Man muss eine spröde Geliebte erst mit Füßen treten ‒ Der Erotiker in Husum (1843)

 

Am 1. Dezember 1842 schrieb Storm aus Husum an Theodor Mommsen in Kiel1:

Es ist schon lange her, als ich eines Abends spät aus einer Gesellschaft nach Hause kommend die reiche Sendung von Euch Kielern in Empfang nahm; ich kann nicht sagen, dass ich zu viel zu tun gehabt, um vorzüglich nicht schon Noodts Briefe beantwortet zu haben; aber ich habe zu mancherlei in Händen gehabt, um mit Ruhe schreiben zu können. Ich kann die kurze Zeit meines Hierseins nach ihrem verschiedenartigen Charakter schon in Perioden einteilen; in der ersten Periode war der erneute Eindruck des alten Familienhauses und der alten Vaterstadt vorherrschend […].

 

Marienkirche in Husum. Zeichnung von F. G. Müller um 1870

 

Storm nahm seine früheren Kontakte zu den Kindern der Familie des Husumer Amtmanns von Krogh wieder auf und sammelte für das Kieler Sagenprojekt im Bekanntenkreis allerlei volkläufige Verse und Lieder. Im Brief an Mommsen vom 5. Dezember heißt es2: In der zweiten Periode siehtʼs heller aus; ich komme unter die Leute, gehe in Gesellschaften und auf Assembleen, nun kriegt das Leben auf einmal einen großen Anstoß, und ich arrangiere mit Krogh einen eleganten Ball, und wir versammeln durch unsre mannigfachen Intrigen eine Reihe junger, frischer, lächelnder Mädchengesichter, wie sie seit Olims Zeiten in Husum nicht unter einem Kronleuchter versammelt waren, und wie sie so leicht kein Städtchen gleichen Ranges aufbringt. Nur ein Unglück hatte die Direktion, alle Damen des vorletzten Lustrums, die wegen der Fülle an jugendlichen Gestalten nicht recht zum Tanz kamen, hielten – Wahrheit, auf mein Wort! – am andern Tage einen gemeinschaftlichen Kaffee, wo uns übel mitgespielt sein soll. Übrigens hab ich in Kiel keinen so hübschen und zierlichen Ball erlebt.

Und am 21. Dezember3: Am ersten Januar werden wir bei Kroghs auf dem Schloss allerlei aufführen; unter andern kommt auch eine 2actige von mir verfasste Pantomime mit den gewöhnlichen Figuren zur Aufführung, die nach den Proben brillant gehen wird; denn wir haben zu diesen Sachen hier ganz ungewöhnliche Kräfte. Nach der Aufführung soll Ihnen alles beschrieben werden; ich mache den Harlekin, die Colombine eine siebzehnjährige Schwester von Setzer, das zierlichste Colombinengesicht in der Welt, naiv, capriciös, lächelnd.

Das Mädchen, für das er hier schwärmt, war Sophie Setzer (1825-1849), eine der Töchter des Husumer Amtmannes Anton Wilhelm Ludwig Setzer, mit dessen Kindern Theodor sich nun anfreundete.

Storm kurierte in den Wintermonaten an einer Entzündung in der Nase, was seine Aktivitäten für einige Zeit behinderte. Da er für seine Zulassung als Advokat im Herzogtum Schleswig dänische Sprachkenntnisse nachweisen musste, ließ er sich von seinem Jura-Professor Nicolaus Falck von der ersten Tasse Tee grade zur zweiten prüfen und erhielt ein Zeugnis, in dem bestätigt wurde4, dass Herr Kandidat Storm nicht nur das Dänische mit guter Aussprache liest, sondern auch sowohl poetische als prosaische Stücke mit vollkommener Sicherheit richtig und fertig übersetzen kann.5 Damit beantragte er am 2. Dezember die Zulassung als Rechtsanwalt in Schleswig-Holstein, die er auch postwendend erhielt. In der Korrespondenz mit Theodor Mommsen klagte er6: Die selbe Ursache, die mich hindert, meinen Freunden zu schreiben, hindert mich auch an jeglicher poetischer Produktion; ich habe keinen Reim gemacht.

