibliothek.)

2 MG, S. 94.

3 Briefe Mommsen, S. 40

4 Briefe Mommsen, S. 36.

5 Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Mommsen-Nachlass, Briefe Biernatzkis an Theodor Mommsen.

6 Schleswig-Holsteinische Sagen. Von Th. Woldsen-Storm und Jens Th. Mommsen. In: Volksbuch 1844, S.80-96.

7 Brief vom 1. Dezember 1842; Briefe Mommsen, S. 40.

8 MG, S. 110-113.

9 Mensing 1923, S. 246 mit dem Hinweis: Die Husumer Jungen pflegen mit Eedreschen  einer Schilfart, wovon das untere weiche Ende gern von den Kindern gegessen wird) einen Handel zu treiben, wobei der Kaufpreis gewöhnlich in Stecknadeln besteht; […].

10 Lena Wies hieß eigentlich Sophia Magdalena Jürgens und lebte von 1797-1868; Storm setzte ihr nach ihrem Tod ein Denkmal mit einer kulturhistorischen Skizze: Lena Wies. Ein Gedenkblatt. In: Deutsche Jugend 1/1873, S. 71-75. Im Folgenden zitiert nach LL 4, S.179.