Am 23. Dezember beantragt Theodor Storm beim Magistrat der Stadt Husum, eine Rechtsanwaltskanzlei in seiner Heimatstadt eröffnen zu dürfen. Sein Vater, Johann Casimir Storm, gehörte damals zu den angesehensten Advokaten der Stadt. Seine Praxis war so umfangreich, dass er seinen Sohn gut als Mitarbeiter oder Kompagnon hätte aufnehmen können. Warum er das nicht tat, sondern den damals 25jährigen, unerfahrenen Juristen veranlasste, eine eigene Rechtsanwaltspraxis zu eröffnen, ist nicht bekannt. Vielleicht fürchtete er interfamiliäre Streitigkeiten; denn sie waren beiden ‚leicht reizbare‘, zu Heftigkeit und Jähzorn geneigte Naturen. Es ist auch möglich, dass der Vater seinen allzu ‚poetischen‘ Sohn auf diese Weise (nämlich dadurch, dass er ihn auf eigene Füße stellte) zu selbständigem, verantwortungsbewusstem geschäftlichem Denken und Arbeiten erziehen wollte. Soviel jedenfalls steht fest: im Februar 1843 ließ sich der junge Theodor Storm als Rechtsanwalt in Husum nieder, und am 23. und 30. April sowie am 7. Mai dieses Jahres konnte man im ‚Husumer Wochenblatt‘ folgende Anzeige lesen: Meine Wohnung ist bei dem Herrn Agenten Schmidt in der Großstraße. Husum, den 20. April 1843 Woldsen Storm, Advocat. Storm hatte sein Vaterhaus verlassen und in der unteren Etage des Hauses Großstraße 11 eine Rechtsanwaltspraxis mit zwei nach Osten im hinteren Hausteil liegenden Räumen gemietet.7

 

Storm sammelt nun plattdeutsche Verse und andere Zeugen der Volkskunst8: Anbei schicke ich Ihnen, was ich an Sagen etc. auch an Märchen hier gesammelt; auch Ihr Buch remittiere ich. Zu der von Ihnen mitgeteilten Sage von der schwarzen Greth muss ich Ihnen doch bemerken, dass in einem Seitengebäude unsres Schlosses ein ungeheurer Saal ist, der jetzt zur Reitbahn benutzt wird, früher aber elegant mit blau und weißem Marmor ausgelegt war. Dieser Saal heißt der Margarethensaal und ältere Leute erinnern sich darin eines großen Bildes der Königin Margaretha, genau wie Sie es in der Sage angegeben, schwarz in königlichem Schmuck; jetzt ist alles verschwunden. Und obwohl er selber erst fünf Jahre zuvor seine ersten Gedichte in einem Wochenblatt veröffentlicht hatte, spottet er: Um Ihnen eine Probe hiesiger das heißt der nordschleswigschen Wochenblattspoesie, zu der auch einige Primaner ihren Mist geben, zu liefern, will ich nur den Titel eines langen Gedichts aus dem Eiderstedter Boten anführen ‚An Laura (Stern im Dunkel)ʼ. Das übrige war sehr gefühlvoll. In einem neuen Roman von Julius Mosen Der Kongress von Verona9 habe ich nur geblättert; er scheint aber lesenswert; können Sie ihn bekommen, so lesen Sie wenigstens das Kapitel, wo der Deutsche der schönen Veroneserin die Geschichte seiner Jugendliebe erzählt.

Der Lektürehinweis bezieht sich auf eine Erzählung von einer Kinderliebe, die folgendermaßen schließt: Als Arnold seine Erzählung geendigt hatte und traumfroh zu Francesca emporblickte, sagte sie: „Ihr habt mir für die Geschichte Eurer ersten Liebe ein Märchen erzählt!“ – „Ist die erste Liebe,“ versetzte Arnold, „etwas anderes, als ein Märchen?“10

Mommsen antwortet am 16. Januar11: Ihre plattdeutschen Sachen haben mir viele Freude gemacht; ich habe sie meistens kopiert, wurde aber ebenfalls darin zu sehr gestört, um sie Ihnen jetzt schon zurücksenden zu können. Nächstens sollen Sie sie haben und vielleicht einige kleine Nachträge von mir. Noodt ist noch in Hamburg; Sie glauben nicht, wie empört er in der letzten Zeit gegen Sie war; wenn Sie ihm nicht bald schreiben, so gehtʼs nicht gut. Lassen Sie sich das gesagt sein. Ich schreibe hier unten bei Andersens und die Konfusion ist jetzt so groß, dass ich schließen muss. Leben Sie wohl und vergessen Sie uns nicht wieder so lange! In den nächsten 8 Tagen haben Sie Briefe von mir.

Guido Noodt, der sich wie Storm unglücklich verliebt hatte, schrieb am 21. Januar 1843, nachdem er Storms Brief erhalten, an Mommsen12: Heute ist ein kritischer Tag für meine Liebe, und ich sage so die besten Erwartungen; denn ich muss am Ende doch dem großen Erotiker Storm Recht geben, welcher behauptet: „man müsste eine spröde Geliebte erst (wie er sich ausdrückt) mit Füßen treten und zu Tränen bringen, dann besitze man sie ganz“ ‒ ... Storms Brief enthielt nach einer halben Entschuldigung einen langen Panägyrikus [eine prunkvolle Rede aus feierlichem Anlass] auf meine Liebesangelegenheiten, der gegen alle Erwartungen so günstig war, dass ihm eine Gratulation in optima forma (des Verfassers eigene Worte) beigefügt war. Auch dieses hat einen sehr guten Eindruck auf mich gemacht, da ich das Unheil der romantischen Schule wirklich etwas fürchtete, was zum Teil meine Ungeduld auf einen Brief von Storm begründete. Jetzt muss sich zeigen, ob Storm es verdient, dass wir vergeben & vergessen; ich für mein Teil denke wenigstens nun noch einige Versuche mit der Korrespondenz zu machen.

Die Korrespondenz mit den Kieler Freunden wird in enger Folge fortgesetzt; schon am 23. Januar 1843 heißt es im Brief an Mommsen13: Sie haben mir einmal gesagt, Sie fänden den Winter unschön und unpoetisch; daraus ist mir heute recht Ihre heimliche Neigung zur Romantik klar geworden; ich habe ihn heute Morgen in seiner klaren, kristallenen Schönheit aus meinem Fenster gesehen. Unten im Garten war ein feenhafter Schmuck über Nacht aufgegangen; alle Bäume streckten blendend weiße funkelnde Zweige in die feine durchsichtige Luft; der reinste Sonnenschein lag auf den Wipfeln. Es war in der That schön; aber kein einzig heimlich Winkelchen dabei; nur ein großes Bild. Ihre Briefe wollen noch nicht kommen; ich fühle die Nemesis; vielleicht hat auch der in währender Zeit an Sie abgesandte fliegende Auftrag [Storm hatte Mommsen in einem undatierten Briefzettel um die Besorgung von grüner Seide ‚in fliegender Eileʼ gebeten] sie auf und abgehalten.

Mitte Februar half Storm dem Lehrer Karl Leonhard Biernatzki in Friedrichstadt bei der Redaktion des ersten „Volksbuchs“; bei allen diesen Aktivitäten gelingt ihm die Verabschiedung von Bertha offenbar immer noch nicht, denn er schließt seinen Brief an Mommsen vom 21. Februar14: Hier noch ein Paar Verse von mir, aber Sie wissen –

 

Gestehʼs, es lebt schon Einer,
Der Dich heimlich geküsst einmal,
Der Deinem Kindermunde
Der Lippen Zauber stahl.

Und gäbst Du mir alle Liebe
Und liebt ich Dich so sehr,
Ich könnte Dich nimmer umfangen,
Und herzen Dich nimmermehr.

Es zieht mich zu Dir hinüber
So gewaltig und liebewarm –
Was bist Du so unwiderstehlich schön,
Und doch so bettelarm!

 

Dazu notiert Storm noch diese hoffnungsarme Variante: Deine Lippen sind entzaubert,/ Ich muss Dich meiden von dieser Zeit,/ Der zweite Kuss von Mädchenlippen/ besiegelt keine Ewigkeit.

Am 6. März schreibt Storm im nächsten Brief an Mommsen15: Mir selbst geht es in vieler Hinsicht gut, ich lebe in angenehmen Verhältnissen zu meiner Familie, bekomme nach und nach Praxis, mehrere meiner öffentlichen Plädoyers sind von urteilsfähigen Praktikern sehr belobt, meine schriftlichen Arbeiten findet mein Papa nicht selten ganz vortrefflich, kurz in dieser Beziehung fehlt mir nichts; aber mir fehlen Freunde; ich habe hier keinen, der mir einigermaßen näher stünde; die Jüngern Leute sind zu verschieden von mir, namentlich Setzer, dass ich die kleinste meiner Handlungen grade vor den Leuten, auf die ich durch die sozialen Verhältnisse angewiesen bin, einer schonungslosen misskennenden Kritik ausgesetzt sehn muss. ‒ Ich habe eine rechte Sehnsucht, Sie wiederzusehn; schreiben Sie mir doch bald ein Wort; um gut 14 Tage komme ich nach Hamburg. Sie müssen da sein!

Mommsen informiert Storm am 7. März über die Ereignisse im Kieler Freundeskreis16: Und nun muss ich selbst noch einen Klatsch berichten, weil ich es Gretchen versprochen habe. ‒ Frl. Doris Lindes Verlobung mit stud. med. Schlömer, einem Fuchs. Ob diese Affenschande Sie interessieren kann ‒ Einer ist ihr schon durchgebrannt ‒ das mag Gott und Gretchen wissen. Übrigens hätte Gretchen Ihnen selbst geschrieben; Ihren Kutscher haben Sie gut zugestutzt, er hat sie richtig dahin gebracht, dass sie Ihnen zu schreiben versprach, aber Faulheit und Jungfer Hennings haben es doch verhindert. Einen Schnaps hat Ihr Jochen oder wie er heißt redlich verdient.“

Am 18. April 1843 hatte Storm mit Unterstützung seiner Schwester Helene einen gemischten Chor gegründet, den Husumer „Singverein“, der zunächst aus 10 Damen und 8 Herren bestand und der sich zu Proben in einem Husumer Privathaus traf. Das erste Lied, das man gemeinsam einübte, war Mendelssohns „Frühlingslied“.17

Dafür brachte Storm beste Voraussetzungen mit; in Husum hatte ihm der Organist Philipp Caspar Windt das Klavierspielen beigebracht, am Katharineum in Lübeck, wo seit Michaelis 1835 der Collaborator Karl Mosche Singunterricht erteilte, wurde dieser Unterricht fortgesetzt. Das Schulprogramm 1835 enthält die Ankündigung von Rektor Jacobs mit dem Hinweis, dass in den drei oberen Klassen der Gesang kunstmäßig behandelt wird. Mosche hat selbst komponiert und neben seinem Gesangsunterricht die Schüler der oberen Klassen auch durch theoretische Vorträge unterwiesen.18

Das Handwerk des Chorleiters schaute Storm sich währende seiner Studienzeit in Kiel bei Karl Grädener ab. Gertrud Storm berichtet19: Auch das gleich rechts vom Flur des Elternhauses gelegene Musikzimmer wurde fleißig benutzt. Storm sang mit seiner kräftigen, der feinsten Biegungen fähigen Tenorstimme Lieder von Schubert und Mendelssohn, wobei seine Schwester Helene ihn begleitete. Die spätere Vorliebe des Chorleiters Theodor Storm für Werke des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy stammt von der Sympathie seines Lehrers Karl Grädener.

Anfang Mai reiste Theodor Mommsen nach Altona, um dort nach seinem erfolgreichen Examen eine Stelle als „Mädchenlehrer“ anzutreten; Theodor Storm wartete auf einen Termin, um in Vertretung seines Vaters dort einen Angeklagten wegen eines Mordes zu verteidigen. In Storms Antwortbrief vom 14. Mai schwingt etwas mit, das wohl mit seiner Sehnsucht nach Bertha zu tun gehabt haben muss20: Ihr Brief, lieber Mommsen, hat mich mit so lebhafter Freude erfüllt, dass ich nicht umhin kann, ihn umgehend zu beantworten. Nun können wir uns recht froh in Altona wiedersehn; denn auch ich bin jetzt zufrieden; das bis jetzt ist endlich auch gut geworden bei mir, wie Sie es mir tröstlich prophezeit haben. […] Meine Reise wird sich übrigens wohl um einige Wochen verziehen. Die Sache steht so: Sie wissen, dass hier ein recht bedeutender Kriminalfall in Untersuchung ist: Steffens aus Schwabstedt (vor einigen Jahren des an einem Nachtwächter, der in einem Diebstahl gegen ihn gezeugt hatte, begangenen Mordes wegen inhaftiert, von meinem Vater verteidigt und wegen mangelnder Beweise von der Instanz absolviert; jetzt wegen nächsten Mordversuchs an drei Vorstehern seines Kirchspiels, weil sie ihn nach dem Schleswiger Armenhause bringen wollten, angeschuldigt) hat geäußert, dass er meinen Vater zum Defensor wählen würde; ich hätte dann die Arbeit und nicht die Ehre; daher hab ich ‒ aber sub sigillo! ‒ durch den Schreiber meines Vaters weiter durch dessen Freund den Gefangenwärter dahin intrigiert, dass Inculpat mich erbitte, und es scheint also geschehen zu wollen. Keinenfalls werde ich der Arbeit entgehn ‒ ich oder mein Papa! ‒ Die Konstituierung wird wahrscheinlich in 14 Tagen erfolgen, und so werde ich denn vor Ende Juni nicht nach Altona kommen. Seltsam, wie sich mir dabei immer eins ums andre in den Weg legt; aber ich komme. ‒

 

Den Töchtern des Senators Jensen in Husum gab er in dieser Zeit Gesangsunterricht und versammelte eine Reihe junger Mädchen im neu gegründeten Chor, der sein erstes Konzert am 21. August auf dem Husumer Rathaussaal gab. Unter den Sängerinnen waren auch Charlotte von Krogh21 (1827-1913), die jüngste Tochter des Husumer Kammerherrn Godske Hans Ernst von Krogh, der als Amtmann im Schloss vor Husum residierte und eine Dienstwohnung im Nordflügel bewohnte, sowie ihre ältere Schwester Auguste, genannt Guste, (1811-1885), in die sich Theodor bereits im letzten Jahr seiner Primanerzeit an der Husumer Gelehrtenschule verliebt hatte. In den Jahren von 1843 bis 1848 verband nun Charlotte eine Freundschaft mit dem jungen Rechtsanwalt.

 

Charlotte von Krogh (1827-1913), Bleistiftzeichnung

 

Lotte, wie die jüngere Schwester in der Familie und im Freundeskreis genannt wurde, hatte eine Vorliebe für Gespenstergeschichten und erzählte ihrem damals seelenverwandten Freund, was sie an unheimlichen Berichten in Erfahrung bringen konnte. Ihr Vater stammt aus einem norwegisch-dänischen Adelsgeschlecht, wurde auf Schloss Gram (Gram Slot) geboren und wuchs in Åstrupgård bei Haderslev in Nordschleswig auf, einem Gut, das sich später im Besitz eines seiner Brüder befand. Zwei weitere Brüder bewirtschafteten die beiden in der Nähe liegenden Güter Nygård und Marielyst (Marienlust). Familiäre Verbindungen gab es zur Familie von Schack, die Schloss Gram sowie das Schloss Schackenborg in Møgeltønder bewohnte.

Lotte brachte von ihren Reisen zu den Verwandten eine Reihe von Spukgeschichten mit, die sie ihrem Freund Theodor erzählte und die dieser nach ihren Angaben niederschrieb. Für die von Karl Müllenhoff veröffentlichten Sagen aus Schleswig-Holstein22 lieferte er die „Schacken-Sage“ (Nr. 27), „Das liebe Brot“ (Nr. 30), „Die Gräfin Schack“ (Nr. 37), „Das Gespenst auf Gram“ (Nr. 69) sowie den „Untergang der Schakenburg“ (Nr. 83).23 Bei diesen Texten handelt es sich eigentlich um kurze Spukerzählungen, die Müllenhoff unter seine Sagen mischte, während er die längeren Gespenstergeschichten, die Storm ihm zugeschickt hatte, später nach Husum zurücksandte.24

Storm besuchte die Familie von Krogh häufig im Schloss vor Husum; dabei hat er Gespenstergeschichten mit dem jungen Mädchen ausgetauscht und sich wohl auch ausgedacht. Man plante sogar, ein gemeinsames Buch unter dem Titel „Theolot“ (ein Akronym aus Theodor und Lotte) zu schreiben, wie aus einem Anfang der 1860er Jahre von Charlotte (sie war Malerin geworden) an Theodor geschriebenen Brief hervorgeht: Erinnern Sie noch, als wir im sogenannten Kleinen Schlossgarten über den Plan sprachen ein Buch ‚Theolotʼ, mit lauter Spuckgeschichten zu schreiben? Sie werden an meinem Briefstyl erkennen, dass ich klüger getan habe, den Pinsel zu ergreifen – und Ihnen die Feder zu überlassen!25

Theodor fand auch Interesse an der 1823 geborenen Laura Setzer, Tochter des Amtsverwalters in Husum, und an der 1828 geborenen Dorothea Jensen, mit der er in seinen ersten Ehejahren eine Beziehung unterhielt, worüber später noch zu berichten sein wird. Auch seine Cousine Constanze Esmarch sang im Sommer 1843 während ihres Besuchs in Storms Elternhaus in diesem Chor mit, was nicht ohne Folgen bleiben sollte.

Storm war nun auf der Suche nach einer jungen Frau, in die er sich verlieben konnte und die eine passende Ehefrau des nun erfolgreich als Advokat praktizierenden jungen Juristen geeignet war. Aber das Bild Berthas ließ ihn nicht los. Anfang November schickte er an den „Mädchenlehrer“ Theodor Mommsen in Altona26: Wollen Sie nun noch Verse, neue Verse hören? Ich hab keine andern immer fürlieb! und schickte ihm folgendes Gedicht:

 

Ständchen (2)

Weiße Mondesnebel schwimmen
Auf den grünen Wiesenplanen;
Hörst Du die Gitarre stimmen
In dem Schatten der Platanen?

Dreizehn Lieder sollst Du hören,
Dreizehn Lieder, frisch gedichtet.
Alle sind, ich kannʼs beschwören,
Alle nur an Dich gerichtet.

Launenhaft wie Mädchenstirnen
Bald in Helle, bald in Trübe;
Wie Dein Lächeln, wie Dein Zürnen
Halb in Zorn und halb in Liebe.

Und das Ganze ist ein Märchen
Wunderlieblich und erbaulich,
Und das Schönste ist ein Pärchen
Liebeseinig und vertraulich!

 

Schloss vor Husum um 1900, Fotografie von Unbekannt

 

Dafür, dass dieses Lied keiner der jungen Frauen gewidmet ist, mit denen Theodor nun Umgang hatte, spricht seine Bemerkung, die er der Niederschrift im Brief an Mommsen hinzugefügt hat (der Druck des „Liederbuch(s) dreier Freunde“ hatte gerade begonnen): Das Dings liegt schon vor Anfang des Druckes des 2. Buchs in meinem Pult; es spricht mich selbst aber nicht an, Sie? Offenbar hatte er unter den Husumer Heiratskandidatinnen noch keine spröde Geliebte gefunden, die er mit Füßen treten und zu Tränen bringen konnte.

Sommer 1843 hielt sich Storm wieder in Hamburg auf; diesmal besuche er Therese Rowohl noch einmal. Bei diesem Besuch hat er ausführlich von seinen gesellschaftlichen Aktivitäten in Husum berichtet und wohl auch von seinem neugegründeten Chor, wie aus Thereses Antwortbrief vom 15. September 1843 zu entnehmen ist27: Dass Fräulein Guste Krogh mit dem Polizeiassistenten Hilmers versprochen, hörte ich mit Vergnügen, weil ich daran die Aussicht knüpfte sie in unserer Nähe zu haben ‒ Sie verlieren zwar Ihre Prima Donna in Ihrem Singverein dadurch, und das tut mir für Sie und den Verein leid ‒ sprechen Sie ihr, wenn Sie es wollen, meine freundliche Teilnahme aus ‒ meine Schwester so wie Bertha grüßen Sie freundlichst nicht minder ich. ‒ Theodor versprach Bertha beim Abschied, ihr einige Lieder zu schicken. Dieses Versprechen muss er umgehend eingelöst haben, denn Therese Rowohl bestätigte den Eingang eines entsprechenden Briefes: Ihre mir für Bertha eingesandten Lieder, guter Storm, habe ich derzeit richtig empfangen und an die Behörde eingeliefert ‒ Bertha dankt es Ihnen freundlichst dass Sie so schnell Ihr Versprechen gelöst ‒ dass ich Ihnen ihren Dank erst jetzt so spät dafür ausspreche habe ich allein bei Ihnen zu verantworten und bitte um Verzeihung.

Bei den für Bertha eingesandten Liedern handelt es sich um „Duett“ und „Abschied mit Liedern“. Darüber hinaus haben sich im Nachlass Berthas weitere Gedichte Storms erhalten, darunter „Epilog eines Märchens“ (Ich habʼ es mir zum Trost ersonnen) sowie „Westermühlen“.

 

Abschied28

Mit Liedern

Was zu glücklich um zu leben,
Was zu scheu um Klang zu geben,
Was zu lieblich zum Entstehen,
Was geboren zum Vergehen,
Was die Monde nimmer bieten,
Rosen aus verwelkten Blüten,
Tränen dann aus jungem Leide
Und ein Klang verlorner Freude.

 

In ihrem Brief vom 15. September 1843 fährt Therese fort: Das Duett ist hübsch, und Bertha wird es schon nett singen wenn sie sicherer im Festhalten ihrer Töne ist, es liegt so gut in ihrer Stimme, doch sagt ihr Lehrer es wäre nur hübsch in Begleitung einer Tenorstimme wie der Komponist ja auch ausgesprochen, da wird der Gesang mit Friede dazu nicht eignen, weil die Stimmen im beständigen Kampf begriffen scheinen ‒ Doktor Schöne will Bertha nicht zugestehen dass sie ein schweres g hält, daher wird sie das gis in dem zweiten Liede nicht singen dürfen, und es um einen Ton tiefer transponieren ‒

Storm hatte den Text bereits Anfang des Jahres 1843 geschrieben und am 23. Januar an Mommsen gesandt: Es ist kaum fünf Minuten fertig! und Ich weiß in der Tat nicht, ob man durchaus musikalisch sein muss, um das Dings zu verstehen; glaube es jedoch nicht, wenn man nur nicht durchaus unmusikalisch ist. Ich habe es an Grädener zur Komposition geschickt.

 

Duett29

Mehr in der Töne Schwellen ‒
Neigt sich die Seele dir;
Höher schlagen die Wellen,
Fluten die Pulse mir.

Fliehen und Wiederfinden,
Wechselnde Melodie!
Lass du die Seele schwinden.
Sterben in Harmonie! ‒ ‒

Hörst du den Ruf erklingen?
Rühren dein träumend Ohr?
Weiße blendende Schwingen
Tragen dich wehend empor.

Selig im Lichte zu schweben
Über den Wolken hoch!
Ließʼt du das süße Leben?
Kennst du die Erde noch?

Aber zum stillen Grunde
Zieht es hernieder schon;
Heimlich von Mund zu Munde
Wechselt ein leiser Ton.

Fernhin rauschen die Wogen –
Schütze mein pochend Herz!
Leis kommt die Nacht gezogen –
Fühlst du der Liebe Schmerz?

 

Im März schickte Mommsen die fertige Komposition nach Husum30: Ihr erstes Lied (Duett) erhalten Sie hiebei von Grädener komponiert, es ist hier gesungen und hat gefallen, nur uns nicht (ich spreche vom Text, die Komposition habe ich nicht gehört). Es ist das Resultat einer verschwimmenden Stimmung, die man durch einen Rettig nach Mörikes Rezept kurieren soll. Ich muss zu Ihrer poetischen Ehre bemerken, dass ich diese Stimmung durchaus an Ihnen nicht kenne und schiebe sie auf den Kräutertee.

 

Mit Mörikes Rezept meint Mommsen das Gedicht „Restauration“31, mit dem er kritisch auf Storms Duett anspielt:

 

Theodor Mommsen

Restauration

nach Durchlesung eines Manuskripts mit Gedichten.

Das süße Zeug ohne Saft und Kraft!
Es hat mir all mein Gedärm erschlafft.
Es roch, ich will des Henkers sein,
Wie lauter welke Rosen und Camille-Blümlein.
Mir ward ganz übel, mauserig, dumm,
Ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um,
Lief in den Garten hinterʼm Haus,
Zog einen herzhaften Rettig aus,
Fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz,
Da war ich wieder frisch und genesen ganz.

 

Aber Bertha blieb auch nach Storms Abschied für ihn weiter präsent; dafür sorgte Karl Scherff in Altona, wie Storm am 2. November 1843 aus Husum an Mommsen nach Altona schrieb32: Gestern erhielt ich einen Brief von Scherff, worin er sich gewaltig über sein versauerndes Philisterleben und über die Vernachlässigung meiner poetischen Freunde beklagt, auf die er stark spekuliert habe. Gehn Sie doch einmal zu ihm und erzählen ihm etwas von unserm Buch etc. etc. Zugleich hat Scherff mir ein Daguerrotyp des hübschen Bildes geschickt, wo sie [Bertha] ‒ lachen Sie nicht über dies ewige κατʼ εξοχήν (schlechthin, außerordentlich) ‒ als neunjähriges Mädchen gezeichnet ist. Und nun lege ich Ihnen hiemit als meinem Freund auf, meinem Vetter für diese große Liebenswürdigkeit durch einen Besuch zu vergelten, und so meine Schulden mir abtragen zu helfen.

 

Anmerkungen


1 Briefe Mommsen, S. 39f.

2 Briefe Mommsen, S. 41.

3 Briefe Mommsen, S. 41f.

4 Briefe Mommsen, S. 41f.

5 Zeugnis über Storms dänische Sprachkenntnisse, ausgestellt von Nicolaus Falck am 29.11.1842. Landesarchiv Schleswig.

6 Briefe Mommsen, S. 42.

7 Karl Ernst Laage: Theodor Storm in seiner ersten Rechtsanwaltspraxis. In: Laage 2017, S. 19-28; hier S. 19.

8 Briefe Mommsen, S. 41.

9 Der Kongress zu Verona. Ein Roman von Julius Mosen. Berlin 1842.

10 Ebenda, S. 205.

11 Briefe Mommsen, S. 45.

12 Zitiert nach Briefe Mommsen, S. 45.

13 Briefe Mommsen, S. 46.

14 Briefe Mommsen, S. 50.

15 Briefe Mommsen, S. 59.

16 Briefe Mommsen, S. 62f.

17 Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief vom 18.4.1844, Brautbriefe, S. 32.

18 Vergl. Eversberg 2006, S. 112f.

19 Gertrud Storm 1912, S. 162.

20 Storm an Mommsen. Brief vom 14. Mai 1843; Briefe Mommsen, S. 68.

21 Vergl. Nicolaisen 2007.

22 Kiel 1845.

23 Zählung nach Eversberg 2005.

24 Storm fragte in einem Brief an Karl Müllenhoff vom 1. März 1843: Sind nicht unter den Manuscripten, die ich Ihnen gesandt, Gespenstergeschichten, und wenn, wollen Sie mir die nicht mit nächster Fahrpost senden? Unveröffentlichter Brief, Humboldt-Universität Berlin.

25 Unveröffentlichter Brief, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; zitiert nach Nicolaisen 2007, S. 24.

26 Storm an Mommsen, Brief vom 2. November 1843. Briefe Mommsen, S. 90.

27 Therese Rowohl an Theodor Storm, Brief vom 15.09.1843; Umschlag: Sr Wohlgeboren/ dem Herrn Theodor Storm./ Husum/ frei StA, Husum. Zitiert nach Eversberg 1995a, S. 152.

28 Mit der Überschrift „Mit dem Liederbuche“ in Storms Handexemplar des LdF.

29 Reinschrift mit dem Untertitel für Tenor und Alt comp. v. F. Grädener in Storms Handexemplar des LdF.

30 Briefe Mommsen, S. 62. Die Komposition Grädeners ist weder im Storm-Nachlass der SHLB, Kiel noch im StA, Husum nachweisbar. Auch im International Music Score Library Project findet sich keine Spur.

31 Eduard Mörike: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 212.

32 Briefe Mommsen, S. 89. Die von Storm als seine Vettern bezeichneten Mitglieder der Familie Scherff waren die vier Söhne Karl, Franz, Ludwig (geb. 1837) und Hermann (geb. 1829).